„Wir hören die Orgel ja meist von der Ferne.“ – KARLHEINZ ESSL im mica-Interview

Die Arbeit des Komponisten und Elektronik-Performers KARLHEINZ ESSL ist zuweilen überraschend handwerklich, wenn er Tonbänder zerschneidet, um aleatorische Klangauswahl zu betreiben, oder wenn er seine Notenblätter selbst zeichnet, damit er meditativ vorbereitend die „Leinwand“ selbst grundiert. Gleichzeitig arbeitet und experimentiert er seit langem mit dem Einsatz von Computerprogrammen und erkundet deren Grenzen. So viel vorweg: Auch ChatGPT kann Anton Webern und Franz Kafka nicht zusammenführen. Überhaupt hat künstliche Intelligenz vom Komponieren keine Ahnung.

Der ganzheitliche Ansatz von KARLHEINZ ESSL führte ihn im Laufe seiner Karriere geradezu folgerichtig immer wieder zur Orgel. So auch bei seinem aktuellen Werk ORGANO/LOGICS (col legno): Orgeln sind atmende Wesen, denen mitunter die Luft ausgeht. Was Organist:innen sich nicht erlauben würden, erprobt KARLHEINZ ESSL, indem durch die halbgezogenen Register ein feinnuancierter Wind den Pfeifen unharmonische Zwischentöne entlockt. Frank Jödicke und Michael Franz Woels trafen den an der mdw unterrichtenden Komponisten im Future Art Lab zum Gespräch.

ORGANO/LOGICS steht in der Tradition des Aufgreifens und Weiterentwickelns früherer Werke. Eines der Stücke heißtWebernSpielWerk“. Im schmalen Werkkatalog von Anton Webern finden sich auch Bearbeitungen von Bach und Schubert. Webern selbst suchte in seinen Kompositionen eine Synthese zwischen Beethoven und Bach. Worin liegt für dich der Reiz und Sinn, traditionelle Werke neu zu bearbeiten?

Karlheinz Essl: Es ist der Versuch, Dinge aus der Vergangenheit lebendig zu machen und in die Gegenwart zu bringen. Ich nehme dazu auch eine Haltung ein und liefere eine Interpretation. Webern verfolgt mich schon seit langer Zeit, ich verdanke ihm auch, dass ich Komponist geworden bin. In meiner Jugendzeit war ich sehr beeindruckt von klassischer und kontrapunktischer Musik und habe die sogenannte „Neue Musik” total abgelehnt. 1983 habe ich anlässlich des 100. Geburtstags von Anton Webern seine „Orchesterstücke op. 6“ – aufgeführt vom London Symphony Orchester im Wiener Konzerthaus und dirigiert von Claudio Abbado – gehört. Diese sechs kurzen Orchesterstücke sind unglaublich farbig und sehr intensiv. Alles, was ich davor gemacht hatte, empfand ich nach diesem „Damaskus-Erlebnis“ als wertlos. Ich erkannte, dass ich mein ganzes kompositorisches Leben ändern und neu ausrichten müsste. Insofern ist Webern für mich ein enorm wichtiger Point of Departure. Er hat mich auch dazu gebracht, meine Dissertation in Musikwissenschaft, die ich ursprünglich über die Streichquartette der Wiener Schule machen wollte, über sein Spätwerk zu schreiben.

2005 wurde ich angefragt, zu seinem 60. Todestag – er ist bekanntlich 1945 in Mittersill von einem amerikanischen GI in vermeintlicher Notwehr erschossen worden – einen Beitrag für das Komponist:innen-forum Mittersill – Kofomi von Wolfgang Seierl zu liefern. Meine Idee war ein Glockenspiel, das Anton Webern gewidmet ist und das man alle fünfzehn Minuten in der ganzen Stadt hören soll. Man kennt diese sogenannten Carillons aus Holland und Belgien. In Österreich gibt es sie – mit ein paar wenigen Ausnahmen – leider sehr selten. Mein elektronisches Glockenspiel bestand aus einem Lautsprecher, den wir in das Dachgeschoss des Rathauses gestellt haben. Ein Dachfenster wurde aufgemacht und der Lautsprecher hat den Hauptplatz beschallt. Alle fünfzehn Minuten wurde mit Hilfe eines selbst geschriebenen Computerprogramms aus einer von Webern hinterlassenen Zwölfton-Reihe ein immer neues, kurzes Stückchen algorithmisch komponiert und abgespielt.

Du sprichst einen interessanten Punkt an: Die erste Generation der Zwölfton-Komponist:innen hat ja noch gedacht, dass eines Tages selbst die Gassenhauer oder die Glockenspiele auf Zwölfton-Musik basieren. Warum hat sich diese Musik nicht durchgesetzt?

Karlheinz Essl: Die Melodien wären zu schwer, um sie sich zu merken und sich in unserem Gehör zu verankern. Aber man muss sie ja nicht in der Gasse pfeifen. Die Idee, dass man nicht mehr der Hierarchie von Tonstufen und harmonischen Funktionen folgt, sondern Töne frei setzen kann, egal in welcher Konstellation – das finde ich einen äußerst interessanten Zugang. Dieses Konzept wurde ja übrigens gar nicht von Arnold Schönberg allein erfunden, sondern von drei oder vier Personen mehr oder weniger gleichzeitig. Auch der ukrainische Komponist Jef Golyscheff war darunter, oder auch Josef Matthias Hauer. Hauer und Schönberg kannten sich, aber von Golyscheff wussten sie nichts. Schönberg hatte eine völlig andere Methode als Hauer. Dieser formulierte sogenannte „Tropen” – melodischen Formulierungen, Pattern und Floskeln. Bei Schönberg ging es um eine Art von abstrakter, wenngleich melodisch gedachter musikalischer DNA, aus der er eine ganze Komposition entwickelt. Webern hatte einen völlig anderen, mehr strukturellen Zugang und war sehr am Klang orientiert; er hat – wie man auf alten Fotos sehen kann – am Klavier sitzend mit seinen Zwölftontabellen komponiert. Das würde man gar nicht vermuten.

Wolfgang Kogert und Karlheinz Essl
Wolfgang Kogert und Karlheinz Essl (c) Maria Frodl

… ALS OB DER ORGEL DIE LUFT AUSGEHEN WÜRDE.“

Auf dem kommenden Album „ORGANO/LOGICS“ gibt es den Bonustrack Orgue de Cologne“. Die ursprüngliche Komposition stammt noch aus den 1980er-Jahren?

Karlheinz Essl: Es ist mein erstes elektronische Stück. Ich habe damals bei Friedrich Cerha Komposition studiert und auch den Lehrgang für elektroakustische Musik, den Dieter Kaufmann geleitet hat, besucht. So hatte ich die Möglichkeit, mich in einem Studiokontext zu bewegen. Auch unterschiedlichste Künstler:innen aus anderen Lehrgängen haben diesen Kurs besucht, der allen Interessierten offenstand. Computer gab es aber zu dieser Zeit noch nicht. Alles wurde noch analog auf Tonband aufgenommen. Mich hat das Bandschneiden sehr begeistert. Für dieses Orgelstück bin ich in die evangelische Kirche nach Klosterneuburg gegangen: Dort befand sich eine neue Orgel mit mitteltöniger Stimmung. Mit einem Tonbandgerät habe ich dort einen Orgelcluster auf den schwarzen Tasten des Pedals aufgenommen, als Ausgangsmaterial für dieses Stück.

Dann habe ich ganz „klassisch“ mit einem Terzbandfilter gearbeitet, den man auch in den 1950er-Jahren in Köln beim WDR verwendet hat. Und die verschiedenen Ergebnisse wieder auf Tonband gespeichert. Diese Bänder habe ich dann in unterschiedliche Längen zerschnitten und in einen Hut gegeben. Meine Kolleg:innen habe ich gebeten, Tonbandschnipsel herauszuziehen. In der Reihenfolge, in der ich sie bekommen habe, wurden sie neu zusammengeklebt. Diesen Cut-up habe ich wieder zerschnitten, und den ganzen Prozess mehrmals wiederholt. Am Schluss hatte ich dann dieses Stück, das zwar durch Zufall entstanden ist, aber geklungen hat wie frühe serielle elektronische Musik des Kölner WDR-Studios aus den 1950er-Jahren. Daher der Titel „Orgue de Cologne“. Die Coda des Stückes ist ein sphärischer Orgelklang, nachdem ich den Motor der Orgel abgedreht hatte. Das klang so, als ob der Orgel die Luft ausgehen würde …

Die ursprüngliche Form dieser Komposition ist aber nicht auf der CD „ORGANO/LOGICS“?

Karlheinz Essl: Das Besondere an diesem Stück ist, dass diese Version erst während der Aufnahme-Sessions zum Album „ORGANO/LOGICS“ in der Wiener Hofburgkapelle entstanden ist. Nachdem wir alle zehn Stücke aufgenommen hatten, habe ich dem Organisten Wolfgang Kogert von diesem alten Stück erzählt. Es war allerdings in Mono und hätte vom Klang her nicht zu den anderen Stücken gepasst. Da kam mir die Idee, die Originalaufnahme des Stücks von einem Lautsprecher aus der Empore der Kirche abzuspielen. Den Lautsprecher habe ich während der Wiedergabe wie ein Tänzer bewegt und damit eine Art analoges Echtzeit-Panning performt. So konnte sich dieses alte Tonbandstück schließlich in den Sound der CD integrieren, da nun alle Stücke im gleichen Raum der Wiener Hofburgkapelle aufgenommen wurden.

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Springen wir nun zum Anfang des Albums, zum Stück mit dem Titel „vingt secondes. Lässt sich das Konzept in zwanzig Sekunden erklären?

Karlheinz Essl: 2020 gab es einen Open Call eines amerikanischen Musikers und Komponisten, ein zwanzig-sekündiges Stück für Melodika zu schreiben. Da zu diesem Zeitpunkt alle Konzerte abgesagt waren und ich plötzlich viel Zeit hatte, habe ich mir eine Konzertharmonika gekauft und damit experimentiert. So fand ich zu einem „atmenden” Orgelklang. Ich habe das Stück damals Wolfgang Kogert gezeigt, der meinte, dass das ja ein richtiges Orgelstück sei, das man mit auf dem Schwellwerk spielen könnte. Wir haben das dann in der Wiener Hofburgkapelle ausprobiert – es hat fantastisch geklungen! So ist aus der Melodika-Miniatur ein klitzekleines Orgelstück geworden. Darin kommen übrigens alle zwölf Töne vor!

DADURCH, DASS ICH KEIN ORGANIST BIN, KANN ICH MIR SACHEN ERLAUBEN, BEI DENEN JEDE:R ORGANIST:IN NUR DEN KOPF SCHÜTTELN WÜRDE.“

Die „Ausweitung des Orgelklanges“ ist auf dieser Platte zu spüren: Es gibt die Orgel als Objekt, und man experimentiert, welche zusätzlichen Klänge sich diesem Instrument noch entlocken lassen. Ich fand auch das Stück „unbestimmt“ sehr stark. Man hört quasi „einem Maschinenlebewesen beim Atmen zu.

Karlheinz Essl: Ich hatte das Glück, dass Wolfgang Kogert mich unglaublich befeuert und mir Inspirationen und Ideen gegeben hat, und wir auch sehr viel gemeinsam ausprobieren konnten. Als ich noch Tonsatz bei Alfred Uhl an der mdw studierte, hat mich die Orgel als Kontrapunktmaschine fasziniert. Ich war zu dieser Zeit sehr oft im Stephansdom und habe mir die legendären Orgelkonzerte von Peter Planyavsky angehört. Aber dann habe ich mit der Zeit das Interesse an der Orgel verloren: Das Repertoire war mir zu konservativ und die zeitgenössische Orgelmusik hatte oft einen sehr akademischen Touch. Sie wird ja zumeist von Organist:innen – und nicht von Komponist:innen – geschrieben, die in ihrer Praxis gefangen sind. Dadurch, dass ich kein Organist bin, kann ich mir Sachen erlauben, bei denen jede:r Organist:in nur den Kopf schütteln würde.

„Gradum ad organum …“ So eine Überschrift auf deiner Website zum Orgel-Projekt mit Wolfgang Kogert. Ein schrittweises Sich-dem-Instrument-Nähern. Du hast ja auch mit Studierenden Orgelmusik-Experimente durchgeführt. Was habt ihr da ausprobiert?

Karlheinz Essl: 2017 habe ich gemeinsam mit Wolfgang Kogert ein ganzes Jahr lang das Projekt „Orgel und Elektronik“ mit meinen Studierenden an der mdw veranstaltet. Die Orgel ist ein sehr altes Instrument, das schon in der Antike bekannt war. Die Anordnung der Pfeifen ist klug organisiert. Bei einer chromatischen Tonleiter wandern die Töne ständig hin und her, um die Räumlichkeit der Klänge auszubalancieren. Wir haben sehr viel ausprobiert, mit verschiedenen Arten der Klangerzeugung experimentiert und uns gefragt: Wie kann man den gewohnten Orgelklang „aushebeln“? Das geht am besten auf Orgeln mit mechanischer Traktur, bei denen man direkt mit den Registern und den Tasten in den Wind eingreifen kann. Auf den Tasten ist es zwar schwer, aber durch eine sehr feine Nuancierung des Tastenanschlags durchaus möglich. Bei den Registern geht es viel leichter. Wenn sie nur halb oder verlaufend gezogen werden, dann sprechen die Pfeifen mit unharmonischen Zwischentönen an, die sehr elektronisch klingen. Damit haben wir viel experimentiert. Aber auch mit der Aufnahme von Orgelklängen. Wie nahe kann man rangehen? Mit welchen Mikrofonen? Wir hören die Orgel ja meist von der Ferne und dann vermischen sich die Klänge im Raum.

War „HerrGott!“ die erste Auftragsarbeit für ein Orgelstück?

Karlheinz Essl: Ja, dieses Stück war das Resultat eines Auftrages für ein Orgelstück, den ich vom Wiener Domorganisten Konstantin Reymaier erhalten habe. Er war maßgeblich an einem langes Forschungsprojekt beteiligt, bei dem überlegt wurde, was man mit der nicht mehr spielfähigen „Riesenorgel” im Wiener Stephansdom anstellen sollte. Kann man sie noch retten? Diese Orgel, die 1955 nach der Bombardierung eingebaut wurde, war klanglich sehr unausgewogen und ist auch immer mehr verfallen. Zuletzt wurde dann nur mehr auf der Chor-Orgel gespielt.

Bei der Restaurierung wurde dann möglichst viel von der alten Orgel verwendet, und sie wurde auch durch neue Register ergänzt. Die Orgelbaufirma Rieger aus Vorarlberg hat die Orgel stark erweitert, unter anderem auch mit einem 64-Fuß-Subbass-Register, das Töne unter 20 Hertz erzeugt, die man zwar nicht mehr hören kann, sehr wohl aber als Vibration spürt. Die neue Riesenorgel hat nun einen digitalen Spieltisch mit fünf Manualen und Pedalen, den man verschieben und an ein Glasfaserkabel anschließen kann. Ein:e Organist:in kann nun auch mittig im Kirchenschiff, in der sogenannten Vierung sitzen. Dort hört man den gesamten Klang der Orgel, der aus allen Richtungen kommt, da die einzelnen „Werke” im ganzen Kirchenraum verteilt sind.

Für die Eröffnung dieser neuen Orgel wurde ich dann von Konstantin Reymaier beauftragt, eine Variation über das Heurigenlied „Herrgott aus Sta“ zu schreiben und ich habe mich nach anfänglichem Zögern gern dieser Aufgabe gestellt. Aber ich wollte kein „Zirkusstück“, das die Orgel und ihre unzähligen Effekte vorführt. Ganz im Gegenteil schwebte mir eine Musik der Demut und Stille vor.

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Auf eurer CD findet man auch eine Abbildung einer seltsam-phantastischen Orgel. Woher stammt diese Abbildung?

Karlheinz Essl: Diese Abbildung findet sich in der 1650 gedruckten „Musurgia universalis“ von Athanasius Kircher und zeigt eine hydraulische Orgel mit einer eigentümlichen Walze. Der Universalgelehrte und Jesuit hat diese Orgel in seinem Buch genauestens beschrieben. Ich habe das Glück, dass ich in Klosterneuburg lebe, wo es die größte Stiftsbibliothek der Welt gibt: 300.000 Bände vom 13. Jahrhundert bis heute – sowie einen halben Regalmeter Athanasius Kircher. So konnte ich mit seinem mehr als tausendseitigen Werk im Original arbeiten. Auf der Abbildung dieser hydraulischen Orgel steht übrigens: „Numero Deus impare gaudet“ Gott erfreut sich an ungeraden Zahlen. Für Athanasius Kircher ist die Voll-Zahl 10 die Summe der ersten vier Ziffern 1, 2, 3 und 4. Unabhängig davon habe ich auch immer wieder Stücke komponiert, die mit exakt diesen Proportionen arbeiten. Zum Beispiel in dem für die Salzburger Festspiele 1997 komponierten Ensemblestück „wird sichtbar am Horizont“ für präpariertes Klavier, zwei Schlagzeuger:innen, Bläsertrio und Streichquartett. Oder in meinem Schlagzeugstück „Proportional Circles 2314“ aus dem Jahre 1987.

HILF MIR KURZ WEITER, WELCHE TEXTE VON FRANZ KAFKA HAT ANTON WEBERN VERTONT?“

In deinen Werken hast du immer wieder mit Computern gearbeitet, um mit Hilfe von Algorithmen Ideen in Musik zu überführen. Mit der Fragestellung: „Welche nicht unmittelbar naheliegenden Prozesse und Möglichkeiten finde ich?“ Daher jetzt auch die aktuelle Frage: Hast du schon einmal Erfahrungen mit Künstlicher Intelligenz gemacht und wie schätzt du dieses Potenzial für dich ein?

Karlheinz Essl: Seit 2022 beschäftige ich mich mit diesem Thema. Ich kam zunächst durch Bildgeneratoren wie Midjourney damit in Berührung. Die Ergebnisse sind äußerst unterschiedlich: zwischen platt und beliebig und großartig. Im November letzten Jahres wurde ich auf ChatGPT aufmerksam und habe begonnen, mich mit dieser Maschine zu unterhalten und habe Fragen zu Anton Webern gestellt. Kamingespräche im Stil von: „Hilf mir kurz weiter, welche Texte von Frank Kafka hat Anton Webern vertont?“ Dann kamen die unglaublichsten Geschichten: Er habe „Das Schloss“ und „Der Prozess“ vertont – mit genauen Angaben von Opuszahlen und Besetzungen. Das ist natürlich alles völliger Schwachsinn, denn es gibt überhaupt keine Verbindungen zwischen Webern und Kafka. Die beiden haben sich nicht einmal gekannt. Trotzdem wurde mir das von dieser KI unglaublich glaubwürdig erzählt. Aber das Schlimmste für mich war, dass ChatGPT keine reflektierenden Nachfragen stellt, sondern nur wohlklingende Antwort am laufenden Band generiert.

Diese Antworten sind ein Von-Wort-zu-Wort-Gehen, beruhend auf Übergangs-Wahrscheinlichkeiten. ChatGPT kann auch nicht komponieren, es kann höchstens Töne aneinanderreihen. Der Informatiker, Aktionskünstler, Schriftsteller und Gemüseorchester-Musiker Jörg Piringer hat vor kurzem ein großartiges Buch im Ritter-Verlag veröffentlicht, das den Titel „günstige intelligenz“ trägt. Als Forscher hat er zwei Jahre mit einer frühen Version von GPT gearbeitet und damit gedichtet. Sein Lyrikbuch reflektiert auch die politischen, gesellschaftlichen und ethischen Probleme, die mit der Verwendung von KI einhergehen. Ich habe dann auch den Versuch unternommen, ein Liebesgedicht im Stil von Ingeborg Bachmann schreiben zu lassen. Sie selbst hätte wohl zehn Gedichte daraus gemacht!

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DER COMPUTER IST FÜR MICH WIE EIN SPIEGEL FÜR IDEEN.“

Verwendest du den Computer eigentlich auch, um dir gewisse Arbeitsschritte zu ersparen?

Karlheinz Essl: Das hat mich nie interessiert. Ich verwende den Computer schon sehr lange, und ich habe ihn auch schon verwendet, als ich ihn noch nicht zur Klangsynthese einsetzen konnte. Auf symbolischer Zeichenebene ließ ich mir von eigenen Programmen sogenannte „score lists“ generiert, die ich mit der Hand in musikalische Notation übertragen habe.

Der Computer ist für mich in erster Linie ein Spiegel meiner Vorstellungen, ein Tool zur Erweiterung meines Horizontes, eine Inspirationsmaschine. Die kompositorische Idee wird in Form eines Computerprogramms formuliert und ich lasse die Maschine diese Idee ausführen. Danach folgt ein langwieriger Prozess des manuellen Ausarbeitens. Bildlich gesprochen: Als Komponist grundiere ich meine Leinwände gerne selbst. Ich verwende keine Fertigprodukte aus dem Supermarkt!

Was könnte dieses Leinwand-Grundieren bedeuten? Ich mache mir zum Beispiel mein Notenpapier – mit Tusche und Lineal – selber, denn das gekaufte Notenpapier hatte nie die richtigen Abstände für mich. Für jedes Stück habe ich mir mein eigenes Notenpapier zurechtgemacht. Das ist für mich keine verlorene Zeit, sondern der erste Schritt zum Stück, eine Art Ritual. In meinem Schreibtisch gibt es Laden voller Notenpapier, das ich mit Lineal und Tusche gezeichnet habe. Erst seit wenigen Jahren verwende ich auch Notationssoftware, aber keines der handelsüblichen Programme, die mir zu stark vom Mainstream der Musikindustrie geprägt sind. Stattdessen arbeite ich mit einer Software, die der kanadische Komponist Keith A. Hamel seit 1993 entwickelt.

György Ligeti hat einmal behauptet, Musik lasse sich nicht besitzen. Man findet viele deiner Partituren als Download auf deiner Website.

Karlheinz Essl: Partituren sind für Fachleute. Deshalb bin ich der Meinung, dass man Partituren freigeben soll. Ich war viele Jahre bei einem deutschen Verlag unter Vertrag, habe mich aber vor einigen Jahren „ausgekauft“, damit ich freie Verfügungsgewalt über meine Werke habe. Denn wenn meine Stücke öffentlich gespielt werden, fallen ohnehin Tantiemen an. Aber auch meine YouTube– und SoundCloud-Channels sind sehr wichtig. Da kann man deutlich sehen, wie die Musik und der Sound aus der Spielaktion heraus entstehen, auch wenn es wie produziert klingt. Um gewisse Stücke spielen zu können, benötigt man allerdings spezielle Software, die ich verkaufe. Bei Student:innen mache ich aber eine Ausnahme. Auch wenn es sich dabei nur um kleine Beträge handelt, empfinde ich die Bezahlung der Nutzungsgebühr auch als eine Art von Wertschätzung.

Eine sehr stimmige Bild-Ton-Kombination fand ich in Form des Videos von Kurt Brazda, für das du die Tonspur après l’avant“ beigesteuert hast. Denkst du auch manchmal in Videoclips, wenn du deine Kompositionen konzipierst?

Karlheinz Essl:Ich möchte einen Film zu deiner Musik machen“, das war die Anfrage von Kurt Brazda. Und ich habe ihm mein Stück „après l’avant“ zur Verfügung gestellt, zu dem er einen Essayfilm geschnitten hat. Dieses Filmgenre lebt ja auch von der Montage.

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Deine sehr enzyklopädisch angelegte Website enthält eine Fülle von miteinander vernetzten Seiten. Man rätselt über die Bedeutungen deiner Stücke, selbst wenn man die Ideen oder Konzepte hinter deinen Kompositionen kennt. Bei Stücken wie „tenet opera rotas“ oder „Listen Thing geht es doch stark um dieses Dechiffrieren?

Karlheinz Essl: Ein ästhetisches Produkt zu gestalten, das offen und vielgestaltig ist und auch sinnlich anspricht – das finde ich spannend! Bei „Listen Thing“ kommt die Lösung des Rätsels erst am Schluss. Viele Zuhörer:innen lachen am Ende des Stücks, wenn sie die Melodie von „Stille Nacht“ erkannt haben, die davor in allen möglichen kanonischen Varianten aufgetreten ist.

Herzlichen Dank für das Interview!

Frank Jödicke, Michael Franz Woels

Termine:

In’s Offene!
Performance und Kunstgespräch mit Karlheinz Essl
Montag, 24. April 2023, 18:30 Uhr
Universität Wien
Sitzungssaal des Dekanats der Katholisch-Theologischen Fakultät
1010 Wien, Universitätsring 1, Stiege 8 (2. Stock)
Anmeldung…

Coastlines (2022)
sound performance with a non-linear audio system
Montag, 24. April 2023, 18:30 Uhr
Universität Wien
Sitzungssaal des Dekanats der Katholisch-Theologischen Fakultät
Performance im Rahmen des Kunstgesprächs In’s Offene!
Karlheinz Essl: analog synth, analog mixer

Kalimba (2005)
for toy piano and playback
Dienstag, 23. Mai 2023, 20:00 Uhr
Berlin, BKA Theater (D)
Unerhörte Musik
Dorrit Bauerecker: One Woman Band
Dorrit Bauerecker: toy piano

Coastlines (2022)
sound performance with a non-linear audio system
Freitag, 2. Juni 2023, 18:00
Salzburg-Wals, Atelier Astrid Rieder
trans-Art Performance
Karlheinz Essl: analog synth, analog mixer
Astrid Rieder: live painting

WebernSpielWerk (2005-2022)
version for organ
Montag, 5. Juni 2023
Alkmaar, Sint-Laurenskerk (NL)
Organ exam (Conservatorium van Amsterdam)
Nofre Morey Munar: organ

Weitere Termine

Links:
Karlheinz Essl: ORGANOLOGICS
col legno
Karlheinz Essl (music austria Musikdatenbank)
„ALLE STÜCKE SIND MIR GLEICH NAH.“ – WOLFGANG KOGERT IM MICA-INTERVIEW
Wolfgang Kogert (music austria Musikdatenbank)