„Wir wissen, dass die Altersdiskriminierung zunimmt und darum ist uns Empathie für an Demenz Erkrankte besonders wichtig.“ – RUTH MATEUS-BERR IM MICA-INTERVIEW

Der Fokus des Projektes DEMEDARTS: Dementia.Empathy.Education.Arts. liegt darauf, die Gesellschaft auf das Thema Demenz zu sensibilisieren. Mit Kunst. Interdisziplinär. RUTH MATEUS-BERR ist Künstlerin, Wissenschaftlerin und diplomierte multimediale Kunsttherapeutin. Im Gespräch mit Sophia Umfahrer erzählt sie über das noch bis Oktober 2023 laufende Forschungsprojekt, gibt interessante Einblicke in entworfene Strategien und Methoden und deckt (Aus-)Bildungslücken auf.

DEMEDARTS hat zum Ziel, der Gesellschaft das Thema Demenz näher zu bringen, Empathie diesem gegenüber zu entwickeln und es mehr zu integrieren. Wie gehen Sie das genau an, wie vermittelt man durch Kunst das Thema Demenz?

Ruth Mateus-Berr: Wir machen mit unterschiedlichen Zielgruppen Workshops, in denen wir das Thema vorstellen. Wir haben dabei verschiedene Ziele. Ein ganz großes davon ist Empathie. Wir versuchen immer, sehr positive Kunstworkshops zu machen. Es geht nicht darum, Menschen traurig zu machen oder nach Covid noch mehr Panik zu vermitteln. Alle Workshops stellen wir als Open Source – als sogenanntes Toolbook – auf unserer Homepage zur Verfügung.

Wie kann so ein Workshop aussehen?

Ruth Mateus-Berr: Für die Zielgruppe der Betroffenen und Angehörigen wären das etwa Anwendungen, um in einen besseren Zustand zu kommen. Wir haben aber auch Workshops für die Zielgruppe „Professionelles Pflegepersonal“.

Bei jungen Menschen oder Schüler:innen geht es darum, gegen Altersdiskriminierung vorzugehen. Es geht um Aufklärung, darum, aufmerksam zu machen und Empathie für Betroffene zu wecken. Aber natürlich auch darum, ihnen Möglichkeiten zu geben, über ihre Ängste zu sprechen. Eine Strategie in Bezug auf Empathie ist, mit den Kindern einfach darüber zu sprechen. Meistens kennen sie schon einen Großelternteil, der betroffen ist, und sind froh, wenn sie drüber reden können. Wir geben ihnen dann Werkzeuge an die Hand, wie sie Oma oder Opa begegnen können. Ideen, was sie vielleicht mit den Großeltern machen können, anstatt diese erst gar nicht besuchen zu wollen, weil sie möglicherweise 10 Mal das Gleiche gefragt werden.

Wenn es um Empathie geht, haben wir auch die Gesellschaft als Zielgruppe, also die Öffentlichkeit per se. Hier arbeiten wir beispielsweise mit wissenschaftlichen Publikationen und Ausstellungen oder ähnlichem. Wir hatten etwa am 8. August 2023 eine Parade, für die wir verrückte Rollatoren entwickelt haben.

Was ist der Hintergrund bei diesen Strategien für die Gesellschaft, wie kann man damit Empathie entwickeln?

Ruth Mateus-Berr: Indem man mit Menschen darüber ins Gespräch kommt. Oder Stimme ergreift. Diese entworfenen Rollatoren sind natürlich nicht zum Gebrauch gedacht. Das nennt man „Critical Design“. Wie in der Kunstgeschichte oder Musikgeschichte gibt es auch im Design verschiedene Stile. Critical Design ist dazu gedacht, dass man Menschen auf etwas aufmerksam macht.

Wenn wir diese Rollatoren in einem Museum oder in einer Galerie ausstellen, wollen wir, dass Besucher:innen beginnen, über das Thema zu diskutieren und nicht über die Künstlerin/den Künstler und deren Biographie. Wenn man beginnt, über die Sache zu reden, bekommt man dadurch mehr Bewusstsein dafür.

Wenn unsere Gesellschaft aufmerksam ist und durch solche Workshops oder Ausstellungen sensibilisiert werden kann, erkennen immer mehr Leute Menschen mit Demenz auf der Straße oder in der U-Bahn und können ihnen helfen. Auch Betroffene wissen: Wenn ich mich einmal verirre, macht das nichts, weil mir gerne jemand hilft anstatt sich über mich lustig zu machen.

In dem Fall der Rollatoren war die Arbeit auf der einen Seite auch durch Gespräche in der Pause eines Workshops inspiriert. Schüler:innen haben dabei eigentlich über Menschen mit Rollatoren gelästert und waren stolz drauf, dass sie einem dieser Menschen den Rollator weggenommen haben; ein anderer Schüler hat dann gemeint, dass sie hoffentlich gestorben sind. Ich glaube, dass bei Schüler:innen eine große Angst herrscht und dass solche negativen Äußerungen nicht automatisch nur schlecht gemeint sind.

Wir wissen, dass die Altersdiskriminierung zunimmt und darum ist uns Empathie für an Demenz Erkrankte besonders wichtig. Mit diesen Rollatoren ergreifen wir Stimme für Menschen mit Demenz, wir wollen aber auch, dass Gestalter:innen darüber nachdenken. Es wird einem nämlich schon mal schlecht, wenn man in Geschäfte geht, wo Objekte für ältere Menschen verkauft werden – allein schon deshalb, weil deren Gestaltung so furchtbar trostlos ist. Sicher gibt es bessere Rollatoren aus neuen Materialien, aber die kosten 600 Euro im Gegensatz zu denen um 39 Euro, die wir umgestalten. Aus Interviews mit Menschen mit Demenz geht hervor, dass sie sich eine individuellere, lustigere Gestaltung wünschen. Menschen mit Demenz haben uns auch gesagt, dass sie ebenso ein Recht haben, als Mensch lustig, verrückt und bunt zu sein. Und warum hört diese positive Verrücktheit, die wir uns ja alle zugestehen, im Alter auf? Und erst recht, wenn ich krank werde?

Haben die Betroffenen die Rollatoren für die Parade und die Ausstellung mitgestaltet?

Ruth Mateus-Berr: Nein, die sind von uns gestaltet worden, um für die betroffenen Menschen Stimme zu ergreifen. Wir haben nun eine öffentliche Aktion, eine Ausstellung in der Taborstraße und eine im Künstlerhaus, wo Menschen selbst ihre idealen Rollatoren gestalten können. In der Taborstraße kann man sich einklinken. Wir haben ein paar Hilfsmittel und Unterlagen zur Verfügung gestellt, an denen man weiterzeichnen kann und wo es einfach nur um eine Idee geht.

Mit Menschen mit Demenz wollen wir das auch noch spezifisch tun. Das haben wir bisher noch nicht gemacht, weil unser Projekt ja eine künstlerische Forschung ist. Dabei geht es auch darum, dass wir Künstler:innen eigene Projekte gestalten, die aber durchaus durch die Arbeit mit Betroffenen inspiriert sein können.

Das Projekt DEMEDARTS läuft noch bis Oktober. Welche Erkenntnisse haben Sie schon gewonnen?  

Ruth Mateus-Berr: Unterschiedliche. Eben zum Beispiel, dass sich ältere Menschen und Menschen mit Demenz eine andere Gestaltung wünschen.

Weiters ist es mir schon beim Vorprojekt in Workshops mit Menschen mit Demenz gelungen, über deren künstlerische Arbeiten festzustellen, in welchem Demenzstadium sich diese befinden. Hier wäre die Idee, eine angewandte Forschung fortzusetzen. Es gibt nämlich, wie ich finde, ziemlich diskriminierende Feststellungstests für Demenz, wie etwa eine analoge Uhr zu zeichnen. Da tun sich mittlerweile schon 18-Jährige schwer, weil sie digitale Zeitangaben gewohnt sind. Menschen mit Demenz spüren bei diesen Aufgaben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Sie sind sehr auf der emotionalen Seite und es ist ihnen fürchterlich peinlich, wenn ihnen das nicht gelingt.

In diesem Vorprojekt habe ich die Teilnehmer:innen gebeten, mir links ein Bild zu zeichnen, das für sie Chaos ausdrückt, und rechts, was für sie Ordnung darstellt. Diese rund 500 Zeichnungen könnte man nun mit Machine Learning – oder gleich auf Tablets gezeichnet – auswerten und einen neuen Demenztest entwickeln. Das finden auch manche Psychiater:innen oder Neurolog:innen interessant. Man müsste das aber als Folgeprojekt einreichen, weil die künstlerische Forschung DEMEDARTS eine Grundlagenforschung ist.

Menschen, die mit uns Workshops machen, fühlen sich auch zunehmend wohl und lachen. Das schönste Erlebnis hatte ich mit einer Frau, die schon in fortgeschrittenem Stadium war und eigentlich keine ganzen Sätze mehr formulieren konnte. Nach einer Stunde Workshop hat sie auf einmal ganze Sätze gesprochen.

Ein anderes Beispiel meiner Kollegin Pia Scharler, die ein Objekt in Form eines Tisches mit Kugeln entwickelt hat, haben wir an zwei Patienten:innen in sehr schwerem Stadium (bettlägrig, künstlich ernährt) getestet. Den Freund:innen und Verwandten dieser Personen haben wir Mini-Versionen dieses Tisches mitgegeben. In einem Fall hat die Dame totale Aktionen gezeigt. Sie wollte die Kugel auffangen, wenn sie hinuntergefallen sind. Sie ist also wieder präsent geworden und wollte das Designobjekt nicht mehr hergeben. 

Bei dem Herrn war es so, dass er höchst interessiert war und ausprobiert hat, wie die verschiedenen Kugeln klingen und was man mit ihnen machen kann. Und er hat zu reden begonnen. Man hat es dann zwar nicht mehr verstanden, aber das Ganze hat mit ihm, so meinen wir, etwas Positives gemacht.

Wir haben gesehen, dass auch eine künstlerische Intervention dazu beigetragen hat, dass die Menschen aktiv geworden sind, dass sie das Objekt gar nicht mehr hergeben wollten, und dass sie nachher konstruktiv in einen Dialog treten konnten.

Wohlbefinden und positive Ansprache der emotionalen Ebene aktivieren das Gehirn, negative blockieren das Lernen umso mehr. Bei Menschen mit Demenz ist das genauso wie bei gesunden Menschen. Wohlbefinden und positive Emotionen sind eben auch entscheidende Faktoren, wenn es um die Wiederaktivierung der Sprache geht.

Ruth Mateus-Berr: Genau, wieder zur Sprache zu finden oder wieder Interesse an etwas zu zeigen oder mehr Klarheit zu bekommen. Wie lange das bei künstlerischen Interventionen anhält, müsste man in einem anderen, angewandten Forschungsprojekt testen; sprich das testen, was wir in der Grundlagenforschung entwickelt haben.  

Design: Ruth Mateus-Berr & Pia Scharler
Design: Ruth Mateus-Berr & Pia Scharler (c) Foto: Max Kropitz

„Durch das Singen können sie sich auf einmal wieder an bestimmte Liedtexte erinnern, das ist wirklich interessant.“

Musik spielt in Bezug auf Wohlbefinden und Aktivierung jedenfalls eine große Rolle.

Ruth Mateus-Berr: Man weiß, dass bei Musik bis zu drei Tage nachher Wohlbefinden vorhanden ist, weil das Hirnareal für die Musikempfindung/-wahrnehmung von der Demenzerkrankung nicht zerstört wird.

Dazu möchte ich auch noch einen wichtigen Punkt zur Musik nennen: den sogenannten Musikspiegel. Ich würde sagen, meine Generation besitzt so etwas wie Playlists. Es gibt einen Herrn in Amerika, der in Pflegeheimen individuelle Playlists für ältere Menschen abspielt. Man sieht, wie glücklich diese Menschen dann sind. Sie sitzen da mit Kopfhörern und beginnen zu tanzen und zu singen. Dass dadurch sehr viel wieder hochkommt, weiß man auch vom Singen. Durch das Singen können sich Menschen auf einmal wieder an bestimmte Liedtexte erinnern.

Manche geben sogar plötzlich Strophen von Liedern wieder, die nirgendwo niedergeschrieben und schon längst in Vergessenheit geraten sind. Mit bekannter Musik kann man die Menschen in Altersheimen aus ihrer Blase und dem Alltagstrott holen, der sie sonst ganz starr werden lässt. Denken Sie, man könnte hier Kunst noch mehr integrieren, um mehr positive Veränderung zu schaffen?

Ruth Mateus-Berr: Es gibt ganz tolles Pflegepersonal; der Hintergrund, dass Menschen so inaktiv werden, ist sicher grundsätzlich der Mangel an Pflegepersonal und darüber hinaus die mangelnde Ausbildung zum Thema Demenz. Da fände ich es zum Beispiel unglaublich innovativ, eine neue Ausbildung für Pflegekräfte beispielsweise in Kooperation mit uns, also mit Kunst, ins Leben zu rufen. Ich glaube, dass das auch an Attraktivität gewinnen würde. Für mich ganz persönlich ist sehr interessant, wie ich zum Beispiel vorbeugen kann, bzw. wie ich Dinge anwenden kann, die mir guttun, wenn ich einmal an Demenz erkranke.

Sie meinen, wenn man merkt, eventuell an Demenz erkrankt zu sein, dass man auch selbst für sich Strategien in der Hand hat?

Ruth Mateus-Berr: Ja, oder Angehörige und Freunde. Da arbeite ich zum Beispiel mit einem etwas erweiterten Workshop-Konzept mit den fünf wichtigsten Dingen in deinem Leben. Wenn ich die benennen kann, ist das schon einmal sehr wertvoll, weil man damit im Bereich der angewandten Kunst sehr gut Dinge entwickeln kann. Wir gehen dabei sehr individuell auf die Persönlichkeiten ein.

Wir haben etwa eine Dame mit Demenz, die sich gerne lustig anzieht und verkleidet. Für die habe ich ein magnetisches 3D-Puzzle entwickelt, angelehnt an das Prinzip eines Kinderspiels von früher, bei dem man die Puppe verschieden anziehen kann. Was hat das für ein Ziel? Erstens kann die Dame selbst damit spielen und sagen, wie sie sich gerne anziehen möchte. Sie kann etwa auch ein Katzengesicht aufsetzen, denn sie mag auch Katzen gerne.

Und das zweite ist, dass sich Menschen mit Demenz oft sehr zurückziehen. Sie beginnen dann wie beim Heim-Syndrom, sich mit vor- und zurückwippenden Bewegungen zu beruhigen. Das belastet die Angehörigen ja sehr. Viele Tools, die wir entwickelt haben, sollen auch den Angehörigen Möglichkeiten bieten, erst einmal für sich selbst zu sorgen und so einen Workshop für sich selbst zu machen und dann in Folge aber auch mit den Betroffenen in Interaktion zu treten. Dinge, die positiv und wichtig für die Person sind oder waren, bringen sie schon einmal in eine gute Stimmung. Und als Angehörige:r habe ich dadurch die Chance, von den immer gleichen Fragen genervt zu sein, sondern sie vielleicht dazu zu animieren, eine Geschichte zu erzählen. Das könnte jeden Tag eine ganz andere sein. Da gibt es kein richtig und kein falsch, das ist, wie Märchen neu zu erfinden.

Über Hobbies und Berufe Zugang zu finden, das ist auch von Musiker:innen bekannt. Wenn man sie ihr Instrument wieder spielen lässt, tauchen sie auch aus der Demenz auf.

Ruth Mateus-Berr: Genau, es ist so. Es ist sehr hilfreich, wenn man selbst künstlerisch aktiv war, egal in welcher Richtung. Die Leute bekommen wieder eine bessere Stimmung und ein Wohlbefinden. Und auch wenn sich der Ausdruck der Arbeit genauso wie ihre Wahrnehmung verändert, merkt man immer dieses Geschulte. Es gibt Beispiele von Menschen, die in jüngeren Jahren Selbstporträts gemacht haben – und dann nochmal, als sie an Demenz erkrankt sind. Es ist schon sehr spannend, wie sich das verändert.

Was mich persönlich sehr beschäftigt hat, war, dass ich zum Beispiel seit meiner Pubertät weiß, wie ich mich selbst mit Musik manipulieren kann. Das finde ich interessant, weil man damit auch arbeiten könnte. Mit Musik kann ich, obwohl ich eigentlich müde oder nicht gut drauf bin, stundenlang tanzen, und ich weiß, dass bestimmte Akkorde glücklich machen können. Als Musiker:in müsstest du das ja auch wissen, aber interessanterweise nutzen das die wenigsten und haben sich auch zum Teil noch nie damit beschäftigt. Die letzten Semester habe ich auch mit Musikstudierenden gearbeitet, die nicht wussten, welche Töne sie glücklich machen.

Design: Ruth Mateus-Berr & Pia Scharler
Design: Ruth Mateus-Berr & Pia Scharler (c) Foto: Max Kropitz

„Denn fühle ich mich melancholisch und lege mir eine melancholische Musik auf, heißt das, dass ich durch die Musik mit mir selbst empathisch bin.“

Oft sucht man sich auch unbewusst die Musik aus, die zur Stimmung passt. Eine fröhliche Musik kann auch nervend sein, wenn man sich überhaupt nicht gut fühlt. Mit sukzessiven Steigerungen etwa von melancholischer Musik hin zu fröhlicher wird die Manipulation sanfter.

Ruth Mateus-Berr: Genau, aber dann müsste man auch schon darüber reflektiert haben und das auch anwenden. Das ist zum Beispiel eine Leerstelle, die ich festgestellt habe. Weder in der Schule noch an der Uni lerne ich, dass das eigentlich ein hilfreiches Mittel ist, um sich selbst zu therapieren. Das wäre eine sehr einfache Möglichkeit in Bezug auf Salutogenese: Wie kann ich mit mir selbst umgehen, wenn es mir nicht gut geht?

Bei einer Methode habe ich mir dazu Gedanken gemacht: Wenn mich zum Beispiel als Lehrerin Schüler:innen etwa mit ganz furchtbaren Geschichten berühren, oder wenn ich merke, dass sie etwas belastet und ich nicht weiß, wie ich selbst damit umgehen kann, kann ich „mich in Abstand setzten“ (me mettre à distance), indem ich meine künstlerische Fähigkeit benütze, bevor ich in die Sprache gehe. Was ich wahrgenommen habe, zeichne ich einfach oder gestalte es dreidimensional. Das könnte man mit der Musik genauso machen, denke ich.

Diese Geschichten – in dem Fall habe ich eine Bildgeschichte gemalt – habe ich an verschiedenste, auch professionelle Psychiater:innen, Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen, auch viele Freund:innen und Kolleg:innen geschickt und sie einfach gebeten, mir ihre Geschichte dazu zu schreiben. Dadurch bekomme ich andere Blickwinkel auf die Geschichte.

Was Sie vorhin sagten, fand ich sehr schön. Denn fühle ich mich melancholisch und lege mir eine melancholische Musik auf, heißt das, dass ich durch die Musik mit mir selbst empathisch bin. Durch die Malerei der Bildgeschichte bin ich genauso mit mir empathisch. Dann brauch ich aber ein zweites Tool, um wieder heraus zu kommen. Das muss ich mir selbst geben können. Reflektieren, um zu wissen, wie ich das schaffe. Brauche ich mehrere Schritte oder lege ich mir eine Musik-Nummer auf und bin gleich wieder in einer anderen Stimmung?

Ich glaube, es wäre sehr hilfreich, Menschen darin auszubilden, das zu lernen. An Schulen bzw. an Universitäten könnte man so etwas tatsächlich einführen. Oder vielleicht sogar im öffentlichen Kontext. Wenn wir einen Mangel an Therapieplätzen und an Supervisionsplätzen haben, sollten Menschen wissen, wie sie sich im Notfall selbst helfen können. Oder wie andere Leute ihnen helfen können. Damit eine Art psychische Unterstützung gegeben ist, wenn man tatsächlich an etwas psychisch oder physisch erkrankt, um in diesen Situationen Wohlbefinden zu erlangen.

Wenn ich etwa die fünf wichtigsten Dinge im Leben eines Menschen kenne, dann kann ich, bzw. können alle Künstler:innen und Musiker:innen, mit ihm interagieren bzw. Methoden individuell zuschneidern. Meine Bekannte Theresa Indjein spielt Harfe und geht in zu Leuten mit verschiedenen Erkrankungen und spielt für sie. Oder auch Oliver Peter Graber von Arts for Health arbeitet mit Musik auf Palliativstationen.  

„Arts for Health“ betreiben ein Projekt mit Long-Covid-Patient:innen, in dem sie sich auf das Singen und die Atmung konzentrieren. Würde sich eine Verbindung mit Ihrem Projekt anbieten?

Ruth Mateus-Berr: Natürlich. Kollegin Perez, die Arts for Health Austria leitet, kommt eher aus dem Tanz und aus der Musik. Ich habe ihr vorgeschlagen, unsere Arbeiten und Projekte miteinander zu verknüpfen. Ich verbinde ja die Künste miteinander in den Tools, auch durch meine kunsttherapeutische multimediale Ausbildung. Noch gab es aber leider kein grünes Licht für eine direkte Kooperation.

In den Toolbooks haben Sie ein Beispiel einer grafischen Partitur, gestaltet aus Formen der Haustüre Ihrer Großmutter. Was war das genau?

Das ist unter den künstlerischen Arbeiten. Das ist ein sehr persönlicher Zugang gewesen, wo ich in das Haus meiner Großmutter gegangen bin. Da hatte ich sofort eine positive Erinnerung, weil sich am Stiegenaufgang nichts verändert hat. Ich habe begonnen, die Muster der Stiegen zu malen, und als ich fertig war, war das wie eine Partitur für ein Orchester. Dann habe ich verschiedene MusikerInnen dazu eingeladen, habe ihnen die Geschichte meiner Großmutter und die Partitur, die natürlich sehr abstrakt ist, geschickt. Das haben die dann live im Künstlerhaus performt. Das war großartig!

Wie man die Künste miteinander verknüpft, stellt einen wahrscheinlich vor die eine oder andere Herausforderung. Was waren denn eigentlich die größten Hürden im Zuge des Projekts?

Ruth Mateus-Berr: Die größte Herausforderung am Anfang des zweiten Projekts DEMEDARTS war, dass ein Monat nach Beginn des Forschungsprojekts der Lockdown kam. Unsere Hauptzielgruppen waren natürlich in den Pflegeheimen und in den Schulen. Wir wollten Jung und Alt zusammenbringen, das war lange Zeit nicht möglich oder eben nur online.

Im Sinne der Empathie wollten wir die jungen Menschen und ältere Menschen (mit Demenz) zusammenbringen und sie dazu animieren, wie sie Empathie füreinander mit einer Handbewegung ausdrücken würden. Durch den Lockdown kamen wir aber nirgends rein. Wir mussten das dann selbst zusammenstellen. Auf der Webseite von DEMEDARTS sieht man unter „Künstlerische Arbeiten“ diese unglaublich schönen Hände, die Gesten der Empathie.

Performance: Partitur der Stiege, Konzept: Ruth Mateus-Berr; Musiker*innen: Alexander Wladigeroff: Trumpet, Konstantin Wladigeroff: Clarinet, Saxophone, Wagner Felipe dos Santos: Percussion, E-Percussion, Eckhard Mützner: Cello, Teresa Indjein: Harp, Pavel Naydenov: Voice, Fotos: (c) eSel

„Wenn ich kleine Dinge verändere, kann ich dann in Folge etwas im Großen verändern.“

DEMEDARTS schafft mit vielen Details neue Zugänge, lenkt die Aufmerksamkeit aus mehreren Blickwinkeln in eine positive Richtung und eröffnet eine Form der Kommunikation. Wie könnte es sich weiterentwickeln?

Ruth Mateus-Berr: Stellen Sie sich vor, um auf die Rollatoren zurück zu kommen, ich bin vielleicht Schlagzeuger:in gewesen und gehe in den Park mit meinem Rollator, auf dem ein paar Musikinstrumente und Klangobjekte montiert sind. Dann kann ich gleich ein bisschen Musik machen, weil es mir erstens Spaß macht und weil das ja cool ist, wenn Leute stehen bleiben, mit mir reden und mich bewundern. Die Leute fragen, was da gemacht wird. Betroffene, die sich vielleicht schämen, einen Rollator zu benutzen, würden wieder gern aus dem Haus gehen und mit Menschen in Kontakt treten.
Dazu gibt es ein schönes Zitat aus der Stadtforschung, genannt „urban arcupuncture/urbane Akupunktur“: „Wenn ich kleine Dinge verändere, kann ich dann in Folge etwas im Großen verändern.“

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!

Sophia Umfahrer

Links:
DEMEDARTS
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DEMEDARTS (Facebook)
Ruth Mateus-Berr: The Art Researcher

Literatur:
Ruth Mateus-Berr and L. Vanessa Gruber: ARTS & DEMENTIA. INTER-DISCIPLINARY PERSPECTIVES, Berlin: DE GRUYTER 2021.