Die Saxophonistin und Komponistin MURIEL GROSSMANN hat ein neues Album. „Devotion” heißt es und bietet die gewohnte Hausmarke aus leicht psychedelisch angehauchtem Spiritual Jazz. Das heißt: Beseelt wie immer, groovig wie immer, virtuos wie immer. Und trotzdem sticht “Devotion” aus GROSSMANNS bisherigem Kanon an exzellenten Alben heraus, weil es noch souliger, noch treibender, noch ausufernder geraten ist. Im Februar kommt die seit zwanzig Jahren auf Ibiza lebende Wienerin für ein Konzert ins Porgy & Bess. Markus Deisenberger sprach mit ihr über musikalisches “Heimkommen”, den Einsatz von Obertonflöten und Güterzüge mit Höhenflügen.
Ibiza und Du – ihr befindet euch ja gerade in der ruhigen Phase, bevor es im Frühling mit Party, aber auch mit Jazz-Konzerten wieder losgeht, im Inselschlaf sozusagen. Kannst du das ruhige Ibiza beschreiben? Wie riecht es?
Muriel Grossmann: Ibiza im Winter hat den schönsten Himmel. Der Nachthimmel ist kristallklar, die Farben bei Sonnenuntergang und Sonnenaufgang leuchten, es ist ruhig. Die Winterluft ist frisch und feucht und riecht friedlich. Meine Winter auf Ibiza werden immer kürzer, vor allem, weil ich viel auf Tournee bin, und diesen Winter vor allem, weil ich zwei Mal für zwanzig Tage nach Bahrain gereist bin, um dort einen Jazzclub zu eröffnen, den ich half zu programmieren und in dem ich selbst auch ein umfangreiches Engagement hatte. D.h. ich spielte jeden Abend drei, vier Sets.
Wie ist das Feeling in Bahrain?
Muriel Grossmann: Es gibt wenige europäische Touristen, sondern hauptsächlich Leute, die ihn der Golf-Region arbeiten. Viel Business, wenig Kultur. Es gibt zwar ein riesiges Orchester und ein Museum, aber sonst nicht viel. Ich hatte auch Probleme, MusikerInnen von hier für den Club zu finden. Ich musste Bands herholen.
Du kommst am 15. Februar nach Wien, um im Porgy zu spielen. Im Gepäck hast du dein neues Album, das den Titel “Devotion” trägt. Lass uns vielleicht anfangs über den Titel sprechen. Warum “Devotion”?
Muriel Grossmann: Ich freue mich sehr darauf, in meiner Heimatstadt zu spielen und dann in diesem großartigen Club. Ich freue mich auch darauf, Familie und Freunde zu sehen. “Devotion” beschreibt die volle Hingabe der eigenen Aufmerksamkeit an etwas oder jemanden. Den absoluten Fokus auf das Hier und Jetzt. Ich denke, dieser Titel passt wirklich gut, er beschreibt die Hingabe der Band für unseren musikalischen Weg, für unsere Musik, für uns in der Musik, die wir spielen, und er beschreibt meine Praxis der ungeteilten Aufmerksamkeit auf das, was vor mir ist. In unserer Zeit, in der wir uns so sehr auf uns selbst, unseren Weg, unsere eigenen Wünsche konzentrieren – in der das Ego dominiert – fühlt es sich wie ein Urlaub an, wenn jemand wirklich zuhört, wirklich versucht zu helfen, wirklich seine Zeit dem anderen widmet. Es hilft mir, mich daran zu erinnern, dass das Hier und Jetzt, das absolute Gewahrsein, das ist, was das Leiden lindert, was uns in Glückseligkeit leben lässt.
Lass uns über das Intro zu dem Song “Devotion” sprechen. Eine sehr spezielle Flöte und ein Marching Rhythm. Was hat es damit auf sich?
Muriel Grossmann: Es ist eine Obertonflöte, ein Metallrohr mit zwei Öffnungen. Ich habe dabei an Sharde Thomas und die Rising Stars Fife and Drum Band und ihren Vater Othar Turner gedacht. Sharde hat die Mississippi-Blues-Tradition und die Band von Othar übernommen. Sie spielt die Fife, eine selbstgemachte Rohrpfeife, wie eine Querflöte aus Bambus mit sechs Löchern. Devotion hat viele Blueselemente, eine offene Gitarrenstimmung, Slide-Gitarre und viel Blues in Melodie und Soli. Devotion ist einfach bodenständig – down to earth -, es ist etwas, das wir natürlich in uns tragen, das ist meine Verbindung.
Die Flöte war dein erstes Instrument, das Instrument also, mit dem alles begann, wenn man so will, oder?
Muriel Grossmann: Ja. Die Flöte gab mir die Möglichkeit, im Geist weit zu reisen. Sie ist Atem und Melodie und Freiheit des Ausdrucks. Das hab´ ich von ihr gelernt. Das Saxophon gab mir dann die Möglichkeit, meine Energie auszudrücken.
Ein Kritiker hat dein aktuelles Album als “one of the greatest jazz albums of the new millennium, by far” bezeichnet. Ich leg da jetzt noch einen drauf: Das ist eines der besten Jazz-Alben, die jemals eingespielt wurden, ein Monster von einem Album. Wie ist es entstanden?
Muriel Grossmann: Danke! Es ist an sich eine Fortsetzung der vorangegangenen Alben und insbesondere eine Fortsetzung des Albums mit dem Titel “Universal Code”. “Universal Code” hatte alle Elemente des spirituellen Jazz und das, woraus er stammt, beinhaltet. Weltmusik-Einflüsse, Jazz, Blues, Modal Jazz – hypnotische Abenteuer einer ursprünglichen, energetischen Musik. Beim Komponieren des Nachfolgealbums “Devotion” wollte ich nun einige dieser Elemente verstärken. Mit unserem neuen Mitglied Abel Boquera an der Hammond B3-Orgel hatten wir eine ausgedehnte Tournee gespielt, und ich konnte hören, wo sich die Band mit ihrem neuen Mitglied am wohlsten fühlt. Also komponierte ich Musik für die Band, und wir entwickelten die Kompositionen, indem wir sie bei den Proben und live spielten und dann haben wir aufgenommen.
Es wurde im Studio aufgenommen, hat aber die Wucht und die Direktheit einer Live-Aufnahme. Wie ist euch das gelungen? Das klingt nach einer unfassbar beseelten Session…
Muriel Grossmann: Das ist die Magie des Zusammenspiels dieser Band. Wir können hören, was jeder von uns braucht, was die Musik braucht, so dass jedes Mitglied seine Kreativität bestmöglich zur Geltung bringen kann. Und es gibt immer endlose Variablen und endlose Möglichkeiten. Es ist wirklich sehr erbaulich, zusammen zu spielen. Und ja, es war eine wirklich unfassbar beseelte Session.
Wie würdest du die Energie des Albums beschreiben?
Muriel Grossmann: Wie einen Güterzug, und dann einige Höhenflüge, unerwartet aber vertraut. Und für mich immense Schönheit in der Meditation.
Was, denkst du, macht das Album besonders, unterscheidet es von den Vorgängern?
Muriel Grossmann: Für mich ist jedes Album für sich einzigartig. Wenn ich zurückhöre, ist keines spezieller als das andere, jedes hat seinen Platz und seinen Moment. “Devotion” ist wie alle meine vorherigen Alben der Ausgangspunkt für das Einbauen neuer Elemente, die wir in unsere Musik, unsere musikalische Sprache integrieren. Der Unterschied besteht vielleicht darin, dass “Devotion” mehr Betonung auf Swing und einer Mischung aus populären Elementen wie Rock, Blues und Countrymusik legt.
Geblieben sind tranceartige Wiederholungen, die Pentatonik und die ethnischen Einflüsse. Neu ist, dass wirklich jeder Song Raum zum Atmen bekam. Kein einziges der Stücke ist unter zehn Minuten, und gleich der Opener ist länger als 20 Minuten. Ein Kritiker sprach passenderweise von “Buildings that are equally harmonious and spectacular”. Warum die epische Breite? War das Absicht?
Muriel Grossmann: Ja, jeder Song kann für sich selbst stehen, aber als Ganzes ist die Platte eine großartige Geschichte. Der Opener ‘Absolute Truth’ hatte diese majestätische Bassline, die so viel Raum zum Drumherumspielen ließ. Als ich die Idee hatte, die Bassline in der Mitte der Komposition zu verlangsamen, weitete sich der Song ganz natürlich zu einem langen psychedelischen Teil aus. Der Song bot so viel Raum für Avantgarde-Elemente und alle Arten von Drone-Parts. Es war unmöglich, ihn unter zwanzig Minuten zu spielen, wenn man allen Solisten Raum geben wollte.
Ich hatte aber den Eindruck, dass selbst wenn soliert wird, das immer im Dienst des Ganzen passiert. Das ist so geplant, nehme ich an?
Muriel Grossmann: Natürlich. Für mich ist die Musik wichtig. Und wir haben eine Musik, die typischerweise noch Soli hat. Im heutigen Jazz ist ja das Solo ja nicht mehr so gefragt. Bei meiner Band aber ist klar: Da gibt es Soli, und das Solo ist das, was deine Sprache entwickelt. Das, was deine Charakteristik ist und das, was die Musik spannend macht. Ich will ja auch hören, wie sich jemand anderer ausdrückt, wo er/sie hingeht. Aber so sehr diese individuelle Sprache gepflegt wird, Raum bekommt, so sehr muss sich das Solo auch in die Musik einfügen. Ein Solo sollte immer den Song widerspiegeln. Man spielt für den Song, und die anderen unterstützen das Gleiche. Das heißt: Wir alle spielen für die Musik, für jeden Song. Das war aber immer allen klar, darauf musste ich nicht pochen.
Es gibt also eine stille Übereinkunft darüber, wo die Reise hingeht?
Muriel Grossmann: Ja, und auch darüber, was ein Song benötigt. Es gibt zum Beispiel Passagen, in denen Radomir eine Country-Gitarre spielt, während Abel mit einem Solo kommt. Dann wieder widmet sich Abel in seinem Spiel eher der Landschaft, und Radomir kommt mit einem Solo. Wenn man den Song spielt, merkt man, wo sich ein Solist am besten ausdrücken, den Song am besten unterstützen kann. Und es kann auch sein, dass sich das verändert. Es kommt bald eine Live-Platte heraus, auf der du die Songs dann in einem anderen Licht siehst und feststellen kannst, wie enorm die Bandbreite jedes einzelnen Songs ist.
“Es ist ein nie endender Prozess der Selbstfindung” hast du mal über das Musikmachen an sich gesagt. Ihr scheint euch als Quartett gefunden zu haben, oder?
Muriel Grossmann: Es klingt und fühlt sich an wie Zuhause, ein Heimkommen, ja.
Gerade mit dem Gitarristen Radomir Milojkovic verbindet dich eine lange Partnerschaft. Er lebt auch auf Ibiza so wie du. Was ist das Geheimnis dieser sehr innigen musikalischen Freundschaft?
Muriel Grossmann: Radomir ist ein fantastischer Mensch. Er ist interessant, wirklich tiefgründig und hat so viele Interessen, dass man sich nicht langweilen kann. Er ist auch sehr humorvoll, aber das vielleicht Wichtigste für unsere Übereinstimmung ist: Er liebt einfach die gleiche Musik wie ich, die gleichen musikalischen Werte und die gleiche Akribie. Wir geben nie auf, und ein interessanter Punkt in unserer langen musikalischen Beziehung ist, dass das, was der eine anfängt, der andere zu Ende bringen kann und das auch tut, und umgekehrt. Und wir gehen komplett in der Musik auf. Wir sind beide hartnäckig, und die Gitarre und das Saxophon passen perfekt zusammen, beide so unterschiedlich im Klang und in den Möglichkeiten. Wir haben einfach einen Weg gefunden, daraus einen einzigartigen, wiedererkennbaren Sound zu entwickeln.
Die stilistische Breite des aktuellen Albums ist enorm. Wie kommt´s zu der?
Muriel Grossmann: Die Musiker von heute hören so viele verschiedene Arten von Musik. Wenn man dann eine Platte macht, finden all diese Einflüsse ihren Weg in die Musik, die man spielt. Und so übertrage ich meine musikalischen Erfahrungen und mein musikalisches Erbe und übersetze sie in meinen eigenen musikalischen Ausdruck.
Unser Spiel hat sich aber auch mit Abel (Abel Boquera spielt auf dem Album die Hammond B3-Orgel, Anm.) weiterentwickelt. Mit diesem souljazzigen Groove, den er reingebracht hat. Der hat die Band zum Marschieren gebracht, zum Swingen, und hat dazu geführt, dass die Band noch mehr Live-Energie hat.
Spannend. In irgendeiner Kritik wurde genau das moniert. Die Musik ginge durch die souljazzigen Einflüsse zu weit weg vom Spiritual Jazz. Ich hab´ das genau andersrum empfunden: Dass – genau wie du es jetzt gesagt hast – Abels Spiel die Band streckenweise auf eine andere Ebene pusht. Wieso auch sollte etwas, das soulful ist, dem Spiritual Jazz zuwiderlaufen?
Muriel Grossmann: Mit Abel war es eine ganz natürliche Entwicklung. Er spielt normal Soul-Jazz, ist im traditionellen Hammond-Sound a la Jimmy Smith zuhause. Das bringt er und die Band freut sich darüber, hat dadurch plötzlich ein neues Bild gezeigt. Auf “Universal Code” habe ich noch alles auskomponiert, auf “Devotion” ließ ich der Band hingegen sehr viel Platz. Ich habe Themen und Grooves vorgegeben, sie dann aber machen lassen. Das hat einfach mehr Sinn gemacht.
Was bedeutet der vielbemühte Begriff “Spiritual Jazz” eigentlich für dich?
Muriel Grossmann: Spiritual Jazz ist meiner Meinung nach das am wenigsten einschränkende Genre, es beinhaltet alle möglichen musikalischen Stile und Elemente. Es hat sich aus dem Hard Bop, dem modalen Jazz und dem Free Jazz entwickelt, aber es hat auch Elemente aus der Weltmusik, der afrikanischen Musik, der indischen Musik und Elemente aus anderen populären Genres wie Soul, Funk, Pop usw. integriert. Es ist also ein Musikgenre, in dem ich experimentieren und meinen persönlichen Sound und meine Ideen entwickeln kann, wenn ich die Soli spiele, und in dem ich Themen und Texturen komponieren kann, die auf Ideen aus der Musik basieren, die mir wirklich gefällt. Ich kann wirklich sehr ins Detail gehen und mit verschiedenen Elementen, Traditionen und Klängen experimentieren, indem ich mich zum Beispiel nur auf afrikanische Musik konzentriere…
Muriel Grossmann: Spiritual Jazz ist meiner Meinung nach das am wenigsten einschränkende Genre, es beinhaltet alle möglichen musikalischen Stile und Elemente. Es hat sich aus dem Hard Bop, dem modalen Jazz und dem Free Jazz entwickelt, aber es hat auch Elemente aus der Weltmusik, der afrikanischen Musik, der indischen Musik und Elemente aus anderen populären Genres wie Soul, Funk, Pop usw. integriert. Es ist also ein Musikgenre, in dem ich experimentieren und meinen persönlichen Sound und meine Ideen entwickeln kann, wenn ich die Soli spiele, und in dem ich Themen und Texturen komponieren kann, die auf Ideen aus der Musik basieren, die mir wirklich gefällt. Ich kann wirklich sehr ins Detail gehen und mit verschiedenen Elementen, Traditionen und Klängen experimentieren, indem ich mich zum Beispiel nur auf afrikanische Musik konzentriere…
In einer Kritik las ich, das Album klinge nach deiner Version von Coltrane durch die Augen von Jerry Garcia. Kannst du damit etwas anfangen?
Muriel Grossmann: Ich bin sehr glücklich, positiv überrascht, und ich liebe es zu hören und zu lesen, wie andere Leute meine Musik wahrnehmen, und manchmal bin ich so überrascht, die Verbindungen kennenzulernen, die andere hören, und manchmal macht es mir auch einen neuen Blickwinkel klar. Meine Fans haben eine große Vorstellungskraft und sie hören sich die Musik sehr genau an und finden alle möglichen Verbindungen. Das ist toll, und ich freue mich immer, wenn ich eine interessante Verbindung entdecke. Ich persönlich liebe Jerry Garcia und Grateful Dead, das ist großartige Musik. Und Jerry war ein großer Fan von John. Und ich bin sicher, wenn John die Gelegenheit gehabt hätte, länger zu leben, wäre er ein Fan von Grateful Dead gewesen.
Was mir bei deinem letzten Konzert in Wien aufgefallen ist: Du hast, obwohl schon lange weg aus Wien, immer noch eine riesige und treue Fan-Base. Wie kommt´s?
Muriel Grossmann: Ja, das war letztes Mal voll. Ich bin froh, dass so viele kommen. Es macht schon was aus, wenn der Dietmar Petschl im Fernsehen mein Konzert ankündigt. Da kommen dann auch Leute, die ich sonst vielleicht nicht erreichen würde. Wenn am Kulturmontag ein Beitrag kommt, erinnern sie sich und kommen. Aber ich hab´ natürlich auch noch viele Freunde und Familie hier. Ich hoffe es wird dieses Mal wieder voll.
Vielen Dank für das Gespräch.
Markus Deisenberger
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Muriel Grossmann ‘Devotion’ live: 15.02.24 20:30 im Porgy & Bess, Wien
Muriel Grossmann: Tenor, Soprano Saxophone
Radomir Milojkovic: Guitar
Abel Boquera: Hammond Organ
Uros Stamenkovic: Drums
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