„Wir müssen auch ‚unbequeme‘ Musik spielen.” – CHRISTOPH BECHER (Intendant des RSO Wien) im mica-Interview

Bei der Saisonpräsentation des Programms 2016/17 des ORF RADIOSYMPHONIEORCHESTERS WIEN im Radiokulturhaus-Café stellten Radiodirektor Karl Amon, Chefdirigent Cornelius Meister und Intendant Christoph Becher die Schwerpunkte in der zukünftigen Arbeit des Orchesters vor. Im Anschluss an die Pressekonferenz konnte Heinz Rögl mit CHRISTOPH BECHER, der die Funktion des Orchesterintendanten seit der vergangenen Saison bekleidet, ein kurzes Gespräch führen;  kurz, weil Becher bereits auf dem Sprung der Vorbereitung der großen RSO- Tournee nach Deutschland und in die Niederlande war, die am 25.4. in Regensburg begonnen hat. 

Christoph Becher ist in Wien kein Unbekannter. Er wurde 1963 im nordhessischen Fürstenhagen geboren und studierte in Gießen Musikwissenschaft, Politikwissenschaft und Spanisch. Als Musikkritiker lernte er während seiner Studienzeit zeitgenössische Musik kennen und absolvierte auch selbst Auftritte als Pianist, Jazz- und Rockmusiker sowie in Ensembles für Neue Musik. Ab 1990 war er als Dramaturg am Wiener Konzerthaus tätig. Im Zuge dieser Aufgabe organisierte er unter Anderem das Festival zeitgenössischer Musik „Hörgänge“ und programmierte in den Jahren 1997 und 1998 das Festival „Wien modern“. 1999 erschien seine Dissertation „Die Variantentechnik am Beispiel Alexander Zemlinskys“ (Wien, Böhlau). Danach wechselte er als leitender Dramaturg an die Hamburgische Staatsoper und arbeitete eng mit Ingo Metzmacher zusammen. Mit September 2012 verließ Becher seine Position als persönlicher Referent des Elbphilharmonie-Generalintendanten Christoph Lieben-Seutter und wechselte nach Heilbronn als geschäftsführender Intendant des Württembergischen Kammerorchesters. Seine Berufung als Manager des RSO Wien erfolgte im Februar 2015 als Nachfolger von Christian Scheib. Bereits im vergangenen April stellte er als neuer Intendant das Saisonprogramm des ORF-Orchesters vor. Nach dieser ersten Saison konnte er nun die zukünftigen Schwerpunkte vorstellen.

Nachdem Karl Amon die Konzertschwerpunkte der nächsten Zukunft und der kommenden Saison vorgestellt hatte, der in Sachen Ur- und Erstaufführungen die Namen John Adams, Thomas Adès, Friedrich Cerha, Brett Dean, Zeynep Gedizlioğlu, Georg Friedrich Haas, Christian Kolonovits, Magnus Lindberg, George Lentz, Jorge E. Lopez, Krzysztof Penderecki, Matthias Pintscher, Gerald Resch, Jakub Sarwas, Anno Schreier oder Vito Žuraj enthält, berichtete Becher über die kommenden Musiktheater-Aufführungen.

Neue Musiktheaterproduktionen

Bereits im Juli (Premiere 2.7.) kommt im Theater an der Wien eine neue Oper von Christian Kolonovits heraus: „El Juez“ handelt über ein dunkles Kapitel der spanischen Geschichte, in dem das Franco-Regime „nicht regimetreuen“ Eltern ihre Kinder zur „Umerziehung“ wegnahm. Dann geht es zu den Salzburger Festspielen, wo das Orchester die Uraufführungspremiere von Thomas Adés spielt, die der englische Komponist auch selbst dirigiert. „The Exterminating Angel“ basiert auf dem Drehbuch von Luis Buñuel zu dessen Film „El ángel extermidador“ („Der Würgeengel“). Und bereits am 14.9. steht die Premiere einer weiteren neuen Oper im Theater an der Wien auf dem Programm. Von dem 1979 geborenen deutschen Komponisten Anno Schreier wird – nach Motiven von William Shakespeares gleichnamigen Drama – „Hamlet“ in der Regie von Christof Loy uraufgeführt.  Andrè Schuen singt und spielt die Hauptrolle, weitere Protagonisten sind Marlis Petersen, Bo Skovhus, Theresa Kronthaler und Kurt Streit, am Pult steht Michael Boder. Mit Bo Skovhus in der Titelrolle wird im März im Theater an der Wien „Peer Gynt“ von Werner Egk aufgeführt werden.

Erfreut zeigte sich Christoph Becher auch über die gemeinsam mit dem Klangforum Wien zu gestaltende  Eröffnung des Grazer Musikprotokoll im steirischen herbst (7.10.), bei der Werke von Vito Žuraj und Zeynep Gedizlioğlu in der Helmut List Halle zur Aufführung gelangen werden. Dem geht  Ende September ein Konzert beim Internationalen Festival für Orchester in Bukarest voran: Dort wird unter dem Chefdirigenten Cornelius Meister eine Auftragskomposition des ORF Radio Symphonieorchesters von Gerald Resch uraufgeführt („Inseln“), und kein Geringerer als Gidon Kremer wird der Solist im g-moll-Violinkonzert von Mieczysław Weinberg sein. Das Wien Modern Eröffnungskonzert 2016 bringt Uraufführungen eines neuen Posaunenkonzerts von Georg Friedrich Hass und der Symphonie Nr. 4  von Jorge Enrique López. Auch in den Abokonzerten in Konzerthaus und Musikverein werden Schwerpunkte auf Weinberg, zum anderen auch auf Pierre Boulez liegen.

Das Orchester wird in der nächsten Saison auch wieder eine Reihe neuer Ö1-Signations einspielen, die von Christian Muthspiel ausgerichtet werden. Die untenstehende erste Frage an den Intendanten wurde von Heinz Rögl schon bei der Präsentations-Pressekonferenz gestellt.

Bild Christoph Becher
Christoph Becher (c) Stefan Joham

Wie bereits bekanntgeben, wird Cornelius Meister noch bis zum Sommer 2018 Chefdirigent und künstlerischer Leiter des RSO Wien bleiben. Gibt es bereits Überlegungen, wer dessen Nachfolger wird?

Christoph Becher: Gemeinsam mit Cornelius Meister und dem Orchester gibt es natürlich erste Überlegungen. Derzeit sind wir dabei, eine Art „Longlist“ zu erstellen, die nach und nach „eingedampft“ werden wird. Eine Bekanntgabe seines Nachfolgers wird es aber erst geben, wenn es so weit ist. Ich möchte und kann darüber auch jetzt nicht mehr sagen. Allgemein sehe ich drei wichtige Anforderungen: Erstens Inspiration, er muss das Orchester und auch das Publikum inspirieren, zum zweiten muss er zum Profil des Orchester mit seinem Schwerpunkt auf der Musik der Gegenwart passen, und last but not least muss er mir ein strategischer Partner sein wollen.

Gibt es unter den heutigen Komponistinnen und Komponisten solche, die Sie besonders herausstellen und fördern wollen?

Christoph Becher: Ich bin sehr froh, dass wir bei Wien Modern zwei Uraufführungen von Georg Friedrich Haas und Jorge López haben.

López ist zum Teil nicht unumstritten, aber an sich ein guter Komponist …

Christoph Becher: … er ist nicht an sich, sondern er ist ein sehr guter Komponist. Seine Aufgabe besteht nicht darin, ein einfacher Mensch zu sein, sondern tolle und inspirierende Musik zu schreiben, und das gelingt ihm.

Er komponiert große Formen und für große Besetzungen, er verwendet auch Instrumente bis hin zu Wagnertuben … Sie haben geschrieben: „Inzwischen setzt sich López intensiv mit der musikalischen Tradition auseinander, sei es in Beethoven- und Skjrabin-Bearbeitungen, sei es im Rückgriff auf die klassischen Gattungen“.  

Christoph Becher: Die 4. Symphonie ist ein Auftragswerk des RSO Wien, des Orchestre Philharmonique du Luxembourg, der Philharmonie Luxembourg und des Festivals Wien Modern. Ein neues Werk von Jorge E. López ist immer ein Erlebnis. Wir müssen auch „unbequeme“ Musik spielen, Musik, die an unsere Urängste heranrührt, nicht nur der Konzertorganisatoren, sondern auch der Hörer. López lebt in seiner Musik wirklich dunkle Seiten aus, das finde ich enorm spannend. Er ist ein Zauberer, und er gerät leicht unter die Räder, wenn wir ihn nicht fördern.

„Ich freue mich, dass wir Cerha aufführen, aber wir müssen ihn nicht „fördern“.“

Er wurde eine Zeit lang nicht mehr verlegt.

Christoph Becher: Eben. Was andere betrifft: Ich freue mich, dass wir Cerha aufführen, aber wir müssen ihn nicht „fördern“. Einer der Jüngeren, an denen mir sehr liegt, ist Bernhard Gander, auch wenn er im Programm dieser Saison nicht dabei ist. Gerald Resch interessiert mich auch sehr – und von ihm haben wir auch eine Uraufführung.

Sie haben sich von Alexander Zemlinsky aufwärts mit vielen Komponisten des 20. Jahrhunderts auseinander gesetzt. Aber wie sieht es mit der mittelfristigen Zukunft aus – überall spricht man von Genre-Ausweitungen, von Bestrebungen, mit Neuer Musik junge Leute zu erreichen, von der Überalterung des Publikums in den Konzersälen?

Christoph Becher: Die „Überalterung“ schreckt mich nicht. Ich kann sie auch nicht nachvollziehen. Ich glaube, dass das Publikum nicht signifikant älter ist als vor dreißig Jahren. Und da die Überalterung der Gesellschaft steigt, spielt uns das eher in die Hände. Ich verwirkliche gerne neue Formate wenn ich eine gute Idee habe oder wenn man mich dazu anstiftet. Ich glaube aber auch, dass das Format des Konzertes weiterleben und weiter Erfolg haben wird. Dieses alte Ritual ist noch lange nicht tot. Gerade in Wien kann man jeden Abend volle Konzerthäuser erleben. Ich glaube auch, dass junge Leute diese neunzigminütige Konzentration schätzen, weil sie insgeheim danach suchen. Auch wenn man ihnen das nicht ansieht, wenn sie ständig auf ihren mobilen Endgeräten herumwischen. Und die Genre-Ausweitung? Wir sind das am breitesten aufgestellte Orchester Wiens, wir spielen „Concertino“, „Klassische Verführung“, interaktive Projekte („my RSO probt“, Workshops usw.), „Christmas in Vienna“, wir spielen bei „Hollywood in Vienna“ Filmmusik und wir machen das gern.

Bezüglich Vergangenheit: Nach Musiktheater in Hamburg dann „Elbphilharmonie“ … Damit haben Sie ja schon länger nicht mehr zu tun?

Christoph Becher: [lacht]. Ich bin immer noch in Kontakt mit den Kollegen, bewundere das Durchhaltevermögen von Christoph Lieben sehr und wünsche ihm wirklich alles, alles Gute. Letzte Woche kam der Programmprospekt der Elbphilharmonie heraus, das Programm ist überwältigend gut.

Mit Matthias Naske ins Konzerthaus oder Bernhard Günther zu Wien Modern, und natürlich auch mit Ihnen sind ja einige gute Leute nach Wien zurückgekommen, die schon vor zwanzig, dreißig Jahren das Musikleben hier mitgestaltet haben. Wie ist Ihr Kontakt zu Wien Modern und Günther?

Christoph Becher: Wir telefonieren einmal die Woche miteinander, Bernhard hat ja seinen Lebensmittelpunkt noch nicht nach Wien verlegt. Das Eröffnungsprogramm für Wien Modern 2016 ist bereits ein Ergebnis unserer Gespräche. Ich freue mich riesig auf die Zusammenarbeit.

Gibt es auch mit Markus Hinterhäuser, der ja nach seiner Leitung der Wiener Festwochen wieder nach Salzburg geht, Pläne bezüglich der Zusammenarbeit mit dem ORF-Radio Sinfonieorchester?

Christoph Becher: Ich war vergangene Woche in Salzburg und habe mich sehr lange mit Markus Hinterhäuser und mit der Präsidentin Helga Rabl-Stadler unterhalten. Wir haben Pläne geschmiedet und einander mit Komponistennamen angesteckt. Da bin ich guter Dinge.

Vielen Dank für das Gespräch.

Heinz Rögl

Links:
ORF Radio-Symphonieorchester Wien