Mit CIVIC OPERA CREATIONS (COCREATIONS) entwickeln die beiden Produzentinnen CARMEN C. KRUSE und LEONORA SCHEIB neue Opernwerke und Stücke für Musiktheater über einen langen Zeitraum. Dieser ist von wiederkehrenden Austauschformaten und dem ehrlichen Interesse am Gegenüber geprägt. Die beiden Absolventinnen der „Beth Morrison Projects Producer Academy“ haben mehrere Eisen im Feuer: Zuletzt gaben sie im März mit „Creations*3“ in der SARGFABRIK Einblick in drei aktuelle Opern- bzw. Musiktheaterstücke, die sie mit namhaften Partnern produzieren. Mit „Civic Newsroom“ (KULTURHAUS BROTFABRIK, CAPE 10, KUNST HAUS WIEN, 21. und 22. Mai 2022) verkürzen sie die Produktionsphase auf drei Tage und erproben mit Opern-Teams, welche Kräfte dadurch freigesetzt werden. Bei „VR-BANIA“ steht wiederum die Suche nach einer gemeinsamen kulinarischen Identität im Zentrum. Den Abschluss des Stückes, in dem neue Technologien eingesetzt werden, wird ein gemeinschaftliches Essen an einer langen Tafel bilden. Mit Ruth Ranacher sprachen CARMEN KRUSE und LEONORA SCHEIB über Inspirationsquellen, vielschichtige Arbeitsprozesse und Offenheit als Geschenk.
In Civic Opera Creations steckt das Wort „civic“. Das deutet darauf hin, dass ihr Themen auswählt, die sich durch den gesamten Bevölkerungsquerschnitt ziehen. Wofür steht „civic“ denn genau?
Carmen C. Kruse: Civic Opera Creations kommt ursprünglich von „Civic Impact“. Wir nutzen die Mittel der Oper, um Brücken zwischen unterschiedlichen Blickwinkeln und Standpunkten zu schlagen, die innerhalb der Kunstform Oper bisher wenig Raum gefunden haben. Der Austausch mit verschiedenen Gemeinschaften ist für unsere Arbeit ganz zentral – er zieht sich durch den gesamten Prozess, von der Erarbeitung eines Themas bis hin zur Aufführung, denn auch dort findet ein Ort des Austausches von Erfahrungen statt.
„Das Persönliche trifft hier auf das Soziale.“
Also Oper als ein Ort der Begegnung?
Leonora Scheib: Wir begreifen Oper auch als Möglichkeit des wiederholten Aufeinandertreffens und der gegenseitigen Inspiration. Es geht uns darum, dass die Stücke nicht im stillen Kämmerlein entstehen, sondern von gelebten individuellen Erfahrungen beeinflusst werden. Wenn sich Menschen innerhalb des Entwicklungsprozesses eines Stückes wiederholt mit uns austauschen, entsteht auch eine ganz andere, intensive Beziehung zu den Werken selbst. Das Thema eines jeden Stückes beeinflusst, mit wem wir in Austausch treten. „Now that we are Persons“ von Caitlin Smith, das wir im März bei „Creations*3“ präsentiert haben, vereint Menschen, die sich als Amateurinnen und Amateure mit bildender Kunst beschäftigen. Bei Manuel Zwergers „Great Open Eyes“ bildet die persönliche Erfahrung von Kindsverlust die Gemeinsamkeit.
Carmen C. Kruse: „The End of the World“, das dritte Stück des Abends, setzt sich mit den persönlichen Erfahrungen von Frauen zum Thema „Weltende“ auseinander. Hier haben wir mit einer breiten Zielgruppe gesprochen, die uns sehr konkrete Erfahrungen geschildert hat. Das Persönliche trifft hier auf das Soziale.
Leonora Scheib: Es gab auch die konkrete Frage: „Habe ich ein persönliches Weltende erlebt?“ So hat man sich direkt angesprochen gefühlt und kam in den Dialog.
Carmen C. Kruse: Uns wurde ein breites Spektrum an persönlichen, beruflichen und sozialen Erfahrungen geschildert – ähnlich, aber doch gleichzeitig sehr weit voneinander entfernt und universell.
Ich nehme an, dieser Teil der Arbeit läuft in Form von Workshops ab.
Carmen C. Kruse: Wir arbeiten hier mit einer größeren Struktur, die Workshops betreffen hauptsächlich die künstlerischen Teams. Es ist immer eine Woche für die Interview-Phase eingeplant, in der wir Menschen in unterschiedlichen Formaten – das kann im Kaffeehaus oder bei ihnen zu Hause, bei einer Schreibwerkstätte oder einem Malworkshop sein – oder auf Anfrage, weil sie sich auf einen Call gemeldet haben.
Könntet ihr das anhand von „Creations*3“, ein Abend an dem von drei aktuellen Produktionen Szeneneinblicke gezeigt wurden, etwas detaillierter erklären? Wo stehen diese Produktionen gerade? Wie verlief der gemeinsame Abend?
Carmen C. Kruse: Bei „Now that we are Persons“ von Caitlin Smith, „Great Open Eyes“ von Manuel Zwerger und „The End of the World“ von Patricia Martínez handelt es sich um Stücke, die jeweils an unterschiedlichen Punkten ihrer Entwicklung stehen. Bei „Great Open Eyes“, dem jüngsten Stück, handelte es sich um einen Entwurf, den wir weiterentwickeln werden. Die Interviewphasen haben wir zuvor in Wien und Münster abgehalten und insgesamt mit etwa fünfzig Damen und Herren, die einen Kindsverlust erlebt haben, gesprochen. Mit diesem Output und aus der speziellen Bühnensituation heraus wollten wir bestimmte Dinge ausprobieren und vor Publikum zeigen – musikalische Motive, die Nutzung der Instrumentation und auch Textausschnitte. Bei „The End of the World“ von Patricia Martínez haben wir die Woche genutzt, um mit der Librettistin Giuliana Kiersz eine Fassung, die im September 2022 zur Uraufführung gelangen wird, fertig zu stellen. Der Interview-Prozess ist hier bereits abgeschlossen.
„Es ist interessant, was Frauen erlebt haben, das nicht auf Männererfahrungen übertragbar ist, und hier nun Raum erhält.“
Interview-Prozess bedeutet, dass ihr mit diversen Communities Gespräche führt?
Carmen C. Kruse: Genau! In Wien hatten wir beispielsweise eine Partnerschaft mit der Frauenhetz und konnten Frauen zwischen 6 und 82 Jahren dazu interviewen, welche Weltenden sie persönlich erlebt haben. Begleitend dazu organisierten wir Schreibworkshops und Einzelinterviews. Es ist interessant, was Frauen erlebt haben, das nicht auf Männererfahrungen übertragbar ist, und hier nun Raum erhält. Diese Erfahrungen informieren im nächsten Schritt die fiktiven Charaktere und deren Lebenssituationen. Wir haben das Spektrum dessen, was wir in dieser ersten Fassung zeigen wollen, festgelegt und uns ganz genau überlegt, welche Weltenden wir auswählen. Die Komponistin Patricia Martínez hat bereits zwei sechsminütige Motive zum apokalyptischen Weltende geschrieben, die wir an diesem Abend aufgeführt haben. Kurz danach war das Libretto fertiggestellt. Jetzt arbeitet sie an der musikalischen Fassung, die wir mit dem SWR Experimentalstudio aufnehmen werden.
Leonora Scheib: Caitlin Smith hatte zu „Now that we are Persons” schon relativ viel kompositorisches Material fertig. Unser Ziel war es, dieses erstmals mit Caitlins 10-Kanal-Soundinstallation auszuprobieren und ihr eine Orientierung für den weiteren kompositorischen Prozess bieten zu können. Parallel haben wir mit den Kunstliebhaberinnen und -liebhabern daran gefeilt, wie das Stück inhaltlich weitergehen könnte. Nach dem Abend, dem sie im Publikum beigewohnt haben, haben wir in Hinblick auf den weiteren kompositorischen Prozess nochmals Feedback von ihnen eingeholt. Es war toll, diese unmittelbaren Eindrücke zu erfahren und in den weiteren Schaffensprozess mitnehmen zu können.
Solche Momente sind im regulären Opernbetrieb üblicherweise rar.
Leonora Scheib: Diese Struktur aufzubauen, ist uns innerhalb des Schaffensprozesses einer Oper sehr wichtig. Wir wollen den Kontext schaffen, dass man Dinge ausprobieren kann – diese helfen der Qualität der Stücke sehr.
Carmen C. Kruse: Diesen Rahmen kann ein Stadt- oder Staatstheater aufgrund seiner Spielpläne normalerweise alleine nicht bieten, daher ergänzen wir uns hier gut und bauen individuelle Strukturen für die Stücke, Häuser und Orte.
Das ist ein guter Punkt. Leonora, du hast 2019 eine Studie veröffentlicht, die anhand von Spielplänen europäischer Opernhäuser das Verhältnis zeitgenössischer Werke gegenüber dem üblichen Repertoire untersucht.
Leonora Scheib: Genauer, die die Disponierung von zeitgenössischem Musiktheater an europäischen Opernhäusern untersucht. Was mich betrifft, hat diese Studie die Konzeption von COCREATIONS sicherlich sehr informiert und inspiriert. In den vielen Gesprächen, die ich mit den Intendantinnen und Intendanten führen konnte, kristallisierten sich einige Punkte heraus. Einer war, dass es innerhalb des Rades an Produktionen nur ganz selten genug Raum für langjährige Entwicklungsprozesse gibt oder auch genügend Know-how im Umgang mit zeitgenössischen Kompositionen. Ein weiterer Punkt betrifft die Themensetzung. Dass man sich anstelle eines weiteren „Hamlets“ mit dem auseinandersetzt, was die Bevölkerung gerade interessiert. Als drittes ist die Langlebigkeit von Stücken zu nennen. Uraufführungen sind sehr teuer, sie werden aber selten ein zweites, drittes Mal gespielt, weil jede Umsetzung erneut Kosten verursacht. Durch Koproduktionen kann das Leben eines neuen Stückes verlängert und die Reichweite vergrößert werden. Das hat mich gereizt und interessiert.
„Wenn man Menschen hineinholt und ihnen Vertrauen entgegenbringt, hat man hier durchaus die Chance, Oper zu schaffen.“
Vermutlich auch wegen einer geringeren Auslastung …
Carmen C. Kruse: Das ist meiner Meinung nach auch eine Vertrauensfrage. Wir beobachten in Europa bei der breiten Bevölkerung eine gewisse Skepsis und Vorurteile gegenüber der Neuen Musik, die es erschwert, neuen Opernstoffen Vertrauen entgegen zu bringen. In eine „Tosca“ gehe ich, weil ich darauf vertraue, dass mir ein Stück mit diesem Titel gefällt – um nur ein Beispiel zu nennen. Im amerikanischen Raum gibt es positive Gegenbeispiele, die beweisen, dass man mit neuer Oper ein breites Publikum ansprechen kann. Beth Morrison Projects, die mit der L.A. Opera kooperieren und regelmäßig das gesamte Haus ausverkaufen. Wenn man Menschen hineinholt und ihnen Vertrauen entgegenbringt, hat man hier durchaus die Chance, Oper zu schaffen. Wenn ich Civic Opera Creations vertraue, weil sie Projekte umsetzen, die dialogisch starten und von denen jemand Teil sein möchte, kommt auch mehr Publikum. Wir bringen neue Leute in die Oper und arbeiten mit Leuten, die an Oper interessiert sind. Dadurch, dass wir die unterschiedlichsten Menschen von Anfang an in den Prozess einbinden, sind sie der Oper nicht fremd. So gelingt es uns, Brücken zu schlagen.
Bei einer neuen Produktion weiß man als Intendantin bzw. Intendant nicht, was man bekommt. Können Werkstattgespräche und offene Proben ein Mittel sein, um das aufzubrechen?
Leonora Scheib: Wir wollen das etwas weiterbringen und die eigene Arbeit nicht nur zu einem früheren Zeitpunkt vermitteln, sondern im Verständnis eines reziproken Austauschs.
Carmen C. Kruse: Höhere Teilhabe. Dazu gehören die Themenfindung und wie man die Dinge erzählt. Wir hören auch zu. Trauer und Kindsverlust sind sehr sensible Themen und gesellschaftlich stark tabuisiert. Eine wichtige Rückmeldung unserer Interviewpartnerinnen und -partner war, dass sie darüber sprechen wollen. Wir glauben, dass Oper durch die musikalische Ebene dafür prädestiniert ist, neue Zugänge zu schaffen.
„Wenn wir es schaffen, etwas erfahrbar zu machen, das nicht in Worte zu fassen ist, leisten wir einen wichtigen Beitrag.“
Dadurch findet man ja auch neue Geschichten. Caitlin Smith sagte in einem Interview, dass sie Opernaufführungen ermüden, wenn sie das Gefühl hat, nichts und niemand habe aus der Geschichte etwas gelernt.
Carmen C. Kruse: Oft geht es einfach um Repräsentation. Ich habe mich noch auf keiner Opernbühne wiedergefunden – einfach weil mein Teil der Gesellschaft für sehr lange Zeit ignoriert wurde und wir jetzt erst die Geschichten der LGBTQI-Community erzählen. Wir zeigen die Geschichten unserer Zeit. Wenn wir es schaffen, etwas erfahrbar zu machen, das nicht in Worte zu fassen ist, leisten wir einen wichtigen Beitrag.
Wie finanziert sich COCREATIONS?
Carmen C. Kruse: Wir haben drei Säulen. Zum einen über Koproduktionen mit Häusern, Veranstaltern und Festivals. Zu nennen sind das Festival MAIA, die Musiktheatertage Wien, das Landestheater Linz, SWR Experimentalstudio, das CROSS-Festival in Italien und 2023 das Theater Münster mit „Great Open Eyes“.
Leonora Scheib: Weiters über Subventionen, um die wir beim Bund und der Stadt Wien ansuchen.
Carmen C. Kruse: Und die dritte Säule sind Stiftungen und Förderer. Hier sind wir im Aufbau.
„Es freut uns wahnsinnig, wenn Leute mitmachen wollen.“
Man kann auch über eure Seite spenden. Wie wendet man sich an euch, wenn man beim nächsten Thema mitarbeiten oder sich engagieren möchte?
Leonora Scheib: Am besten schreibt man uns eine E-Mail an contact@cocreations.eu, dann treten wir in Dialog.
Carmen C. Kruse: Es freut uns wahnsinnig, wenn Leute mitmachen wollen.
Oder vielleicht auch einfach zu einer eurer nächsten Veranstaltungen von COCREATIONS zu kommen? Die nächste Veranstaltung findet im Mai statt.
Leonora Scheib: Innerhalb von drei Tagen entstehen zu drei Themen drei Opern, von drei unterschiedlichen Teams. Diese werden an drei Orten in Wien gemeinsam gezeigt.
Gemeinsam an drei Orten? Wie funktioniert das?
Leonora Scheib: Als Stationen-Theater.
Carmen C. Kruse: Pro Team gibt es jeweils eine bzw. einen Komponist*in, Librettist*in und Regisseur*in, sowie zwei Musizierende und zwei Singende. Sieben Personen werden gemeinsam in dieser kurzen Zeit eine Oper schreiben. Der Titel „Civic Newsroom“ ist inspiriert durch das Format der Reportage und die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten.
Leonora Scheib: Sowohl die Teamkonstellation also auch die Themen werden vor Ort durch das Los bestimmt. In diesem Projekt versuchen wir ganz bewusst, die üblicherweise langen Prozesse in kürzester Zeit umzusetzen, um herauszufinden, welche Kräfte dadurch freigesetzt werden.
Eure Mitspieler sind das Ensemble Schallfeld, das für flexible musikalische Umsetzungen bekannt ist, und das Ensemble Chromoson. Wenn so viel offen ist, gibt es vermutlich einfache Rahmenvorgaben, die jede und jeder leicht befolgen kann. Wie sind diese abgesteckt?
Leonora Scheib: Die Rahmenvorgaben sind, dass die Themen vorher bestimmt werden und dass wir trotz der kurzen Zeit dem Anspruch des wiederholten Austausches gerecht werden. Es gibt im Vorfeld eine Interviewphase zu den drei Themen.
Carmen C. Kruse: Inhaltlich geht es um verschiedene Zukunftshoffnungen. Wir sprechen mit drei Zielgruppen, wobei letztere an unsere Partner gebunden sind.
Leonora Scheib: Zu nennen sind das Cape 10, das sich stark mit dem Zusammenhang von sozialem Gefüge und Gesundheit auseinandersetzt und im Sonnwendviertel über ein neu errichtetes Haus verfügt, unter dessen Dach mehrere Projekte angesiedelt sind. Das Kulturhaus Brotfabrik setzt sich mit Diversität und Teilhabe auseinander, es richtet sich mit einem kulturellen Angebot an seine Umgebung. Das Dritte im Bunde ist das Kunst Haus Wien – Museum Hundertwasser.
Carmen C. Kruse: Hier lautet das konkrete Thema „Museums for Future“. Wir sprechen mit Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future und anderen über ihre Wünsche für die Zukunft. Aus all dem stellt Marie Steiner ein Portfolio für die Teams zusammen. Dazu hat sie im Vorfeld 30-minütige Interviews mit fünf bis zehn Menschen geführt. Dieses Material bildet die Grundlage für die Teams. Darüber hinaus gibt es am ersten Tag zu Beginn, am Donnerstag um 16:30 Uhr, noch einen Austausch zwischen den künstlerischen Teams und den Menschen, die interviewt wurden – und Menschen, die sich ebenfalls einbringen wollen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Ruth Ranacher
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Termine:
Civic Newsroom
19. bis 22. Mai 2022
Kulturhaus Brotfabrik, Cape 10, Kunst Haus Wien
European Kitchen Encounters. VR-BANIA
17. bis 18. September 2022
Musiktheatertage Wien, Wien, Österreich
Great Open Eyes
Mai und Juni 2023
Theater Münster
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Links:
Civic Opera Creations (COCREATIONS)
Leonora Scheib: MORE OF THE PRESENT?! RECENT AND NEW OPERA PROGRAMMING
Caitlin Smith
Manuel Zwerger
Manuel Zwerger (music austria Datenbank)