Zum Tod von Heinrich Gattermeyer

Für wenige Wochen war er (nach dem Ableben Georg Arányi-Aschners im Mai) der Nestor der österreichischen Komponisten: Am 5. Juli ist Heinrich Gattermeyer nach langer Krankheit wenige Tage vor seinem 95. Geburtstag in Wien gestorben.

Handschlagqualität als Markenzeichen

Er war ohne Zweifel ein Original, dieser Heinrich Gattermeyer. So fröhlich und eine Stimmungskanone er in geselliger Runde war, so zornig und streitbar konnte er sein, wenn es ihm vom Anlass her geboten schien – dabei nicht immer ausschließlich objektiven Kriterien folgend. Was ihn freilich vor vielen anderen auszeichnete war, dass er nach einem Streit auch immer wieder dem Vis-à-vis die Hand reichen und … lachen konnte. Nicht nur, aber auch das lässt immer wieder an die bäuerliche Umgebung seiner Herkunft denken, wo ein solch bodenständiger Umgang miteinander ganz selbstverständlich ist und die Leute in der Sache wohl um einiges besser voranbringt als so manches Ränkespiele und Rankünen, wie sie auch in der österreichischen Musikszene vorkommen können.

Dichtersohn in stürmischen Zeiten

Am 9. Juli 1923 wurde Heinrich Gattermeyer als Sohn des oberösterreichischen Mundart-Dichters, Theologen und Wirtes Karl Gattermeyer und von dessen Frau Katharina im oberösterreichischen Sierning bei Steyr geboren. Nach der Matura am Linzer Akademischen Gymnasium konnte er 1941 zwar noch ein Studium an der damaligen Reichshochschule für Musik in Wien beginnen, doch kam auch für ihn die Einberufung zum Kriegsdienst, den er teils als Funker in Königsberg sowie in Italien zu absolvieren hatte und über den er in vielen Gesprächen kaum etwas verlauten ließ. Erst 1945–50 war ihm somit die reguläre Ausbildung an der Wiener Musikakademie möglich. Neben den dortigen Fächern (Klavier bei Bruno Seidlhofer, Dirigieren bei Ferdinand Grossmann, Komposition bei Alfred Uhl) studierte er Germanistik an der Universität Wien. 1946–69 unterrichtete er Musik und Deutsch an verschiedenen Wiener Gymnasien, parallel dazu galt seine große Leidenschaft der Chorleitung. 1964 wurde Gattermeyer als Lehrbeauftragter für Tonsatz, Instrumentenkunde und Dirigieren an die Wiener Musikakademie berufen, 1977–1991 war er ordentlicher Professor für Tonsatz und Komposition an der nunmehrigen Hochschule für Musik und darstellende Kunst, zeitweilig auch Leiter der damaligen Abteilung I (Komposition, Musiktheorie und Dirigentenausbildung).

Funktionär mit Engagement und Ellbogen

Wer Gattermeyer kannte, wird ihn für einen geborenen „Funktionär“ halten, dem es auch keineswegs an den dafür hilfreichen Ellbogen mangelte, deren Einsatzes man gelegentlich Zeuge werden konnte. Er wirkte immer wieder führend in verschiedenen Gremien und Verbänden, so etwa 1973–84 als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für zeitgenössische Musik (ÖGZM), 1984–90 als Präsident der AKM und 1992–2001 als Präsident des Österreichischen Komponistenbundes (ÖKB), wobei er sich überall mit überdurchschnittlichem Engagement für die Interessen der zeitgenössischen Musik einsetzte und – wohl ebenfalls aus der Kraft seines Naturells heraus – auch nie müde wurde, den Kampf gegen die Windmühlen der Ignoranz zu führen; nicht immer, aber oft war er dabei erfolgreich, denkt man z.B. an die Etablierung des „Hauses der Komponisten“, das unter seiner Mitwirkung in vereintem Auftreten der Verbände als gemeinsame Heimstatt von IGNM, INÖK, ÖGZM und ÖKB in Räumlichkeiten der AKM angesiedelt werden konnte.

Von Katholiken und Kommunisten geehrt

Viele der Auszeichnungen, die Gattermeyer erhielt, bezogen sich auch auf sein brückenschlagendes Wirken, noch mehr aber auf seine eigene künstlerische und hierbei vor allem die schöpferische Arbeit. Genannt seien aus der langen Liste das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (1964), das Komturkreuz des Ritters zum Heiligen Silvester des Vatikan (1972), die Smetana-Medaille der ČSSR (1975), der Kulturpreis des Landes Oberösterreich für Musik (1980), der Preis der Stadt Wien und das Große Ehrenzeichen der Republik Österreich (1982), das Ehrenzeichen Bulgariens (1981), der Große Tiroler Adler-Orden (1983), die Ehrenmedaille der Stadt Wien in Gold (1988), das Große Silberne Ehrenzeichen der Republik Österreich (1992), der Würdigungspreis des Landes Niederösterreich (1993) sowie der oberösterreichische Heinrich-Gleißner-Preis (2006).

Kompositorisches Primat: Verständlichkeit

Als Komponist beschritt Heinrich Gattermeyer keine revolutionären Wege. Die Grenzen der Tonalität schienen ihm fast immer ausreichend seinen musikalischen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen. Von seinem Publikum unmittelbar verstanden zu werden, hatte für ihn stets das Primat vor dem Ausprobieren neuester Trends und Techniken. Selbst die Zwölftontechnik blieb für ihn ein auf wenige, über Jahrzehnte verstreute Werke beschränkter Ansatz, sich spielerisch mit einer Konstruktionsweise auseinanderzusetzen, wie etwa in dem Klavierzyklus „Ludus multiplex“ (1961) und im orchestralen „Bruckner-Epitaph“ (1996), in dem er die Reihentöne in Brucknerschen Harmonien aussetzte. Ein unübersehbarer Schwerpunkt seines Schaffens war die Chormusik, die aus der praktischen Arbeit als Chorleiter entstand: unzählige weltliche und geistliche Chorsätze, a cappella und mit instrumentaler Begleitung, Messen und Oratorien, deren letztes – „Das jüngste Gericht“ – anlässlich seines 90. Geburtstages am 1. Mai 2013 im Großen Wiener Musikvereinssaal uraufgeführt wurde und deren gewichtigstes – „Der Turmbau zu Babel“ (1960) – durchaus gelegentlich einer Neubewertung in Form einer aktuellen Aufführung oder Einspielung unterzogen werden sollte. Zentral im Werkverzeichnis auch die Arbeit für Film und Fernsehen: Über 40 zumeist Märchen-Vertonungen entstanden zwischen 1957 und 1972 und zeigen ein durch die medialen Veränderungen zeitlich abgegrenztes, für einen Komponisten damals aufgrund der Vielfalt an Möglichkeiten wunderbares Spielfeld.

Opus magnum: die „Kirbisch“-Oper

Ob Heinrich Gattermeyer unter den Komponisten der Gegenwart ein „Großer“ war, sei an dieser Stelle nicht beurteilt. Orchesterwerke, die vielleicht da oder dort wieder einmal auf die Pulte gelangen könnten? – die „Symphonischen Antithesen“ für Streichorchester (1975), die „Symphonischen Tanzstücke“ (1980) und die „Kirbisch“-Suite (1988) müssten sich eines Blicks in die Partitur würdig erweisen. Überhaupt „Kirbisch“: als einzige abendfüllende Oper des Komponisten vielleicht sein Opus magnum. Die Uraufführung am 14. Mai 1987 am Linzer Landestheater wurde – goldene Zeiten! – noch zur Hauptsendezeit im Fernsehprogramm des ORF übertragen und wirkte in der gelungenen Umsetzung des epischen Gedichts von Anton Wildgans so authentisch, dass man fast versucht wäre, von der „oberösterreichischen Oper“ schlechthin zu sprechen (ungeachtet der Tatsache, dass das Werk nicht auf eine spezifische Region bezogen ist). So wie die angedachte Produktion an der Wiener Volksoper scheiterte, ist realistischer Weise nicht wirklich mit einer Neuinszenierung zu rechnen. Dankbar wäre das Stück für ein Haus mittlerer Größe mit einem geeigneten Sänger-Schauspieler-Team allemal.

Was also bleibt? – Der Chronist ist kein Prophet, und doch haben sich über Jahre gerade die kleinen Besetzungen, die in vielfältigen instrumentalen Kombinationen vorliegende Kammermusik und einige der Solostücke aufgrund ihrer inspirierten Einfälle und ihrer dem Interpreten auf den Leib geschriebenen Setzweise behaupten können. Es soll nichts Schlechteres passieren, als dass man die populären „Besenbinder“-Variationen für Violine solo hört – und im Anschluss die Frage stellt, was denn dieser Komponist „sonst noch“ geschrieben habe…

Einmal ist der Abschied endgültig

Oft hat Heinrich Gattermeyer sich selbst für „demnächst tot“ erklärt – insbesondere als probates Druckmittel gegenüber hinsichtlich der Fixierung eines Aufführungstermins zögernden Veranstaltern. Ich selbst sah ich mich 2009 in einem Gespräch von seiner Seite her sehr dezidiert mit seinem „letzten Lebensjahr“ konfrontiert – um wenige Wochen später vom aktuellsten Auftrag samt der erwähnten (und erlebten) Uraufführung im Musikverein im Jahr 2013 zu hören. Fast ein Jahrhundert lang begleitete Heinrich Gattermeyer das Geschehen auf diesem Erdball, hat dabei viele Tiefen und Höhen erlebt. Es beinhaltet eine gewisse Befriedigung, dass er auch in seiner späten Lebensphase die Früchte seiner Arbeit reichlich ernten konnte. Und es rang dem Betrachter ein gewisses Erstaunen und Anerkennung ab, wenn der Komponist in all seiner patriarchalischen Würde keine Spur von Müdigkeit erkennen ließ und auch bis ins zehnte Lebensjahrzehnt oft spontan einen munteren „Siebziger“ vermuten ließ. Viel mehr über den Komponisten und Menschen lässt sich in der erst vor fünf Jahren und somit fast völlig aktuellen von Georgina Szeless vorgelegten Monographie Heinrich Gattermeyer (Trauner Verlag) nachlesen. In sehr persönlicher Form, vielfach anhand persönlicher Gespräche und mit zahlreichen Stellungnahmen von Weggefährten wird darin sein Lebensweg nachgezeichnet. Nur das abschließende Datum bliebe darin nun nachzutragen.

Christian Heindl

Links:
Heinrich Gattermeyer (music austria Datenbank)
Georgina Szeless: Heinrich Gattermeyer (Trauner Verlag)