Wien Modern – das ist heuer auch sehr viel Wolfgang Mitterer – mit Ur- und Erstaufführungen, nicht zu vergessen auch mit der „Baron Münchhausen“- Comic-Opera im Rabenhof in Erdberg, die noch bis zum 24. November dort zu sehen sein wird. Sehr empfehlenswert! Der Komponist ist aber auch selber ein exzellenter Musiker an Orgel und Keyboard, versiert in der durch Elektronik verstärkten und unterstützten Improvisation. Klar, dass er beim Festival an der Orgel des Großen Konzerhauts-Saals ein eigenes Konzert gestalten „musste“. Titel: „free radio“.
Allroundmusiker Mitterer ist nicht nur Komponist, sondern in vielen Fällen auch als Interpret direkt an den Aufführungen seiner Musik beteiligt; vor allem aber beherrscht er die im Bereich der komponierten Musik beinahe ausgestorbene Kunst der Improvisation. Was für Bach, Mozart und Beethoven noch selbstverständlich war, nämlich ihre eigene Musik aufzuführen und zudem nicht nur über ein vorgegebenes Thema, sondern auch innerhalb ihrer notierten Werke zumindest stellenweise frei zu „fantasieren“, das ist heute in den klassischen Konzertsälen kaum noch zu hören. Komponisten komponieren und lassen in aller Regel die Finger von den Instrumenten; die sind hoch spezialisierten Interpreten vorbehalten. „Dieses Musikermodell ist sicher selten geworden, von mir aus kann man es auch altmodisch nennen”, sagte Mitterer einmal vor Jahren in einem Interview. „Nur ist das nicht mein Problem, sondern das der anderen Komponisten. Wenn die keine Lust haben, auf die Bühne zu gehen, verzichten sie ja auf das Beste: selber Musik zu machen! Aber wenn man alte Aufnahmen sieht, wie Bartók Klavier gespielt hat, dann versteht man, warum der so dynamisch komponieren konnte.”
Die Kunst der Improvisation verdankt Mitterer der Orgel: “Die Improvisation ist viel zu nah an der Flüchtigkeit, um dabei von einem ,Werk’ zu sprechen. Es sei denn, man brennt das auf CD. Dann wird es zumindest vor der AKM (der österreichischen Musik-Verwertungsgesellschaft, Anm.) zu einem Werk – und als solches verrechnet.” Bei der Orgel allein hat sich Mitterer nicht aufgehalten (wiewohl wir ihm tolle Kompositionen für nur dieses Instrument verdanken). Viele erinnern sich noch an seine heute schon legendär gewordene Orgel-Improvisation zu Murnaus Film „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“, das war damals „schädeldeckenhebend“. „Der Klaus Kinski der Orgel. Diabolus in musica. Mitterer hören und sterben!”, schwärmte der Standard nach diesem Konzert im Rahmen von Wien Modern 2001. „Naja, das wird wohl heißen, dass die Energie rübergekommen ist”, meinte Mitterer grinsend zum teuflischen Vergleich im bereits zitierten Falter-Interview mit Carsten Fastner (vor der Uraufführung seiner Oper „Massacre“).
Nun also war es wieder so weit. Die Konzerthausorgel kann nunmehr vom Spieltisch auf dem Podium aus bespielt werden. Im ganzen Saal sind Boxen, bei Echowirkungen kann es sein, dass man die Orgelklänge von hinten zu hören vermeint. Hier der Versuch eines Protokoll des 70-minütigen Konzerts, auf Basis gemachter Notizen eines Nicht-Organisten und ungefähren Angaben des Zeitpunktes der Geschehnisse:
Bis Minute 10: Mitterer bedient nicht nur die Orgel, sondern auch zusätzlich ein seitlich aufgestelltes Keyboard. Und als ob all dies noch zuwenig Klang produzieren würde, steuerte ein Laptop noch zusätzliche auditive Sensationen bei. Die Orgel braust in allen Röhren volles Rohr. Mitterer bedient mit der rechten Hand die fünf Manuale und die Register, auch weiter oben liegende Pedale mit einer freien Hand, die bestimmte Registrierungen, Schweller, Nachhall- und Echowirkungen auslösen. Mit der Linken sein Elektronik-Keyboard. Wie das alles zusammenhängt und funktioniert, weiß nur jemand vom Fach. Man könnte am besten Wolfgang Mitterer selbst einmal fragen. Der sagte tags darauf, noch dazu vor der Uraufführung von „Baron Münchhausen“ kurz befragt: „Das verstehen und wissen auch Kenner des Orgelspiels nicht alle, selbst wenn sie mir dabei zuschauen.“ Alles weitere unten. Und: Die Dispositionsmöglichkeiten der fünf Manuale und des „Pedals“ (von Prinzipal 16’ bis etwa zum Bassethorn 8’ und Superoktavkoppel) der 1913 von der Firma Rieger (Jägerndorf, Schlesien) errichteten Konzerthausorgel – ein „Röhrenradio“, wie Mitterer sie nennt – umfassen drei Seiten des Programmhefts. Die Manuale IV und V haben auch Namen: Solowerk, Fernwerk. Und es gibt auch „Spielhilfen“: Kombinationen von 5 Banken mal 1000-5000 Generalsetzer; Absteller: Koppeln, Zungen, Einzelzungenabsteller; ein Tutti-Druckknopf, Schweller, Tritte und Registercrescendo (Walze für den Organisten, gekoppelt mit zweiter Walze für den Registranten). Eigentlich ganz einfach. Man muss nur mehr darauf spielen. Und, wie gesagt: Mitterer verwendete linkshändig das Elektronik-Keyboard.
Seit den achtziger Jahren beschäftigt er sich ja auch mit Elektronik. „Heute kann man unglaublich viele verschiedene bunte Sachen mit dem Computer machen, vor allem, wenn man die Samplingtechnik miteinbezieht und reale Sounds als Ausgangspunkt der Verfremdung nimmt” (Mitterer). Eben diese Samplingtechnik, das digitale Speichern und Bearbeiten vorgefundener Klänge und Geräusche, ist Mitterers Spezialität.
Minute 11: Dann wird es auf einmal stiller. Mystisch, auch kirchlich. Der Orgelklang kommt auch aus den hinten im Saal postierten Lautsprecherboxen, dorthin kann dieser offenbar übertragen werden. Der Kosmonaut an der Orgelbank sitzt in einem Raumschiff, das er mit Händen (manchmal auch einem ganzen Unterarm) und Füssen (Basspedale) lenken muss. Bei der Fahrt durch Galaxien gibt es manchmal auch Zwischentöne, Übergänge. Kosmische Winde, Brisen, Tsunamis. Da denkt man, der Kapitän segelt mit einer „Titanic“ gegen Brecher. Dann ein Abtauchen in Tiefen (Minute 30).
Minute 45: Auftauchen. Etwas Neues, Anderes? – Andere Galaxien, andere Sonnenwinde und Interventionen. Minute 50: Zum Stehen, nicht zum Stillstand kommen. Ein tiefes Pochen, ein Choral im Bassregister. Dann: Neue Tore. Schnelles, metallisches Bobfahen auf Kufen. Mit der ganzen Orgel und mit Elektronik. 1 h 10 Minuten: Nachklänge, auch im Raum, Transpositionen auf die Lautsprecher. Ende der Performance. Mitterer hört auf. Er scheint das untrügliche und richtige Gefühl zu haben, dass es genug ist. Genötigt gibt er noch eine Zugabe: Aufruhr, blitzschnelle Läufe auf allen Manualen. Dann ist Schluss. „Die Konzerthaus-Orgel traf auf elektronische Sounds, gegen die sich der Klang des 116-stimmigen Riesen-Instruments geradezu sanft ausnimmt. Virtuos konfrontiert der Komponist und Performer in Personalunion Sakral-Aura mit Noise-Ästhetik, energiegeladene Improvisation mit gesampleten Comic- und Porno-Sound“ schrieb eine Kritikerin der „Wiener Zeitung“ und nannte Mitterers Stück „monumental“.
So wie „Nosferatu“ war es vielleicht nicht. Aber schon sehr toll. Was war das denn? Im Programmheft bzw. im Katalog kann man ein Interview mit ihm lesen. Da wurde er danach gefragt, ob „free radio“ denn komponiert oder improvisiert sein würde. Mitterer: „Halbkomponiert. Ich komme mit einem vorbereiteten elektronischen Setup, der Rest entsteht im Moment. Selbst die große Orgel im Konzerthaus kann sich klein anhören, wenn davor Lautsprecher stehen. Ich will es zwar nicht ganz so wild wie bei ‚Nosferatu’ anlegen, aber es sollte schon ein bisschen etwas hergeben. Das erwarten sich auch die Leute. Bei diesem Konzert besteht der Luxus darin, dass ich solo viele Dinge verbinden kann. Ich kann beim vorliegenden Setup aus dem Vollen schöpfen. Für die Orgel erstelle ich mir circa 25 Grundsetups, mit denen ich starte, und dann kann ich je nach Bedarf registrieren. Ich werde auch im Studio vordesignete Orgelsamples im Gepäck haben, die ich mit der Orgel doppeln kann. Die Magie entsteht meistens dann, wenn man nicht mehr genau sagen kann, ob Orgel oder Elektronik zu hören sind. Am besten ist es, die Augen zu schließen und ganz Ohr zu werden.“ Jedenfalls: Es war die Uraufführung einer neuen Komposition.
Heinz Rögl
Wolfgang Mitterer © Julia Stix