„WIR FINDEN KRIEG NUR HOFFNUNGSLOS UND TROSTLOS“ – MARTIN PHILADELPHY UND THOMAS NYX IM MICA-INTERVIEW

Wenn die Zählung stimmt, handelt es sich bei „Woina“ um das zweiundvierzigste Album, an dem der Gitarrist und Komponist MARTIN PHILADELPHY beteiligt ist: Basis dafür ist das titelgebende Gedicht „Woina“ von THOMAS NYX, das den Ukraine-Krieg thematisiert. Jürgen Plank hat mit den beiden über ihre Zusammenarbeit genauso gesprochen wie über die Frage, ob Kunst und Kultur die Welt verändern können. Der Albumtitel „Woina“ ist übrigens das russische Wort für Krieg. Am 8. September 2023 wird das Werk im RadioCafe in Wien präsentiert.

Was gab den Anstoß zum neuen Album, das sich mit dem Thema Krieg befasst?

Thomas Nyx: Im Zuge des Krieges in der Ukraine gab es eine Situation, in der eine Panzerabwehrrakete einen russischen Panzer zerstört hat. Daraufhin sind die ukrainischen Soldaten in einen Jubel ausgebrochen, der mich an den Jubel bei einem Fußballspiel erinnert hat. Das hat mich sehr berührt, weil ich nicht wusste, wie ich selbst in dieser Situation reagieren würde. Es war klar: es sterben in diesem Panzer Menschen. Dieser Moment hat bei mir verschiedene Bilder ausgelöst, die ich in einem Gedicht zusammengefasst habe. Martin hat das Gedicht wiederum in Musik umgelegt.

Was sprichst du in deinem Gedicht an?

Thomas Nyx: Es beginnt mit einem surrealistischen Bild: Vier Schwäne über Mariupol. Das Schwarze Meer wirkt in der Nacht friedlich. In der Ferne werden Raketen auf Mariupol abgeschossen, die wie Schwäne aussehen. Das surrealistische Bild des Schwans geht in das reale Bild der Raketen über, die die Stadt zerstören. Das passiert bei mehreren Bildern in diesem Gedicht. Damit wird der Krieg noch absurder, gleichzeitig ist er brutal, weil er Sterben und Tod bedeutet.

Martin, du hast das Gedicht „Woina“ in die Hände bekommen, wie ging es dann weiter?

Martin Philadelphy: Ich fand es stark und habe viele Bilder im Kopf bekommen, die ich mir sofort in der Vertonung vorstellen konnte. Um zu sagen, was das Album ist: wir beide stehen auf keiner Seite. Wir finden Krieg nur hoffnungslos und trostlos. Als Kinder hat man zu uns gesagt: der Klügere gibt nach. Es sollte immer eine Möglichkeit zum Frieden geben, denke ich.

„Ein Dreiviertel-Jahr lang habe ich die Stücke ausgearbeitet, das war intensiv“

Wie war es für dich, die Bilder aus Thomas’ Gedicht zu vertonen?

Martin Philadelphy: Die Herausforderung der Vertonung von Bildern hat mich gereizt, auch in Richtung Filmmusik gedacht, dafür habe ich ein Talent. Ich habe zuerst zu jedem Track eine Rohfassung gemacht. Wir haben uns immer wieder besprochen und Thomas hat dann Anregungen gegeben, etwa: es wäre cool, wenn noch eine slawische Trauer-Ballade vorkommen würde. Wir haben uns immer in Bezug auf Ideen und historische Informationen besprochen, darin ist Thomas extrem gut. Ein Dreiviertel-Jahr lang habe ich die Stücke ausgearbeitet, das war intensiv. Und jetzt freue ich mich auf die Umsetzung auf der Bühne.

Thomas Nyx: Wir haben ja schon zwei CDs miteinander gemacht und bei den früheren Zusammenarbeiten hat Martin manche Bilder besser verstanden als ich selbst. Er hat Aspekte erkannt, die mir gar nicht so bewusst waren. In diesem Zusammenhang hat er wirklich ein großes Talent.

Bild Martin Philadelphy
Martin Philadelphy (c) Rania Moslam

Abseits von der Ukraine passieren leider beständig Kriege auf dieser Welt. Ist Krieg für euch allgemein ein Thema bzw. warum habt ihr euch auf die Ukraine bezogen?

Thomas Nyx: Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg. Er war relativ alt, er wurde im Jahr 1922 geboren und hat tatsächlich genau in diesen heutigen Kriegs-Regionen gekämpft. Auch in der Nähe von Kiew. Ich habe ein paar Schwarz-Weiß-Fotos meines Vaters gesehen: Rein optisch schauen diese Dörfer heute genauso aus wie damals. Sehr ärmlich, da hat sich nicht viel verändert. Und ich habe mir gedacht: Die Gewalt hat sich auch nicht geändert, die ist durch die moderne Kriegstechnik eigentlich noch schlimmer geworden. Dieser Krieg findet in Europa statt und ist uns deswegen näher, da sind wir wahrscheinlich alle leider eurozentristisch.

Angesichts eures Themas stellt sich natürlich die Frage: ist es eurer Meinung nach möglich, mit Kunst und Kultur die Welt zu verändern oder geht es mehr darum, etwas aufzuzeigen?

Martin Philadelphy: Eher um das Aufzeigen. Schon bei der Corona-Krise hat man kurz optimistische Gedanken gehabt, dass sich etwas ändern kann. Aber ich habe gewusst, dass sich nicht viel ändern wird, als die Erstengesagt haben: Ich bin froh, wenn es wieder wie früher wird. Insofern bin ich eher pessimistisch, wirklich etwas verändern zu können. Man kann im Kleinen und für sich etwas ändern. Als das Erdbeben in der Türkei war, habe ich gedacht, dass jetzt zumindest für 3 Tage eine Waffenruhe gemacht wird und die Kämpfe aufhören.

„Ich habe die Produktion so angelegt, dass ich die Stücke auf der Bühne auch präsentieren kann“

Damit zur musikalischen Umsetzung: Du hast das Album selbst produziert, wie war dieser Prozess?

Martin Philadelphy: Ich habe die Vorteile des Studios genutzt und nicht alles live eingespielt. Und: ich habe die Produktion so angelegt, dass ich die Stücke auf der Bühne auch präsentieren kann. Live wird es zwar ein bisschen anders, aber es wird keine Spannung verloren gehen.
Beim Stück „Das Kainsmal“ kam von Thomas die Anregung, das Klavierspiel von Putin in China einzubauen. Ich spiele da auch eine Tschaikovsky-Melodie an und gehe in eine andere Melodie über. Das ist alles durchdacht und gesetzt. Auch beim Stück „Eine sibirische Mutter“ überrascht der Schuss jedes Mal, wenn man ihn hört.

Zwei der Stücke tragen die Titel „Krieg ist und alle gehen hin“ bzw. „Krieg ist und keiner geht hin“, diese Titel gehen auf den Lyriker Carl Sandberg zurück.

Thomas Nyx: Diese Titel bieten sich an, weil fast jeder diese Zitate zum Krieg kennt.

Martin Philadelphy: An „Krieg ist und keiner geht hin“ habe ich lange geknobelt, bis mir ein passender Zwischenteil eingefallen ist. Das ist eine country-mäßige, schöne Nummer und ich habe mir gedacht, dass das nicht so bleiben kann. Ich würde es so beschreiben: der Zwischenteil steht für das Unerwartete, das passieren muss. Damit war ich dann happy, weil der Zwischenteil vom ersten Teil wegführt, sonst hätte die Nummer für mich nicht funktioniert.

Bild Martin Philadelphy
Martin Philadelphy (c) Peter Gannushkin

„Die Musik soll alle ansprechen und sagen, dass Krieg schlecht ist“

Wird die Musik des Albums „Woina“ auch in der Ukraine zu hören sein?

Martin Philadelphy: Es gibt Kontakte in die Ukraine, über die russische Zeitschrift dekoder, die ihren Sitz in Deutschland hat. Die Musik soll alle ansprechen und sagen, dass Krieg schlecht ist. Ich glaube, dass man das Album in Russland und in der Ukraine präsentieren könnte.

Welche Reaktionen hat es auf das Album bereits gegeben?

Martin Philadelphy: Viele und gute Reaktionen. Es hätte sich ein Plattenlabel in New York dafür interessiert, das machen wir vielleicht im Frühjahr 2024. Die Reaktionen lauten meistens: cool, stark, heftig. Ein Journalist, der darüberschreiben wird, möchte die Platte für den Deutschen Schallplattenpreis vorschlagen.

Wenn ich richtig gezählt habe, ist „Woina“ dein zweiundvierzigstes Album. Wie schaffst du einen so großen Output?

Martin Philadelphy: Wenn ich die Kohle hätte, hätte ich noch mehr Output. Ich arbeite nun doch schon seit einigen Jahre an meiner Musik und trotzdem ist mir der Output manchmal zu wenig. Ich habe so viele Ideen, die immer mehr umsetzungswürdig sind. Ich vertone gerne Gedichte, ich spiele gerne Songs und in einem Jahr 45 Minuten Musik zu machen und zu veröffentlichen, ist nicht wirklich viel. Früher habe ich 2 Alben pro Jahr gemacht, eines im Frühjahr und eines im Herbst. Im Jahr 2010 waren es 4 Alben, da habe gespürt, dass mein Sohn auf die Welt kommt.
Extraplatte hat mir damals gesagt, dass ich mir meinen eigenen Markt kaputt mache, wenn ich so viel produziere. Aber für mich war es so: immer, wenn ich eine Platte produziere, verkaufe ich sofort 150 Stück und das rettet mich wieder. Wenn du aber ein Repertoire hast, das weltweit 40.000 Stück verkauft, dann kannst du dich vollkommen auf die Musik konzentrieren.

Bist du aktuell schon am nächsten Projekt dran?

Martin Philadelphy: Bei Retrograde machen wir gerade ein drittes Album. Da machen wir eine Songwriter-Geschichte, mehr mit akustischen Gitarren. Speziell „Woina“ und Retrograde sind gerade meine Hauptprojekte.

Herzlichen Dank für das Interview.

Jürgen Plank

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Live:
Fr 8.9.2023: Album-Präsentation, RadioCafe, Argentinierstr. 30a, 1040 Wien, 19h

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Links:
Martin Philadelphy
Martin Philadelphy – “Woina” (Vimeo)
Das Radiokulturhaus über Martin Philadelphy und “Woina“