„Wienerinnen und Wiener auf der Straße sind ein einziges Textbuch.“ – Stefan Foidl und Oliver Hangl (Wiener Beschwerdechor) im mica-Interview

Er gilt als Sprachrohr der Stadtbevölkerung, als Ventil der typisch wienerischen Unzufriedenheit und des subtilen Grants und ist mittlerweile ein gelebtes „Wiener Unikat“: der WIENER BESCHWERDECHOR. Noch in diesem Jahr am 17. Dezember 2021 veröffentlicht der WBC nun sein erstes Album. Die beiden führenden Köpfe – Medien- und Performancekünstler OLIVER HANGL und Jazzpianist und Chorleiter STEFAN FOIDL – sprechen mit Sylvia Wendrock über das Raunzen im Allgemeinen und Besonderen und die Kraft der Gruppe.

Oliver, seit 2010 fungierst du als Gründer und künstlerischer Leiter des WBC, der am 28.11.2021 im Rabenhoftheater „Geh bitte“ rufen wird [aufgrund des Lockdowns wurde das Konzert auf den 1. Mai 2022 verschoben, Anm.]. Anlass sind die zehn Jahre, +1 ist das Covid-Syndrom?

Oliver Hangl: Wir haben den Chor im Jänner 2010 gegründet und geben nun ein Jubiläumskonzert.

Stefan Foidl: … bald sind es +2.

Oliver Hangl: Stimmt. Erstmals werden es nun im Rabenhoftheater gleich mehrere Gäste, Der Nino aus Wien, 2 von 5/8erl in Ehrn und Willi Landl sein. Alle weiteren Musiker spielen dann beim nächsten Mal … Wir haben ja von Beginn an Musiker beauftragt, Stücke für den Beschwerdechor zu schreiben, die wir dann auch gemeinsam in großen Shows aufführen.

Stefan, ihr habt euch seit der Gründung aber gleich zusammen auf den Weg gemacht?

Stefan Foidl: Ja, Oliver hat jemanden gesucht, der ihn bei diesem Kunstprojekt musikalisch unterstützen kann und mich in der Szene gefunden. Wir waren schon bei der ersten Probe gemeinsam vor Ort.

Drei Jahre später hast du die Wiener Gegenstimmen übernommen, arbeitest aber auch mit den Wiener Sängerknaben. Wie leitet man mehrere Chöre gleichzeitig mit so verschiedenen Systematiken?

Stefan Foidl: Stimmt, die Bandbreite ist groß, ich arbeite ja auch noch an der Musikschule. Mir taugt es grundsätzlich, eine Gruppe von Menschen anzuleiten, die miteinander singen. Es gibt nichts Schöneres. Dabei interessiert mich der Punkt, wo es über das Chortreffen mit Singliteratur, die oft über 100 Jahre alt ist, hinausgeht: das Erschaffen der Inhalte in der Gruppe. Es treffen sich Menschen, die zusammen die Themen singen, die sie in der Gesellschaft beschäftigen. Sie tragen das Relevante, das Aktuelle hinaus, weil es auch eine Uridee des Singens ist, das zu bewegen, was berührt, bewegt oder freut. Das ist natürlich beim WBC und den Gegenstimmen wesentlich mehr der Fall als beim Singverein und der Singakademie.

Das Besondere beim WBC ist aber auch, WIE die Menschen zusammenkommen.

Oliver Hangl: Ich sehe in einem Chor nicht nur Menschen, die etwas zur Perfektion üben und dann in einem Halbkreis stehend zur Aufführung bringen, sondern viele Menschen mit ihren Stimmen und Körpern – es waren gleich zu Beginn über sechzig Sängerinnen und Sänger –, die regelmäßig zusammenkommen. Wir wollen als Amateurchor so gut wie möglich singen, was dank Stefans Expertise zu einem hohen Niveau führt. Wir agieren aber auch aktionistisch oder propagieren stumm. Dazu produzieren wir laufend Requisiten wie etwa Masken und Banner, bei denen jedes Chormitglied individuell quasi Volkskunst schafft. Da wird gestrickt, gedruckt oder aus Papier geschnitten – diese Vielfalt ist sehr spannend. Damit agieren wir dann sowohl unangekündigt im öffentlichen Raum als auch auf Bühnen mit Band, wobei immer die Beschwerde im Mittelpunkt steht.

Wiener Beschwerdechor (c) Florian Rainer

Hast du als Chorleiter auch Interesse an dieser performativen Umsetzung?

Stefan Foidl: Ich bin sehr froh über diesen neuen, anderen Blickwinkel und gebe Oliver recht: Ein Chor ist eine Menschenmenge, mit der man sehr viel szenisch und räumlich gestalten, auch emotional ausdrücken kann.

Wie viele Personen gehören aktuell zum Chor?

Oliver Hangl: Das Maximum war an die 100 aktive Sängerinnen und Sänger. Aktuell sind wir um die 65 Choristen, darunter sehr viele, die von Anfang an dabei sind. Das unterliegt natürlich Fluktuationen. Es gibt sehr viele Anfragen, wir können aber nicht ständig wachsen, da wir sonst auf keine Bühne mehr passen. Wir nehmen auch nur sehr punktuell Neue auf, wenn wir freie Kapazitäten haben. Es ist ein hoher Aufwand, das aktuelle Repertoire zu lernen, man kann nicht nur so quereinsteigen. Wir sind da sehr ambitioniert und ehrgeizig.

Sind auch begrenzende Faktoren bei so einem Casting notwendig? Es gibt ja beispielsweise eher wenige Bässe im Chor…

Stefan Foidl: Es stimmt, dass wir mehr Frauen als Männer im Chor haben. Das war aber bislang noch kein Thema. Man kann mit der Art, die Stücke zu arrangieren, ziemlich viel beeinflussen. Wir singen in Konzerten ja auch oft mit Bandbegleitung und können den Klangkörper damit ausgestalten.

Was ist die Motivation der Choristen?

Oliver Hangl: Wir sind mit etwa zehn Aktionen im Jahr ein sehr agiler Chor. Jeder Auftritt ist anders, weil wir orts- und kontextspezifisch arbeiten. Genau das macht auch den Reiz: lustvoll miteinander zu agieren und uns selbst immer wieder zu überraschen. Die Chormitglieder zahlen nichts, haben also einen individuellen Grund, jeden Montag zu den Proben zu kommen. Nach elf Jahren haben die Choristen auch einen Anspruch an sich selbst entwickelt und fordern komplexere Strukturen geradezu ein.

Gilt das auch für die musikalische Motivation?

Stefan Foidl: Das ist eine Vertrauenssache und die Erfahrung hat gezeigt, dass es gut ausgeht. Die Überforderung hält sich in Grenzen und ich habe ja einen spielerischen Umgang mit Musikmaterial an sich. Ich glaube, Mozart würde sich darüber freuen, wenn einer so einen Umgang mit seinem Liedgut pflegen würde. Ansonsten überzeugen Schwung, Vision und der Glaube an die Sache.

Wie kommt ihr zu den Inhalten?

Stefan Foidl: Unsere Facebook-Gruppe ist sehr aktiv und reagiert, wenn wir um Input zu bestimmten Themen bitten, der dann in Olivers Texte auch einfließt, die ich anschließend vertone. Musikalisch versuche ich eine große Bandbreite von Country bis Klassik, von Wienerlied bis Pop, von Jazz bis Volksmusik, von zeitgenössischer E-Musik bis zu Musik der Renaissance abzubilden. Natürlich kommt die Emotion mit dem Text dazu. Die Erhöhung des Inhalts auf das musikalische Niveau verstärkt dann dessen Fokus und Aussagekraft, so wie es eben in der jahrhundertealten Singpraxis ist: Ein „Gloria in excelsis Deo“ war gesungen stärker, genauso wie unser „Regt’s eich endlich auf!“. 80 Prozent der Stücke schreiben wir auf diese Art selbst.

Wiener Beschwerdechor (c) Thomas Lieser

Entwickelt man dann die Tendenz, aus allen Alltäglichkeiten, die einem so widerfahren, ein Lied zu machen?

Stefan Foidl: Man wird sensibel für die vielen Sachen, die Menschen unterwegs sagen. In der Straßenbahn zum Beispiel bräuchte ich manchmal nur das Aufnahmegerät hinzuhalten. Wienerinnen und Wiener auf der Straße sind ein einziges Textbuch.

Und das erste Album des WBC – ist es eine Reaktion auf die Zwangspause durch Covid?

Oliver Hangl: Nein, es ist ein Jubiläumsakt.

Stefan Foidl: 2017 haben wir begonnen aufzunehmen …

Oliver Hangl: … und wollten ein Best-of unseres zehnjährigen Bestehens machen. Und da auf Vinyl ja bekanntlich viel weniger draufpasst, gibt es dort einen Downloadlink für alle zusätzlichen Stücke, die auf der CD sind, plus ein Bonus-Stück, das exklusiv nur analog auf der LP existiert.

Wie verhält es sich aber mit der Tagesaktualität auf dem Album? Es bietet einen Querschnitt durch das musikalische Œuvre des WBC. Ist Raunzen bzw. dessen Inhalt also doch zeitlos?

Oliver Hangl: Unsere Platte blickt zurück und nimmt auf vergangene Stationen Bezug. Sie beleuchtet die wichtigsten Aspekte, die den WBC ausmachen. Die Stücke nehmen auf konkrete Ereignisse Bezug, die natürlich in der Vergangenheit liegen. Live bauen wir tagesaktuelle Texte in einige Lieder ein, indem wir für sie Austausch-Module à la Nestroy-Couplets entwickeln.

7 JAHRE Wiener Beschwerdechor mit Voodoo Jürgens (c) Thomas Lieser

„Da wir ein Abbild der Wiener Bevölkerung schaffen, ist unsere Imperfektion dann auch sehr stimmig.“

Für viele Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, Sängerinnen und Sänger, Solistinnen und Solisten besteht die Herausforderung, ihre Darbietung auch performativ zu gestalten – was in der zeitgenössischen E-Musik häufig eingesetzt wird, um neue Räume aufzuspannen. Der WBC vollführt genau dieses Zusammenspiel durch euch als Führungs-DUO, der amateurhafte Zugang eröffnet wiederum improvisatorischen Charakter – wie ist dieser spielerische Umgang zu erhalten? Der scheint im Chor Neugier zu wecken, während diese Anforderungen für professionelle Musiker eher in die Richtung außerordentlicher Beanspruchung weisen.

Stefan Foidl: Vielleicht geht es dabei auch um einen Perfektionsanspruch. Jemand, der im Klangforum spielt, ist darauf trainiert, Dinge perfekt zu machen. Die zusätzliche Performance mit dem gleichen professionellen Anspruch zu vollführen, führt fast schon automatisch in die Überforderung. Wir strecken uns sicher auch nach der Decke, aber wir scheuen uns nicht, unperfekte Dinge aufzuführen und können uns da ausprobieren wie Kinder. Da wir ein Abbild der Wiener Bevölkerung schaffen, ist unsere Imperfektion dann auch sehr stimmig.

Improvisation kenne ich vor allem aus dem Jazz und der zeitgenössischen Musik.

Stefan Foidl: Dieter Kaufmann und Manuela Kerer haben jüngst auch Stücke für den WBC geschrieben. Ich war beeindruckt, dass der WBC als Klangkörper für zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten interessant ist. Offenbar ist Improvisation für den Chor ein Weg, in zeitgenössischen Texturen zu musizieren. Das Reiben an der Literatur ist das klanglich Spannende an diesem Projekt einer organisierten Laiengruppe. Wir haben gezeigt, dass wir auch moderne E-Musik aufführen können.

Es gibt ja die weltweite Bewegung der Complaints Choirs …

Oliver Hangl: Ich habe diese Bewegung in Berlin kennengelernt, als sie noch relativ jung war. Dabei waren aber nur sehr kurzfristige Projekte in Budapest, Hamburg und anderen Städten entstanden. Gegründet wurden sie meist von bereits bestehenden Kollektiven, die nur einige Male ein Beschwerdelied aufführten und sich dann wieder auflösten. Es ist einfach ein unglaublicher organisatorischer Aufwand, einen Chor längerfristig zu leiten.

Ist das Raunzen im Lauf dieser zehn Jahre politisch ernster geworden?

Oliver Hangl: Unsere erste Aktion war 2010 klarerweise an den damaligen Bürgermeister Michael Häupl adressiert. Man hat uns aber nicht eingelassen, also haben wir vor dem Rathaus ein sehr langes politisches Lied gesungen. Genauso politisch und ernst ist es immer noch. Die angesprochenen Akteure treten manchmal beiseite oder verschwinden sogar. Unsere Texte zielen aber nicht auf Personen, jede Protagonistin und jeder Protagonist steht ja für ein System, für das, was er tut. Uns geht es nicht um ein radikales, aggressives Demonstrieren, sondern um eine Bewusstmachung in Form unserer künstlerischen Darbietung.

Aber es gab doch jüngst den Klimabeschwerdechor?

Oliver Hangl: Das ist ein Thema, das uns natürlich auch beschäftigt: die Zukunft unseres Lebens. Wir setzen uns mit gesellschaftlichen Fragen auseinander, da durfte zum Beispiel auch die über Monate täglich strapazierte Balkanroute nicht fehlen. Ich schaue jeden Morgen in die Gratiszeitung und finde mehr Themen, als ich bearbeiten kann.

Stefan Foidl: Das Jammern ist in Wien zu einer Kultur der Problemorientiertheit geworden. Mit dem WBC halten wir der Bevölkerung ein wenig einen Spiegel entgegen, sich selbst im eigenen Jammern zu erkennen, und lösen dadurch möglicherweise Auseinandersetzungen aus, die zu einer Lösungsorientiertheit beitragen.

„Das Raunzen ist der Gesang des chronisch Unzufriedenen.“

Was ist das Raunzen im Unterschied zu Meckern, Motzen oder Schimpfen?

Oliver Hangl: Die Berliner meckern.

Stefan Foidl: Im Regionalen wird geflucht, in der Kleinstadt wird gejammert und in der Metropole wird geraunzt. Das Raunzen ist der Gesang des chronisch Unzufriedenen. Kommt konkretere Kritik dazu, wird es zum Schimpfen.

Oliver Hangl: Das Wiener Raunzen ist aber auch schmähbehaftet. Man nimmt sich selbst gar nicht so ernst.

Stefan Foidl: Jammern verbindet.

Oliver Hangl: Wir leben halt in der Welthauptstadt des Raunzens. Da gibt es kein Ranking, das ist unbestritten.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock (Sprechgold)

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Termine:
Plattenrelease: Freitag, 17. Dezember 2021

GEH BITTE! 10+1 Jahre WIENER BESCHWERDECHOR
Rabenhoftheater Wien
verschoben auf 1. Mai 2022 (verschoben von 28. November 2021)

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Links:
Wiener Beschwerdechor