Wien Pop – Fünf Jahrzehnte Musikgeschichte erzählt von 130 Protagonisten (Falter Verlag)

Der versierten Online-Käuferschaft tut sich der Umfang dieses Buchbandes auf den ersten virtuellen Blick vielleicht gar nicht auf. 27 x 21 x 3 cm groß und exakt 400 Seiten lang ist dieser Ziegel, dem man rein haptisch die geistige Schwere einer Enzyklopädie attestieren möchte. Angesichts der inhaltlichen Zielsetzung nimmt dies allerdings auch nicht wunder, verspricht „Wien Pop“ doch, 50 Jahre bundeshauptstädtischer Musikgeschichte aufzuarbeiten. In vier großen, grob an den einzelnen Dekaden ausgerichteten Kapiteln lassen die Autoren und Redakteure Walter Gröbchen, Thomas Miessgang, Florian Obkircher und Gerhard Stöger mit ihren 130 Interviewpartnern das kulturhistorische Wiener Lokalkolorit Revue passieren.

Im Folgenden ein kurzer Abriss über die einzelnen Kapitel:
1. Der Band setzt den Beginn seiner Timeline auf die 1950er Jahre. Damals hatte der Rock’n’Roll noch gegen die institutionelle Übermacht klassischer Kultureinrichtungen wie Theater, Oper und Konzert zu kämpfen, deren sinnstiftende Werte im Vakuum des Nachkriegs höher denn je gehalten wurden. Die ersten zaghaften Importversuche nahmen sich entsprechend duckmäuserisch aus: das Ungestüme dieser neuen, mit „negroiden“ Ressentiments beladenen Musikrichtung war vorerst nur unter humoristischer Abfederung des umstürzlerischen Potentials annehmbar. In Form der Parodie übernahmen Kleinkünstler wie Helmut Qualtinger diesen „Geist des Rebellentums […] und beraubten ihn durch ironische Überspitzung gleichzeitig wieder seiner subversiven Kraft.“

2. Mitte der 70er Jahre fiel dann erstmals der verhängnisvolle Begriff „Austropop“. Die damaligen Funktionsträger der Sendestätten Ö3 und ORF fokussierten „neue, genuin österreichische Klänge“ im Rahmen von Talentshows und Jugendmagazinen. Die zum Pop verkürzte Popularmusik adelte daher zu Anfang allerlei unzusammengehörige Genres und subsumierte stilistisch widerstreitende Musiker wie Marianne Mendt und die Worried Men Skiffle Group. Wie allerorten wurde die frische Jugendkultur als eine Bewegung gesehen, die sich die Selbstermächtigung und dogmatische Unbestimmtheit auf die Fahnen geheftet hatte. Pop war zu Beginn in seiner Vielgesichtigkeit klar emanzipatorisch und versprach Uneinnehmbarkeit vonseiten der deutungsbefugten Hochkultur. Das auch deshalb, weil er noch zu jung war, um in seiner Signifikanz angemessen interpretiert werden zu können. Zwar verstand sich das Gros der damaligen Proponenten nicht als dezidiert politisch, immerhin aber degradierten sie die frühen Rock’n’Roll-Affirmanten zu Auslaufmodellen. Österreichischer Pop war damit erstmals selbstbewusst geworden.

3. Die allmähliche Zähmung der Popkultur durch die Mainstreammedien fand im Punk eine neuerliche Revolution. Deren Schockwellen waren derart heftig, dass sie auch an Wien nicht unbemerkt vorbeiziehen konnten. Interessant etwa die hierzulande relativ friedliche Koexistenz von Punks und Hippies: So wurde die von Letzteren eroberte Arena rasch zum Tummelplatz der Punks, gleichzeitig erfuhren Hippie-Combos wie Drahdiwaberl durch den Siegeszug des Punk eine ökonomische Aufwertung. Dessen Ausläufer, wie etwa New Wave oder Hardcore, wurden ab Mitte der 80er in der ominösen „Untergrundmusik“ begrifflich gebündelt. Der Brennpunkt der Pop-Avantgarde verschob sich von punkaffinen Clubs wie dem U4 oder der Gassergasse ins Flex und ins Chelsea (damals übrigens beide noch an ganz anderen Orten zu finden als heute!), um wenige Jahre später erneut abgelöst zu werden: die Technokultur dämmerte herauf.

4. Ab 1990 wurde der Sampler und somit auch das Schlafzimmerstudio für hiesige Nachwuchskünstler erschwinglich. Mit dieser Disposition schossen unzählige Projekte aus dem Boden, die sich – stilistisch autark – an einer völlig veränderten Soundästhetik abarbeiteten; einer Ästhetik, die den Bedarf an Gitarrenmusik für einige Jahre ins Bodenlose sinken lassen sollte und verschiedenst Neuartiges hervorbrachte: von künstlich generiertem Funk über HipHop-Grooves bis hin zum „entmenschlichten“ Techno. Das auf diesem Gebiet überragende Ereignis lieferten die bekifften Downbeats von Kruder & Dorfmeister, die von Wien aus ab 1993 einen einzigartigen globalen Siegeszug antraten. Jenseits der Unversöhnlichkeit zwischen immer härter werdendem Techno und immer tapetenähnlicher werdendem Wohlfühl-Dub öffneten sich neue Spielwiesen: so etwa jene der anspruchsvolleren Klangforschung auf den Mego-Releases oder experimentellere Elektronik der Marke Fennesz.

Die Interviews für „Wien Pop“ wurden zum Großteil separat bzw. one-on-one geführt, im Buch jedoch kommen die SprecherInnen themenbezogen alle zusammen. Der Textfluss verzahnt also das Rohmaterial zu einem langen, sehr entspannten Plausch. Die Protagonisten werden mit ihren je relevanten Wortmeldungen passend zur aktuellen Thematik eingeschoben, melden sich teils länger zu Wort, andere verstummen, einige bringen sich später nochmals ein – so entsteht die Illusion einer gigantischen Podiumsdiskussion. Das hat vieles für sich: zum einen wirkt es schlicht lebendig, wenn die Erzähler von wichtigen Zäsuren und Kontinuitäten, von Lebensgefühl und Zeitkolorit der verschiedenen Dekaden berichten oder unverkrampft aus dem privaten Nähkästchen plaudern. „Wien Pop“ präsentiert sich als reizvolles Panoptikum vieler, manchmal konträrer Ansichten und Meinungen, als schier unerschöpfliches Lesebuch, das fünf Jahrzehnte Popgeschichte aus erster Hand dokumentiert und dabei den akademischen Anspruch auf Vollständigkeit und wissenschaftliche Aufbereitung wohltuend beiseite lässt – und daher so bunt und undogmatisch daherkommt wie die Popkultur selbst.
David Weidinger

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