„Wir benutzen unsere Phantasie. Es ist ein Stil, ein Sound.” – CARLES MUÑOZ und HÅVARD ENSTAD (LOFOTEN CELLO DUO) im mica-Interview

Zwei Cellisten, die gemeinsam Folk spielen? Klingt erst mal ungewöhnlich, fühlt und hört sich aber im Falle des LOFOTEN CELLO DUOS ganz natürlich an. Ihr Repertoire basiert auf Ethno aus der ganzen Welt, von historisch bis zeitgenössisch. Mit Markus Deisenberger sprachen CARLES MUÑOZ und HÅVARD ENSTAD über das Stockholm Syndrom in einem Duo und Fernweh-Folk.

Wenn es einem als Musikjournalisten schwerfällt, eine Musik zu beschreiben, sie in eine Schublade zu stecken, ist das oft ein gutes Zeichen. Wie würdet ihr eure Musik beschreiben?

Håvard Enstad: In einem Wort würde ich sagen: Zeitgenössischer Folk.

Komm schon, das ist jetzt zu einfach. Ihr lasst mich schlecht aussehen.

Muñoz Camarero: [lacht] Wir haben angefangen, indem wir uns von hundert Jahre alter oder noch älterer Musik inspirieren ließen und sie zu etwas Eigenem machten. Deshalb passt die Bezeichnung “zeitgenössischer Folk” ganz gut. In der Zwischenzeit komponieren wir auch eigene Musik in diesem Stil. Wir wurden von der Musik beeinflusst, die wir in den letzten Jahren hörten und spielten.

Wie kann man sich den Prozess des Suchens und Findens der passenden Musik vorstellen? Ihr recherchiert, sucht nach alter Folk-Musik, die eurem Stil entspricht und adaptiert sie dann für eure Zwecke, denn Musik, die für zwei Celli komponiert wurde, wird es kaum geben, nehme ich an, oder?

Muñoz Camarero: Genau. Keine der Musiken, die wir spielen, wurde für zwei Celli arrangiert.

„Wir versuchen, die Möglichkeiten des klassischen Cello-Konzepts zu erweitern.“

Wie also würdet ihr die typische Vorgehensweise beschreiben? Wie findet ihr das, was euch gefällt? Indem ihr im Internet surft und euch von Algorithmen Dinge vorschlagen lässt?

Håvard Enstad: Manche Sachen lernen wir von Musiker:innen, die wir auf der ganzen Welt treffen. Musiker:innen, von denen Stücke stammen, die uns gefallen. Aber ich entdecke auch eine ganze Menge neuer Musik, indem ich mir Dinge auf Spotify anhöre und mir dann – wie du angedeutet hast – Ähnliches vorschlagen lasse.

Muñoz Camarero: Für diese Zwecke ist Spotify ganz gut geeignet.

Håvard Enstad: Und wenn wir etwas finden, was uns gefällt, ist es uns ziemlich egal, woher es kommt. Es geht dann ganz einfach: „Okay, wir wollen das machen!” Und dann machen wir daraus unsere eigene Interpretation, die unserem Sound und unseren Fähigkeiten entspricht.

Dieses Video auf YouTube ansehen.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.

Muñoz Camarero: Wenn du unser neues Album mit den ersten beiden vergleichst, fällt auf, dass wir neue Techniken einsetzen und neue Instrumente wie etwa die Nyckelharpa [deutsch auch Schlüssel-Harfe oder Schlüsselfiedel, Anm.] verwenden. Ebenso setzen wir viel Stimme ein, kombinieren Cello mit Stimme. Wir versuchen, die Möglichkeiten des klassischen Cello-Konzepts zu erweitern. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb es dir schwerfällt, unsere Musik in eine Genre-Schubladen zu stecken. Ist es Klassik? Ist es Folk? Ist es Jazz, weil wir unser nächstes Konzert auf einem Event namens Kick-Jazz spielen? Aber sind wir wirklich Jazz? Ich glaube nicht, aber ich bin sehr froh, dass die Festival-Veranstalter so offen sind.

In Anbetracht des Umstandes, wie viele Pop-Bands heutzutage auf Jazz-Festivals spielen, ist es doch nur fair, wenn ein Folk-Duo auch mal eine Chance bekommt, oder etwa nicht?

Muñoz Camarero: Ja, aber das Publikum könnte es verwirren.

Euer neues Album ist sehr abwechslungsreich, es vereint unterschiedliche Genres, von westlich bis östlich, von nördlich-skandinavisch bis südlich-katalanisch. Manchmal wähnt man sich am Anfang eines Stückes im nördlichen Folk, um sich gegen Ende in einem völlig anderen Genre, an einem anderen Ort wiederzufinden, ohne dass man den Wechsel bemerkt hätte. Man kann nicht sagen, woher genau die Musik kommt, weil die Stile so gut zusammengemischt wurden. Aber gibt es so etwas wie ein übergeordnetes Konzept, wenn ihr beschließt, ein neues Album zu machen? Gibt es einen roten Faden?

Håvard Enstad: Ich würde es nicht “Konzept” nennen. Wir benutzen unsere Phantasie. Es ist ein Stil, ein Sound. Wir machen das meiste gemeinsam und dann haben wir auch diese Synergie. Die Einheit der Songs ergibt sich dadurch, dass wir an allen Songs auf dieselbe Art arbeiten. Das ist der rote Faden.

Lasst uns über den Gründungs-Mythos eures Duos sprechen: Euren ersten Auftritt hattet ihr in einer Art Nouveau-Wohnung in Barcelona, hab´ ich gelesen. Bei Vermouth und selbst gebrautem Bier habt ihr musikalisch zueinandergefunden und beschlossen, die gelungene Fusion aus skandinavischer und katalanischer Folk-Musik weiterzuverfolgen. War es so? Oder wie war es?

Muñoz Camarero: Das war “life-changing”. Der Typ mit dem Appartement ist ein sehr guter Freund von Håvard. Er hatte ihn gefragt, ob er nicht auf seiner Geburtstagsparty spielen wolle. Håvard – eigentlich ein Pianist, ein sehr guter – fühlte sich damals nicht sicher genug auf dem Cello, um in so einer engen und intimen Atmosphäre solo zu spielen, also fragte er mich, da wir uns ein paar Monate vorher auf der Uni über den Weg gelaufen waren. Er sagte: „Machen wir doch einen Deal! Ich zeige dir ein paar skandinavische Nummern und lass uns schauen, wo das hinführt.” Und es lief super. Er brachte mir ein paar Nummern bei, die er auf den von ihm besuchten Ethno-Festivals gelernt hatte. Der Auftritt wurde ein voller Erfolg und wir beschlossen weiterzumachen. Fast zehn Jahre später spielen wir immer noch gemeinsam und bringen unser drittes Album heraus.

Bild Lofoten Cello Duo
Lofoten Cello Duo (c) Julia Wesely

Ich habe gelesen, Du, Carlos, seist dabei das Opfer von Håvard geworden. War das tatsächlich so bzw. wie ist das gemeint?

Muñoz Camarero: Das war ironisch gemeint. Vielleicht war es ein bisschen ein Stockholm Syndrom, weil ich von ihm regelrecht “gefangengenommen” wurde.

Lasst uns über eure individuellen musikalischen Hintergründe sprechen. Wo kommt ihr beide musikalisch her, wie seid ihr sozialisiert?

Håvard Enstad: Ich habe in Oslo klassisches Klavier studiert und bin dann während meines letzten Studienjahres, das ich in Barcelona verbrachte, dort hängengeblieben. Mit dem Cello habe ich erst mit 16 angefangen, weil es mich wahnsinnig fasziniert hat. Wo ich herkomme, hat buchstäblich niemand Cello gespielt. Ich hatte in meinem ganzen Leben kein Cello zu Gesicht bekommen. Als ich dann nach Oslo kam, um dort ans Gymnasium zu gehen, hab´ ich mir eines ausgeborgt und zu spielen begonnen. Damals gab es für mich nur klassische Musik, ich war ein richtiger Nerd und habe mich nicht für andere Genres interessiert. Später dann habe ich die Universität unterbrochen und an einer Schule gearbeitet, an der es einen Folk-Schwerpunkt gab, und ich fing an, es wirklich zu mögen. Von da an reiste ich mit meinem Cello zu den verschiedensten Folk-Festivals. Ich spielte weiterhin Klassik auf dem Klavier und Folk auf dem Cello. Das hab´ ich Jahre lang so gemacht. Heute verhält es sich 50:50 zwischen Cello und Klavier.

Muñoz Camarero: Ich habe klassisches Cello studiert, mit fünf begonnen. In meinem letzten Studienjahr in Barcelona hatte ich das Glück, für ein Symposium ausgesucht zu werden, zu dem Studenten aus ganz Europa nach Den Haag anreisten, aus den unterschiedlichsten musikalischen Richtungen. Da traf ich den Messi auf dem Cello außerhalb des klassischen Kontexts: Ernst Reijseger. Er macht Dinge, die du nirgends lernen kannst. Er singt, verwendet das Cello als perkussives Instrument – das war eine große Inspiration, weil ich das Glück hatte zu sehen, wie viele Möglichkeiten es tatsächlich gibt. Infolgedessen fing ich an, die verschiedensten Dinge zu probieren. Als Håvard mit seinem Vorschlag auf mich zukam, fand er eine offene Tür vor. In dem Moment, als er fragte, war ich auch frustriert vom Klassik-Business, wie ausgebrannt viele Leute waren, weil sie das ewig gleiche Repertoire spielten, bar jeder Kreativität. Heute spiele ich zwar auch noch nach Noten, aber ich improvisiere lieber. In Österreich studierte ich dann Jazz und improvisierte Musik in Linz.

Vom ersten Moment, als ihr euch traft bis zum heutigen Tag, wie leicht oder schwer war es zusammenzubleiben – Håvard, du lebst ja weiterhin in Barcelona, während Carles größtenteils in Wien lebt.

Muñoz Camarero: Am Anfang war es ganz leicht. Wir probierten einfach Dinge aus, hatten ein paar Konzerte in kleinen Locations, privaten Settings wie beim ersten Mal, auch in  Håvards Wohnung. Nach ein paar Jahren beschloss ich dann aus Liebesgründen wegzugehen. Nach dieser Entscheidung wurde es ernster.

Håvard Enstad: Ja, wir nahmen nach deinem Weggehen unsere erste CD auf.

Muñoz Camarero: Das war eine sehr produktive Phase. Ich weiß nicht, ob das alles passiert wäre, wenn ich in Barcelona geblieben wäre. Wir haben uns in dieser Zeit nur alle drei, vier Monate getroffen, um Konzerte zu spielen. Die Treffen haben wir dazu genutzt, unser Repertoire zu vergrößern, gemeinsam zu jammen, und so wurde es irgendwie ganz natürlich, auch gemeinsam Platten aufzunehmen.

Bild Lofoten Cello Duo
Lofoten Cello Duo (c) Julia Wesely

Wie läuft es ab, wenn ihr beide voneinander getrennt seid? jeder recherchiert für sich und bei euren Treffen probiert ihr dann oder schickt ihr einander Soundfiles, die dann der jeweils andere bearbeitet? Wie kann man sich das vorstellen?

Muñoz Camarero: Jetzt gerade läuft es so ab: Wir recherchieren beide und schicken dann Soundfiles, um dem jeweils anderen eine Idee davon zu geben, und dann, wenn wir uns treffen, arbeiten wir am Material, probieren, ob es gut klingt, ob es vielversprechend ist.

Euer Duo ist nach der gleichnamigen Inselgruppe im Norden Norwegens benannt. Wieso habt ihr gerade diesen Namen ausgewählt. Hat er eine spezielle Bedeutung?

Håvard Enstad: Eine der schwierigsten Sachen, wenn man ein Projekt wie dieses hat, ist, einen Namen dafür zu finden. Wir haben lange mit uns gerungen. Dann sind wir draufgekommen, dass eine meiner Freundinnen, eine Cellospielerin, von Lofoten kommt und dort ein Festival gegründet hat. Carles war immer schon vom Norden fasziniert. Und zusätzlich dazu heißt “Lofoten” im katalanischen Dialekt so etwas wie: „Lass es uns machen!” Diese doppelte Bedeutung hat sich passend angefühlt.

Muñoz Camarero: Und Lofoten bedeutet auch die Form einer Luchs-Klaue, weil die Inseln genau diese Form haben.

„Das Album setzt unseren Weg fort, erweitert in zugleich aber auch.“

Lasst uns über euer neues Album “Octopoda” sprechen. Fühlt es sich für euch als natürliche Fortsetzung eurer bisherigen Arbeit an oder als Schritt in völlig neue Sphären?

Håvard Enstad: Wir hatten das erste Mal Gastmusiker, was eine sehr bereichernde Erfahrung war. Ich hoffe, wir können das fortsetzen. Es muss ja auf der CD nicht das gleiche Line Up sein wie bei den Live-Konzerten. Wir müssen es nicht auf dieselbe Art und Weise spielen.

Muñoz Camarero: Ich würde sagen: Beides. Das Album setzt unseren Weg fort, erweitert in zugleich aber auch. Der Oktopus steht für das Neue, für die Erweiterung unserer Möglichkeiten. Mit all diesen tollen Musiker:innen, Florian Sighartner auf der Violine, Òscar Antolí an der Klarinette, Amir Wahba mit Percussion und Vigen Hovsepyan mit seiner Stimme und Percussion war das eine tolle Entwicklung. Es hat sich ausgezahlt, das zu riskieren.

Dieses Video auf YouTube ansehen.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.

Was sind eure Pläne nach eurem Auftritt bei Kick Jazz? Ich habe gesehen, dass ihr kommendes Jahr auch in Saalfelden spielen werdet. Wie geht es euch mit Live-Auftritten im Allgemeinen?

Muñoz Camarero: Die Situation ist schwierig, aber zugleich auch anregend. Es ist definitiv herausfordernder als vor Corona. Eine Menge Konzerte wurden verschoben und haben einen regelrechten Konzert-Stau verursacht. Aber wir fühlen uns sehr privilegiert, im Porgy spielen zu dürfen. Das verleiht uns Sichtbarkeit und dehnt – sprichwörtlich gesprochen – unsere Tentakel. Wenn ein paar nette Dinge kämen wie beispielsweise Gigs in Norwegen und Schweden, wäre das hilfreich. Hilfreich wäre es auch, eine Agentur hinter uns zu haben, weil wir im Moment alles selber machen, was sehr anstrengend ist. Wir wären gern in der Lage, uns mehr auf die Musik konzentrieren zu können. Aber wir sind sehr positiv.

Wenn ich eure Musik höre, beschleicht mich immer das Gefühl von Fernweh – ein deutsches Wort, für das es im Englischen keine Entsprechung gibt. Damit ist der Schmerz gemeint, der einen bisweilen überkommt, weil man in die Ferne will, sich nach ihr sehnt. Gibt es dafür ein norwegisches Wort, Håvard?

Håvard Enstad: Ist damit das Gegenteil von Heimweh gemeint?

Ja. Ganz genau.

Håvard Enstad: (denkt eine Weile nach) Nein, nicht wirklich.

Muñoz Camarero: Seltsam, weil du nicht die erste Person bist, die das sagt. Gerade nach Konzerten kommen immer wieder Leute und meinen, sie würden “Fernweh” fühlen, wenn sie unsere Musik hören. Dieses Feedback kriegen wir also öfters. Es ist schön, wenn man es schafft…

… dass sich Leute schlecht fühlen, weil sie zuhause und nicht in der Ferne sind?

Muñoz Camarero: [lacht] So würde ich es nicht sagen. Ich reise viel, wenn ich diese Musik mache.

Ich würde sogar sagen, dass Leute, die nicht reisen, diese Art von Musik gar nicht machen könnten.

Muñoz Camarero: Unsere Musik versucht, dankbar gegenüber den Kulturen zu sein, aus denen wir unsere Inspiration beziehen, dankbar für dieses Erbe. Das ist es, was wir den Leuten zeigen wollen: Was außerhalb ihrer Box ist. Und ihnen Hoffnung geben in einer Zeit, in der die Leute kämpfen müssen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Markus Deisenberger

++++

Lofoten Cello Duo live
6.12. Porgy & Bess @ Kick Jazz Festival
11.12. Seitenstettner Adventsingen, Seitenstetten

++++

Links:
Lofoten Cello Duo
Lofoten Cello Duo (Facebook)
Lofoten Cello Duo (Instagram)