Der ORF ist zum medialen Dauerthema geworden. Zu viel politischer Einfluss und Schlecht- bzw. Nichterfüllung des Kulturauftrags lauten die Vorwürfe. Aber was bedeutet es eigentlich genau, im „Auftrag der Öffentlichkeit“ zu handeln? Der deutsche Medienwissenschaftler MICHAEL HALLER erklärt im Gespräch mit Markus Deisenberger, was den öffentlichen Auftrag des ORF ausmacht, ob er ihn überhaupt noch erfüllt und welches gängige Wort uns in diesem Zusammenhang immer wieder in die Irre führt.
Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland, Großbritannien, aber auch in Österreich befinden sich seit Jahren in einem Spannungsfeld: Einerseits ist aufgrund der Entwicklung des Internets und der sozialen Netzwerke rasche Modernisierung nötig, um wettbewerbsfähig zu bleiben, andererseits gibt es einen klar formulierten öffentlichen Auftrag. Wie sehen Sie die Situation allgemein? Wie geht der deutsche, wie geht der österreichische öffentliche Rundfunk mit der Problemstellung um? Gibt es Unterschiede? Gibt es Parallelen?
Michael Haller: Da müssen wir auf die Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zurückblicken: In den 1920er-Jahren erkannte man die propagandistische Power des damals neuen Mediums. Die sollte gebannt werden. Die BBC, das Urmodell des öffentlichen Rundfunks, entstand, weil die Politikerinnen und Politiker gewährleisten wollten, dass die Menschen der demokratischen Gesellschaft vor dem Machtmissbrauch geschützt und aus einer eher neutralen, politisch unabhängigen Perspektive informiert werden. So hätten sie die Grundlagen, um sich eine politische Meinung zu bilden und als wählende Bürgerinnen und Bürger fundierte Entscheidungen zu treffen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, wie er als BBC in die Welt kam, sollte zudem ein Gegengewicht zur parteigebundenen Presse sein. In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg war die publizistische Welt stark parteipolitisch geprägt. Die großen meinungsführenden Zeitungen waren parteipolitisch ausgerichtet. So hängt die Gründung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch mit der Einsicht zusammen, dass sich Staatsbürger einigermaßen losgelöst von parteipolitischen Positionen ins Bild setzen können sollten. Damit ist schon eine wesentliche Bedingung genannt: „Öffentlich-rechtlich“ bedeutete, dass die Einrichtung von parteipolitischen und von wirtschaftlichen Interessen unbeeinflusst produzieren kann.
Auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz war mit der Gründung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks das Anliegen verbunden, partikulare Interessen auszuklammern. Darum wird der Rundfunk ja über Beiträge oder, wie in Frankreich, über Steuern finanziert. Die politische Unabhängigkeit wiederum sollte durch eine Trägerschaft gewährleistet werden, die vom politischen System möglichst losgelöst ist und Parteipropaganda verhindert. Damit sind auch schon die zwei großen Problemfelder angesprochen, die den Österreichischen Rundfunk prägen: Zum einen ist die Stiftungs-Trägerschaft keineswegs unabhängig von der Politik. Politikerinnen und Politiker haben vielmehr großen Einfluss auf den Stiftungsrat und können darauf einwirken, wer die Leitungsposition bekommt und wer nicht. Das zweite Problem ist der trotz Gebührenfinanzierung relativ hohe Anteil von Werbung an den Einnahmen. Der ORF hat also heute insoweit ein strukturelles Problem, als er ein sehr breites, ausdifferenziertes Angebot produziert, das er über die Gebühren allein nicht finanzieren kann.
Tatsächlich wurde ja im Laufe der letzten dreißig Jahre der Sendeteil, der mit Werbung gefüllt werden darf, immer weiter ausgedehnt. Wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, wird annähernd ein Drittel des Budgets über Werbeeinnahmen finanziert. Damit steht der ORF zusätzlich unter dem Einfluss der Werbewirtschaft.
Und heute kommt das Problem der digitalen Transformation dazu. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde ja in der analogen Zeit etabliert, in der es auch eine Kanalknappheit gab. Wer den Fernsehkanal bespielen durfte, besaß eine große mediale Macht. Wie in den 1920er-Jahren mit dem Hörfunk, so wünschte man sich in den 1950er-Jahren ein möglichst neutrales Fernsehangebot. Wer also sollte es kontrollieren? Nicht die Politik, nicht die Presseverleger, nicht die Wirtschaft, sondern die Bevölkerung selbst. So entstand in der Bundesrepublik Deutschland das Konstrukt „gesellschaftlich relevante Kräfte“. Ziemlich verdünnt gibt es das auch in Österreich. Die einzigen, die das gut hinbekommen haben, sind die Schweizer, indem sie ein Vereinswesen auf lokal-regionaler Ebene entwickelt haben. So ist die Trägerschaft in der Schweiz viel breiter abgestützt als in Deutschland und Österreich.
Schon in den 1980er-Jahren hat sich mit der Zulassung der privaten Programme – wir reden seither von der Dualisierung des Rundfunks – das Problem des Rundfunkmonopols im Grunde aufgelöst. Jetzt ging es nicht mehr darum, eine Binnenpluralität im Rundfunk sicherzustellen, sondern um die Frage, wie das Programmprofil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Medienwettbewerb aussieht. Leider hat man sich nicht dafür entschieden, den Programmauftrag zu schärfen und zu stärken, also die journalistische Informationsleistung und die Kulturvermittlung auszubauen. Nein, man hat sich in Österreich, nicht anders in der Schweiz, Frankreich und Deutschland für den Reichweitekampf entschieden. Mit der Einschaltquoten-Messung stieg der öffentlich-rechtliche Rundfunk in die Arena des kommerziellen Medienwettbewerbs.
Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Michael Haller: Das ist meiner Meinung nach eine Fehlentwicklung, weil es nicht zu den Aufgaben des öffentlichen Rundfunks gehört, eine möglichst hohe Einschaltquote zu erzielen. Zu seinem Programmauftrag gehört vielmehr, dafür zu sorgen, dass aus unabhängiger Sicht informiert wird und die kulturellen Prozesse in der Gesellschaft erfasst, gestaltet und gezeigt werden. Stattdessen haben wir heute aus Gründen des Medienwettbewerbs einen fatalen Trend hin zur Boulevard-Unterhaltung, mit der Reichweiten optimiert werden. Wenn Sie sich anschauen, was Abend für Abend in der Prime Time läuft! Da werden Sie zugeknallt mit Krimis. Und wenn ein Krimiabend mal unterbrochen wird, dann meist wegen einer Sportübertragung.
Aber diesem wirtschaftlichen Druck unterliegt der deutsche Rundfunk doch auch. Auf ARD und ZDF läuft auch Werbung.
Michael Haller: Ja, aber bis heute deutlich reduziert. Im deutschen öffentlich-rechtlichen Angebot darf nach 20 Uhr keine Werbung gesendet werden. In Österreich gibt es keine vergleichbare Sperre.
Nun hat der österreichische Rundfunk in Erfüllung seines Auftrages ein differenziertes Gesamtprogramm von Information, Kultur, Unterhaltung zu senden. Die aktuelle TV-Programmstruktur (ORF 1, ORF 2, ORF III, ORF Sport+) sieht allerdings so aus, dass 19 % Information, 19 % Kultur, 31 % Unterhaltung und 31 % Sport gesendet werden. (Quelle: „Public-Value-Bericht“ 2021/2022, S. 41). Würden Sie sagen, diese Gewichtung entspricht dem geforderten differenzierten Gesamtprogramm oder ist die Sache bereits aus dem Ruder gelaufen?
Michael Haller: Aus meiner Sicht ist sie mit 62 % des Angebots aus dem Ruder gelaufen, wobei es bei diesen Programmstrukturen auch eine Frage der Definition ist. Ich habe bei den knapp 20 % „Information“ beim ORF gewisse Zweifel. Welche Formate werden wohl zu „Information“ gezählt? Man kann auch trashige Talkshow-Formate unter „Information“ buchen, sofern eine Frage aufgeworfen wird, die einen Bezug zum aktuellen Geschehen oder zur Politik hat. Ich vermute darum, dass die Angebote, die vom Publikum als Unterhaltung empfunden und rezipiert werden, beim ORF mehr als nur 30 % ausmachen. Würde man mit strengeren Kategorien die Struktur beschreiben, dann wären aus meiner Sicht deutlich mehr als zwei Drittel des Programmangebots der Unterhaltung inklusive Sport zuzurechnen. Und das kann aus meiner Sicht nicht mehr mit dem Programmauftrag gerechtfertigt werden. Wenn ich es polemisch sagen darf: Die Fernsehanstalten bieten Eskapismus zur Ruhigstellung der Bevölkerung. Die Leute sollen abends vor ihren Kisten sitzen und ruhig ihr Bierchen oder ihre Weißweinschorle trinken. Doch dies kann nicht der Sinn der öffentlich-rechtlichen Einrichtung sein.
„Gerade der öffentlich-rechtliche Rundfunk legitimiert sich nicht dadurch, dass er produziert, was mehrheitsfähig ist. Zu seinem Programmauftrag gehört vor allem Kultur.“
Lassen Sie mich noch einmal zum „Public-Value-Bericht“ des ORF von 2021/2022 zurückkommen: Den Gesellschaftswert bzw. kulturellen Wert seiner Programme misst der ORF in Zugriffen und sogenannten „Page Impressions“. Ist das aus Ihrer Sicht überhaupt eine taugliche Art und Weise, gesellschaftlichen Erfolg zu messen bzw. lässt sich der gesellschaftliche, kulturelle Wert eines Programms überhaupt messen bzw. darstellen wie hier versucht?
Michael Haller: Das ist eine Debatte, die auch in Deutschland heftig geführt wird: Kann der Rundfunkbeitrag, den in Deutschland jeder Haushalt – in Österreich sind es die Rundfunkgebühren – bezahlen muss, noch gerechtfertigt sein, wenn man Minderheitenprogramm macht? Meine Antwort wäre: Ja, selbstverständlich. Gerade der öffentlich-rechtliche Rundfunk legitimiert sich nicht dadurch, dass er produziert, was mehrheitsfähig ist. Zu seinem Programmauftrag gehört vor allem Kultur. Und dieser gehört ja auch der Rundfunk, er selbst ist eine kulturfördernde, eine „kulturierende“ Einrichtung. Was er selbst produziert, sollte Teil der Kultur sein. Es geht also nicht nur um das Aufführen von Bühnenkultur und das Vermitteln von Veranstaltungskultur draußen im Lande. Dieses Spannungsfeld zwischen dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und dem Medium als kultureller Einrichtung, das selbst Kultur erzeugt, ist das eigentlich Faszinierende. Und das hat nichts mit Reichweiten und Einschaltquoten zu tun.
Der öffentlich-rechtliche Kernauftrag des ORF umfasst gemäß § 4 ORF-G Z.5 dezidiert auch die „Vermittlung und Förderung von Kunst, Kultur und Wissenschaft und (Z.6) auch die angemessene Berücksichtigung und Förderung der österreichischen künstlerischen und kreativen Produktion.“ Nach Abs 4 haben sich insbesondere Sendungen über Kultur „durch hohe Qualität auszuzeichnen“ und „auf die kulturelle Eigenart Österreichs Bedacht zu nehmen“. Was ergibt sich aus Ihrer Sicht genau aus der gesetzlichen Regelung? Dass die heimische Szene entsprechend abgebildet werden muss?
Michael Haller: Vergessen wir dieses schwierige Wort „Abbilden“. Kultur kann man nicht abbilden. Die Redaktion eines Mediums, die sich um Kultur kümmert, muss gestaltend, wertend und bewertend verschiedenste Produktionen verfolgen. Sie muss aus kompetenten Journalistinnen und Journalisten bestehen, die einen Gestaltungsauftrag wahrnehmen und durchschauen, was im Sinne der kulturellen Selbstverständigung in dieser Gesellschaft bedeutsam ist. Das Argument, abbilden zu müssen, ist viel heikler, als es sich die Rundfunkvertreter und die Politiker eingestehen. Es ist eine Formel, die in die Irre führt, weil sie ein proportionales Spiegeln suggeriert, das es gar nicht gibt.
Nun will man Ö1 einem rigiden Sparprogramm unterwerfen. 700.000 Euro sollen eingespart werden. Meine Frage: Kann man dezidiert beim kulturauftragsstärksten Sender einsparen oder muss man Einsparungsmaßnahmen immer rechtfertigen, indem sie gerecht über alle Sparten hinweg passieren? Wie transparent und ausdifferenziert soll bzw. muss der ORF da werden?
Michael Haller: Das ist für einen Außenstehenden nicht leicht zu beantworten. Auf struktureller Ebene und programmpolitisch würde ich Entscheidungen gut und richtig finden, die lauten: Wir brauchen eine starke, landesweit verbreitete Stimme, die das Kulturelle produziert und zeigt. Das wäre nach meinem Verständnis Ö1. Ich kann daher nicht nachvollziehen, wieso Ö1 heruntergedimmt bzw. einem Sparprogramm unterworfen werden soll. Ich würde umgekehrt denken, dass Ö1 als der werbefreie Kultursender des ORF gestärkt und nicht geschwächt werden sollte.
Zurück zum TV-Programm: Früher einmal fand (mangels anderer Optionen) der Kulturauftrag im reichweitenstärksten TV-Sender statt. Seit der Gründung von ORF III läuft Kultur hauptsächlich dort. Geht das überhaupt oder liegt darin schon eine Aushöhlung des öffentlichen Auftrags?
Michael Haller: Gerade im internationalen Vergleich würde ich davor warnen, zu stark in die zielgruppenorientierte Segmentierung zu gehen. Spartenfernsehen ist nur begrenzt mit dem Programmauftrag, also mit einer gebührenfinanzierten Medienproduktion vereinbar. Damit kommen wir zum Thema Transformationsprozess. Die Digitalisierung und Internetisierung der Gesellschaft hat zwangsläufig dazu geführt, dass immer kleinere Zielgruppen ihre Bedürfnisse und Präferenzen befriedigen können. Es gibt eine unüberschaubare Zahl an werbefinanzierten Internetradios und -blogs. Und auch in Bezug auf Nachrichten kann jede und jeder finden, was ihren bzw. seinen Interessen und Vorurteilen entspricht. Eingedenk dieser Tatsache rechtfertigt sich der öffentliche Rundfunk nur, wenn er eine übergeordnete Perspektive einnimmt, wenn er Qualitätsstandards hochhält und integrativ statt segmentierend funktioniert. Wenn er also verschiedenen Gruppen und Milieus durchgängig interessante, wichtige und bemerkenswerte Themen, Vorgänge und Inhalte zeigt. Nur so kann sich aus meiner Sicht ein gebührenfinanziertes Medienangebot rechtfertigen.
Im „Public-Value-Bericht“ heißt es, der ORF habe mit der Ausstrahlung von Opern und Konzerten unter dem Titel „Wir spielen Österreich“ auf ORF III in insgesamt 40 Sendungen 1,4 Millionen Menschen erreicht. (Quelle: „Public Digital Value“, S. 66). Zum Vergleich sahen die Serie „Die Totenfrau“ an einem Montag 1,74 Millionen Zuseherinnen und Zuseher, das heißt, mit einer Sendung lassen sich auf ORF I potenziell mehr Seher erreichen als mit 40 Sendungen im Spartenkanal. Leitet sich daraus nicht eine Verpflichtung ab, Oper auf ORF 1 zu senden?
Michael Haller: Das wäre solch eine integrativ angelegte Strategie, ja. Die von Ihnen genannten Zahlen sind ein gutes Beispiel dafür, dass derzeit das Programmangebot im Blick auf den Reichweitenwettbewerb getrimmt wird: dass man in der Primetime unaufhörlich Krimis bringt, weil man damit Marktanteile generieren kann. Ein kulturell wertvolles Angebot würde indessen auch zu ORF 1 gehören.
„Die Verpflichtung ergibt sich nicht aus der Reichweite, sondern aus dem Programmauftrag.“
Das ORF-Network, wie die Web-Seiten des ORF von der österreichischen Web-Analyse genannt werden – hat mit Abstand die größte Reichweite in Österreich. Ergibt sich aus diesem Umstand – in Zusammenhang mit dem öffentlich-rechtlichen Auftrag – eine besondere Verpflichtung?
Michael Haller: Die Verpflichtung ergibt sich nicht aus der Reichweite, sondern aus dem Programmauftrag.
Sie haben bereits angesprochen, dass der ORF neben anderen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zu einer Zeit entstand, als es noch kein YouTube und auch keine sozialen Medien gab. Ist das Ansinnen, übergreifend das politische und kulturelle Geschehen abzubilden, überhaupt noch zeitgemäß? Kann das nach aktueller Lage medial überhaupt funktionieren? Muss man das ORF-Gesetz der heutigen Zeit anpassen?
Michael Haller: Was dem heutigen Zeitgeist entspricht, weiß niemand. Das Gesetz dient dem Zweck, für relevant und perspektivisch gehaltene Vorstellungen in Rechtsform zu gießen. Heute geht es mehr darum, das öffentlich-rechtliche Konzept in die digitalisierte Online-Welt zu transformieren. Die Frage lautet: Welche Organisationsformen können verhindern, dass die mediale Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Diskursraum durch fortschreitende Segmentierung weiter zerfällt, quasi zerstört wird? Wir reden hier über die Schwierigkeit, in dieser Gesellschaft überhaupt noch integrativ wirkende Diskurse und Meinungsbildungsprozesse in Gang zu halten. Hier in Österreich ist es noch nicht so dramatisch wie in den USA, aber auch hier sind polarisierende Tendenzen deutlich, die es immer schwerer machen, den gehaltvollen, Gemeinwohl fördernden Diskursraum offen zu halten. Darum sollte die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der digitalisierten Onlinewelt neu durchdacht und eingerichtet werden. Dies könnte funktionieren, wenn die Trägerschaft in der Gesellschaft sehr breit abgestützt würde und die Finanzierung nicht als Disziplinierungsknüppel missbraucht werden kann, wie wir dies derzeit bei der BBC in Großbritannien beobachten.
Laut ORF-Leitbild sind Kunst und Kultur zentrale Werte für den ORF. „Seine Programme und Aktivitäten stimulieren, fördern und vermitteln die kulturelle Vielfalt in der Gesellschaft. Der Kulturauftrag des ORF gilt der gesamten Bevölkerung und erstreckt sich auf alle Lebensbereiche der Menschen im regionalen, nationalen und globalen Kontext“, heißt es da. Was lässt sich daraus in puncto Diversität ableiten? Auch in Hinblick auf eine gesamteuropäische Entwicklung: Wie konkret kann dieser Auftrag überhaupt sein?
Michael Haller: Die Frage nach den europäischen Prozessen ist eine ebenso schwierige wie wichtige. Ein Blick auf die Internetwelt zeigt, dass die breite Palette der Kommunikationsdienste von vier US-amerikanischen Konzernen besessen wird, die nur daran interessiert sind, möglichst viel Profit zu machen. Sie haben, mit anderen Worten, die Orientierungs- und Kommunikationswünsche der Menschen in ein kommerzielles Geschäftsmodell umfunktioniert. Die Plattform-Betreiber, insbesondere Meta als Eigentümer von Facebook, WhatsApp und Instagram, sind daran interessiert, dass es kracht und knallt, dass sich die Leute anmachen und beschimpfen, damit die Click-Rates nach oben gehen und die Werbebotschaften mehr Geld einspielen.
Die Europäische Union ist aufgerufen – und immer mehr Leute verstehen das zum Glück auch so – für ihre Mitgliederstaaten einen persönlichkeitsrechtlich wie strafrechtlich geregelten Raum zu schaffen. Man möchte sich wünschen, dass in diesem Internetraum nur noch Plattformen zugelassen würden, die in der EU domiziliert sind und sich zur Einhaltung fairer Kommunikationsregeln verpflichten. Und weiter, dass die EU-Staaten für ihre internet-basierten Verbreitungsgebiete Informationsversorgungsaufträge ausschreiben. Jede und jeder kann sich bewerben, die bzw. der journalistisch-redaktionelle Professionalität nachweisen kann. Die bzw. der beste Bewerber:in bekommt eine Lizenz und die erforderlichen Mittel, die aus Gebühren, Beiträgen oder Steuergeldern stammen, um den Informationsauftrag zu erfüllen. Dasselbe kann man sich für den Kulturauftrag vorstellen, der transnational ausgerichtet würde. Es gibt ja schon eine Reihe von Modellen, die in diese Richtung weisen. Denken wir an ARTE. Hier haben wir eine supranationale Kooperationsgemeinschaft mit einer seit der Gründung wachsenden Zuschauerschaft, vielleicht, weil ARTE interessante, wichtige und professionell gemachte kulturelle Beiträge bringt. Solche Modelle weisen den Weg in die richtige Richtung.
Vielen Dank für das Gespräch!
Markus Deisenberger
Michael Haller (* 16. April 1945 in Konstanz) ist Medienwissenschaftler. Bis 2010 war er Professor für Journalistik am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Zuvor hat er als Redakteur und leitender Redakteur bei Printmedien gearbeitet, darunter bei der Basler Zeitung, beim Spiegel, der Weltwoche und der Zeit. Seit 2010 ist er als Leiter verschiedener Forschungseinrichtungen tätig.