„Wir können nicht immer nur das Gleiche hören.“ – NADJA KAYALI im mica-Interview

Sie inszeniert ungewöhnliche Musikprojekte, moderiert Konzertabende und gestaltet unterschiedlichste Arten von Radiosendungen. NADJA KAYALI ist Weltenöffnerin und Vermittlerin zwischen den Kulturen, immer auf den Spuren von Musik, Literatur und Theater. Nun leitet sie für die kommenden drei Jahre das Festival IMAGO DEI in Krems.

Wie gewinnt man denn ein mehrstufiges Auswahlverfahren zur Festivalleitung für sich? Wie war Ihr Konzept?

Nadja Kayali: Die grundlegende Einstiegsvoraussetzung war neben dem Lebenslauf natürlich die Ausarbeitung eines Konzepts. Es gab mehrere Runden an Gesprächen mit der Geschäftsführung, der Personalberatung und ein großes Hearing. Ich bin es gewohnt, aufzutreten und konnte diesen Anforderungen recht gelassen begegnen. Meine Bemühungen um diese Stelle waren ernst und ehrlich, aber nicht verbissen. Eine andere hätte diese Stelle eben anders ausgefüllt.

War Ihre Idee, den Fokus des Festivals auf weibliche Wahrnehmung zu lenken?

Nadja Kayali: Ich habe zwar unmissverständlich erklärt, dass das einen wesentlichen Faktor für mich darstellt, hauptsächlich wollte ich dieses Festival allerdings mehr auf eine Eigenproduktionsschiene bringen. Daher habe ich mich im Moment dafür entschieden, mit einer Ausnahme nur in Österreich lebende Künstlerinnen und Künstler zu beauftragen und eigene mehr oder weniger große Projekte mit ihnen zu entwickeln. Das endet mit den Divinerinnen, die Wienerlieder aus Krems und Umgebung aufführen und wird eröffnet mit „Imago Deae“, das mir sehr wichtig war. Das Bildnis des Gottes, Imago Dei, wird zum Bildnis der Göttin. Rund fünfzig Musizierende und Singende weben ihre Lieder und Musikstücke zu einem großen Ganzen.  Ursprünglich war es ja ein reines Osterfestival, was aber bereits unter der Leitung des Gründers wesentlich weiterentwickelt und geöffnet worden war. Ich bin sehr dankbar dafür. So kann ich ein tolles Festival übernehmen und meine Vorstellungen verwirklichen, ohne zwanghaft erneuern oder mich abgrenzen zu müssen. Und Frauen sind da eben wichtig.

Divinerinnen (c) Theresa Pewal

Sowohl die Felder zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den Kulturen scheinen Ihnen der Teppich zu sein, auf dem sie stehen, von dem aus Ihre Arbeiten beginnen.

Nadja Kayali: Dieses Dazwischensein beschäftigt mich in meinem Leben natürlich sehr, weil ich auf keine Richtung fixiert bin und mich auch nicht gern fixiere. Die Zuschreibungen Musikwissenschaftlerin und Journalistin zu meiner Person auf Wikipedia sind schlichtweg falsch. Ich bin Generalistin im besten Sinne des Wortes, also auf nichts spezialisiert, aber interessiere mich für alles und kann mir Bereiche dann sehr schnell erarbeiten. Zum Beispiel gab es von mir kürzlich eine Sendung über den persischen Dichter Nizami, der mich unglaublich fasziniert. Dieses Dazwischensein prägt mein Leben und meine Wahrnehmung von Welt und Kunst. Gleichzeitig spüre ich, dass es da eine Resonanz in der Gesellschaft gibt, um den derzeitigen Polarisierungstendenzen etwas entgegenzuhalten. Wir können und müssen einfach viele Räume öffnen, die Dazwischenleben ermöglichen. Die Pole sind nur die Extrempositionen, aber eigentlich kein Aufenthaltsort.

Die Pole der Erde halten sie in der Form einer Kugel, sind also notwendig, aber keine Lebensorte. Die Felder dazwischen, entlang ihrer magnetischen Anziehungskräfte sind Aufenthaltsräume. Ist die Kunst ein möglicher Übermittler dieses Bildes?

Nadja Kayali: Sie wäre der richtige Ort dafür. Eigentlich sollte ja gerade die Kunst der weniger dogmatische Raum sein. Mal schauen, ob das im Laufe der Zeit gelingt. Wir sind im Augenblick in einem riesigen Transformationsprozess, einer echten Zeitenwende. So etwas verunsichert natürlich total, ermöglicht aber gleichzeitig, Neues zu definieren und Dinge neu zu positionieren – ein unglaublich spannender Moment. Alles wird in Frage gestellt, alles müssen wir neu verhandeln, auch unsere Vergangenheit. Wir verharren immer noch in den alten Stoffen, wo Männer die Helden und Frauen die Huren sind. Wir brauchen neue Bilder, Erzählungen und Ausdrucksformen. Es gibt da sicher schon einen Kanon, den man aber unbedingt erweitern muss. Wir können nicht immer nur das Gleiche hören.

Wie gehen Sie da vor? Wie schaffen Sie sich eine Bahn in so einem überbordend weiten Feld, wie kommen Sie zum Beispiel auch zu einem Programm für dieses Festival?

Nadja Kayali: Wenn ich irgendetwas sicher bin, dann eine Dramaturgin. Mich leitet mein dramaturgischer Blick, ich denke in Bögen.

„Ich bin total subjektiv und dazu stehe ich auch.

Das ist ein gestaltender Blick …

Nadja Kayali: … der mir eine große Sicherheit gibt, meiner Intuition zu den Dingen zu vertrauen. Genau dadurch gewähre ich einen künstlerischen Zugang, der sich deutlich von einer journalistischen oder wissenschaftlichen Herangehensweise unterscheidet. Ich bin total subjektiv und dazu stehe ich auch.

Möglicherweise bekommt dadurch auch etwas Ausdruck, was gerade in und an der Zeit ist.

Nadja Kayali: Wenn man sich öffnet, empfängt man dadurch natürlich auch die Zeitströmungen und kann sie besser reflektieren, was einer intellektuell-programmatischen Arbeitsweise viel schwerer möglich ist. Die notwendige intellektuelle Arbeit kommt erst in einem zweiten Durchgang zum Tragen. Vorher entsteht erst noch die Frage, welche Menschen zu den Themen passen, welche ich dafür vielleicht zusammenbringen kann. Oftmals sind auch Menschen und Begegnungen Initial für meine Programmentwicklungen.

Der Reiz einer Festivalleitung ist für Sie das Orchestrieren eines Programmes?

Nadja Kayali: Es ist die dramaturgische Arbeit, aber vielleicht noch viel wesentlicher: die Arbeit mit den Menschen. Das Radiomachen ist eine sehr einsame Arbeit. Ich sitze allein am Schreibtisch, schreibe die Sendung und teilweise mach ich auch die technische Umsetzung allein. Das ist nicht meine Lebensform. Ich bin kein lonely Wolf. Es war für mich nie eine Option, 100 Prozent beim Radio zu bleiben. Kompensieren konnte ich dieses Arbeiten mit meinen Moderationen und Konzerteinführungen, wo ich das Publikum wiedersehe.

Die „Morgenstund“, aber auch die Thematisierung des Mysteriums bei Skrjabin lassen Bezüge zum christlichen Osterfest vermuten …

Nadja Kayali: „Oster“ habe ich bewusst aus dem Titel des Festivals gestrichen, weil für mich der Frühling als Leitgedanke stand. Das Aufbrechen, Neuwerden, wieder Hoffnung schöpfen, einen neuen Zyklus beginnen bzw. den alten Zyklus wieder reaktivieren. Das Osterfest beschreibt im Grunde genauso Tod und Auferstehung. Aber die Perserinnen und Perser, Kurdinnen und Kurden und Menschen in Aserbaidschan feiern am 21. März „Nouruz“, das persische Neujahr. Da beginnt der neue Zyklus, nicht am 1. Jänner.

Wie kommt es dann zu dem Ritual der „Morgenstund“?

Nadja Kayali: Es wird sich noch ergeben, was wir da genau machen, alles ist noch im Werden. Denn je näher der Zeitpunkt rückt, desto deutlicher wird auch das Gefühl dazu. Unser Grundgedanke war: Musik – Text – Stille. In gleichen Portionen. Damit wollen wir arbeiten und jeden Morgen anders gestalten. Nur kleinere Formationen und kurze Stücke für einige wenige Frühaufsteherinnen und Frühaufsteher. Diese Dinge haben nichts mit Religion oder Ostern zu tun, sondern mit der Tatsache, dass wir Menschen alle dieser inneren Zentrierung bedürfen. Gerade in solchen Umbruchszeiten wie den unsrigen mit den sehr starken Veränderungen brauchen wir dieses innere Gleichgewicht so stark. Im nächsten Festivaljahr betone ich das dann noch mehr.

Sie machen auch eine Zeitreise durch die Jahrhunderte, durch die Musikgattungen, es gibt keinen musikalischen Fokus … Vielfalt in vielen Hinsichten, die auch für Ihre Person steht. Sie lassen Poesie der Musik begegnen, Schauspiel dem Tanz, sogar Puppenspiel kommt vor. Geht es hier wieder um das Dazwischen?

Nadja Kayali: Auch. Aber wenn ich meine wirkliche künstlerische Heimat benennen sollte, dann ist es das Theater. Natürlich muss ich sehr dosiert vorgehen, weil es Strukturen und Budgets zu beachten gilt. Daher sind beispielsweise die zwei Kompositionsaufträge privatfinanziert und sehr viele Kooperationen und Koproduktionen organisiert, das geht vom Carinthischen Sommer bis zum Literaturhaus Salzburg, der ÖNB oder dem Polnischen Kulturinstitut. Ich möchte drei Jahre lang einen Fokus auf vergessene, deportierte, teilweise ermordete, polnisch-jüdische Komponisten legen, Gesprächskonzerte moderieren und auf diese Musik spezialisierte Ensembles einladen und neue Zugänge durch verschiedene Kunstformen ermöglichen.  Ganz wichtig sind mir auch die privaten Menschen, die sich zur Neuen Musik verbinden und Kompositionsaufträge besser bezahlen als irgendein Budget vorsehen würde. Nur so konnte ich heuer gleich zwei Kompositionsaufträge dieser Größe vergeben. Für solche privaten Förderer gibt es nun den Verein der FreundInnen des Festivals Imago Dei. Ich habe das Weingut Türk in der Kremser Region gefunden, das einen Festivalwein, aber auch einen „JUZZZ“ aus Verjus, Holunderblüte und Melisse, quasi einen antialkoholischen Hugo, kreiert. Alles Dinge, auch die Sinnlichkeit des Lebens zu feiern, und gleichzeitig ein Zusammenkommen anlässlich der Kunst zu pflegen.

Sie sorgen nicht nur für die Erschaffung neuer Werke, sondern auch für eine längere Lebenszeit der Werke, was Aussicht bzw. Zuversicht stiftet.

Nadja Kayali: Das trifft einerseits auf die Uraufführungen zu, andererseits, im Falle von Tamara Friebels Auftrag, auf die Koproduktion mit dem Carinthischen Sommer, wo ihr Werk 2023 noch um einen zusätzlichen Auftrag erweitert wird. Ein Work in Progress, das in weiteren Stationen das Grundwerk ganz woanders hinführen könnte. Da bieten sich auch für Intendantinnen und Intendanten anderer Formate unzählige Möglichkeiten anzudocken. Beim Kompositionsauftrag für Wolfgang Suppan, den ich sehr schätze, gibt es den Hintergrund, dass ich Heinz Rebers „Walking in the limits“ unbedingt spielen wollte.

Tamara Friebel (c) Maria Frodl
Tamara Friebel (c) Maria Frodl

Wieso?

Nadja Kayali: Heinz Reber war ein absoluter Nonkonformist, ein Schweizer, der in Wien gelebt und zweimal mit dem Klangforum Wien gearbeitet hat: einmal mit seinem Stück „Superstrings“ und beim anderen Mal hat Christian Utz ein Konzert initiiert, bei dem auch die „Music for Sheng“ von Heinz Reber uraufgeführt wurde. Er war Buddhist, sehr spirituell und Gastprofessor an der heutigen MDW, während ich noch Musiktheaterregie dort studierte. Ich war seine Assistentin im Schubert-Jahr 1997 und habe mit ihm an einem Musiktheaterstück gearbeitet. Sein Zugang zur Musik und sein Umgang mit diesen Schubert-Fragmenten, die gleichzeitig an die berühmten Schubert-Bilder von Moritz von Schwind und Julius Schmid angedockt waren, haben mich sehr beeindruckt. Ich hatte da ja bereits mit Christoph Marthaler am Theater gearbeitet.

Aber warum ist es dann „Walking in the limits“ geworden?

Nadja Kayali: Das war seine jüngste Arbeit, ein Stringtrio mit Elektronik. Ich erinnere mich an unser letztes Treffen, als er in unseren Garten kam und mir die CD gab mit den Worten: „Das ist mein letztes Werk.“ Er war da schon in einer anderen Welt. Von diesem Stück ausgehend entwickelte Wolfgang Suppan im Auftrag von Imago Dei „Welten…auseinander“ für das gesamte Platypus Ensemble. Zugrunde liegen Galileo Galileis erste Mondbeobachtung und die Mondbeschreibungen des Apollo-8-Piloten Jim Lovell. In ihnen steckt eine Poesie, die einen weiteren Raum neben dem der Wissenschaft eröffnet. Die Denkvorgänge dieser beiden Welten hat Wolfgang Suppan in dieser Uraufführung in Klang übersetzt. Ein weiteres Stück von ihm beim Festival ist „Ulam“. Es wird zweimal gespielt, soll den Raum in der Längs- und in der Querachse durchmessen, um ihn musikalisch zu öffnen.

Die Architektur spielt auch eine Rolle in Ihrem Denken.

Nadja Kayali: Die Kirche in Krems ist ein fantastischer Raum, eine schon im 18. Jahrhundert säkularisierte Kirche, der auch etwas ungewöhnlich ist: Schaut man in Richtung Apsis, sind die Linien verschoben. Wenn die Dinge auf den zweiten Blick nicht ganz stimmen, wird es immer sehr interessant. Die Komponistin Tamara Friebel hat auch Architektur bei Zaha Hadid studiert. Ihr musikalischer Blick auf den Raum ist faszinierend.

Sie hat über Berechnungen der Proportionen des Kirchenraums Figuren entwickelt und diese ihrer Partitur zugrunde gelegt. Es ist ein abendfüllendes Werk für Chor, Flöte, Violoncello und Schlagwerk geworden und klanglich ideal an den Raum angepasst. Quasi die klingende Minoritenkirche.

Klangraum Krems Minoritenkirche (c) Helmut Lackinger
Klangraum Krems Minoritenkirche (c) Helmut Lackinger

Wie ist der Bezug zum Polnischen gekommen?

Nadja Kayali: Der Produzent und Verleger Frank Harders-Wuthenow hat mich auf diese Musik aufmerksam gemacht und ich wusste, dass sie unbedingt ins Repertoire gehört. Meine Wahl fiel auf Simon Laks, der Auschwitz nur durch Musik überlebt hat. Seine Erinnerungen hat er in seinem Buch „Musik in Auschwitz“ festgehalten, aus dem der Schauspieler Cornelius Obonya an diesem Abend lesen wird. Um auch literarisch auf sein Schaffen zu reagieren, habe ich den Schriftsteller Doron Rabinovici, den auch sein starker Zugang zur Musik auszeichnet, gebeten, einen Text dazu zu schreiben. Das ergibt die Möglichkeit, ein Festival im Festival zu gestalten mit Abenden im Polnischen Kulturinstitut in Wien, in Krems, im Literaturhaus Salzburg und der ehemaligen Synagoge St. Pölten.

Wird auf die Klangkunstschiene im Festival auch Bezug genommen?

Nadja Kayali: Nein, ich programmiere das Festival Imago Dei und nicht die Klangkunstschiene,  das wird teilweise falsch kommuniziert. Aber es wird eine Ausstellung der Berechnungen von Tamara Friebel zur Kirche geben, wie sie von deren Proportionen zu einer Partitur und einzelnen Figuren gekommen ist.

Auch Kulturtransfers lassen Sie mit regionalem Bezug stattfinden …

Nadja Kayali: Das Eröffnungskonzert „Imago Deae“ ist ein Work in Progress. Ich wollte die Lieder verschiedener in Österreich lebender Sängerinnen und Sänger verknüpfen und etwas Neues, Gemeinsames daraus machen. Dazu sollten unter anderem auch die Burgenlandkroatinnen und orientalische Sängerinnen miteinbezogen werden. Geleitet wird der Abend von zwei Musikerinnen unterschiedlichen Backgrounds und unterschiedlicher Generation: instrumental von Beate Wiesinger, die Musikerinnen aus dem Jazzbereich zu einem Ensemble verknüpft, und gesanglich von Nataša Mirković. Sie arbeitet mit den in Österreich beheimateten Frauenchören aus dem Balkanraum und den solistischen Sängerinnen Anna Anderluh, Basma Jabr, Golnar Shahyar und Sakina Teyna zusammen. Dieser Mix aus verschiedenen Musikerinnen, verschiedenen Gesangsstilen, verschiedenen Instrumentalstilen wird aber als durchkomponierter Abend aufgeführt. Es ist ein verschmelzendes Werk, das die große Kraft von Frauen abbildet, verbindend zu wirken.

Platypus Ensemble (c) Maria Frodl
Platypus Ensemble (c) Maria Frodl

Fiel Ihre Wahl zufällig auf Frauen, diese Projekte zu entwickeln? Suchten Sie eine bestimmte Qualität?

Nadja Kayali: Mir war die weibliche Energie so unglaublich wichtig. Ich liebe es, Frauen, die großartige Musik machen, auf der Bühne zu sehen. Das ist einfach ein super Gefühl. Die Botschaft vermittelt sich durch’s Tun!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock

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