Wien Modern. Rückblick Woche Eins

Gab es “Highlights”? – Oh ja. Eröffnungskonzerte siehe Donaueschingen-Besprechung, dann in den heuer vollen (!) Sälen des Konzerthauses: G. .W. Pabsts “Freudlose Gasse” (1925) mit Musik von Burkhard Stangl, zwei Mal Arditti-Quartett mit dem formidablen Irvine Arditti (1.Geige) und besonders auch Lucas Fels (Cello). Beat Furrers Klavierkonzert im nicht ganz so gut – Schwellenangst? – besetzten Musikverein mit dem RSO Wien unter Pomárico. Das Allerschönste (subjektiv betrachtet): Die Filmdoku über und mit Eric Kandel (Wiener Jude, 1939 mit neun Jahren aus Wien vertrieben, Hirnforscher, Nobelpreisträger).

Bei den Ardittis beeindruckte schon im ersten Konzert ein Stück von Georges Aperghis und Enno Poppes als Musiklebewesen mäanderndes “Tier”. Aber noch viel mehr dann Brian Ferneyhoughs komplexe Auseinadersetzung aus 2007 mit dem Renaissancekomponisten Christopher Tye (“Dum transisset”), vollends – ja, das ist “große Musik” dieser Gattung  – Harrison Birtwistles einsätziges Quartett “The Tree of Strings” (2008). Mit einer Dauer von drei Viertelstunden erfüllt das Werk eine eigene, “neue” Form. Der Titel entstammt einem Gedicht über Musik eines gälischen Dichters (1911-96), der auf der Hebriden-Insel Raasay vor Schottlands Westküste geboren wurde, wie auch Birtwistle in den 70-er Jahren dort einige Zeit lebte. Es geht um mündliche Überlieferungen musikalischer Traditionen von Generation zu Generation, um Zusammenspiel und Auseinanderrücken, um wiederkehrende, prägnante Motive, einzelnen Solisten zugeordnet (es gibt zum Beispiel eine Stelle, wo der Cellist im Solo hervortritt und im Falle Lucas Fels so schön, und hoch (!)  spielt wie ein genialer Geiger .).

 

Es passiert so Vieles in dieser Musik, dass man es verbal nicht wiedergeben kann. Man möchte es wiederhören – und unsere guten Streichquartette müssten sich damit bei Gelegenheit auch auseinandersetzen und jede/r, der/die auf einer Uni zum Kammermusiker ausgebildet werden will, sollte sich mit so einem Stück wie diesem beschäftigen können (und müssen), nicht nur mit Beethoven .

 

Beim zweiten Abend, einem “Wunschkonzert” (“20 Jahre Arditti Quartett bei Modern”) konnte das Publikum, moderiert von Thomas Schäfer, aus 23 Werken, eingeteilt in drei Kategorien nach Dauer, per Akklamation auswählen. Fixstarter in diesem “Reigen” war lediglich das eingangs aufgeführte 2. Streichquartett von Friedrich Cerha (1989/90). Am Ende – außer Programm – kam noch Bernhard Gander mit einem extra dem Quartett gewidmeten zweiminütigen Stück dran, das die Ardittis vom Blatt  einfach so auch noch spielen sollten. Was diese auch taten, nicht ohne die scherzhafte Bemerkung Irvines, das sei aber nicht vorgesehen gewesen und man müsse jetzt wohl mit dem Konzerthaus um eine höhere Gage verhandeln.

 

“Die freudlose Gasse” mit Film-Soundscape von Burkhard Stangl

 

Der hauptsächlich in einer “Melchiorgasse” (wohl am Spittelberg, unweit des mica) spielende Stummfilm von G. W. Pabst aus dem Jahr 1925 wurde nach zahllosen Verstümmelungen durch Jahrzehnte  – auch durch Zensureingriffe – vom Filmarchiv Austria in der Originalfassung (Dauer: 148 Minuten) als restaurierte DVD-Fassung wiederhergestellt und in Kooperation mit Wien Modern am 30.10. im Konzerthaus dem Publikum vorgestellt (die DVD ist auch bereits käuflich erhältlich und sehr zu empfehlen!).

 

In dem Film nach Hugo Bettauer wirken Stars wie die blutjunge Greta Garbo, weiters Asta Nielsen mit und Werner Krauß als Fleischer (aber auch andere Schauspieler sind großartig).  Die Geschichte spielt im Nachkriegs-Wien von 1921, Hunger geht um, Kriegsgewinnler, Spekulanten und Ausbeuter machen gutes Geld, im “Augarten”.Hotel und in den Bordellen sprudelt Champagner (oder was man dafür hält).

 

“Die freudlose Gasse”, schreibt Heinrich Deisl im lesenswerten Almanach-Beitrag von Wien Modern, markiert den Übergang vom expressionistischen Film zur “Neuen Sachlichkeit” – und ist allein schon stumm als Kunstwerk sehenswert. Die Beantwortung lebenswichtiger Fragen überließ G. W. Pabst dem Zuschauer, dennoch muss das ein Film gewesen sein, der alle Ansprüche auch eines Massenpublikums erfüllte, das damals ins Kino ging, auch um sich zu unterhalten und Spannendes zu erleben. Wie traurig ist da heute meist unser (Massen-) Fernsehen dagegen. Marcel Reich-Ranicki hatte da schon Recht, als er das mit Thomas Gottschalk diskutierte, sehr gut war er da und gar nicht elitär oder eitel (wie zum Beispiel auch falter-Redakteure in der Nummer vom vergangenen Mittwoch glaubten hinzufügen zu müssen).

 

Aber was diese Vorführung bei Wien Modern wirklich noch eindrucksvoller machte, war der Klangapparat, mit dem Burkhard Stangl in seinem Auftragswerk für die Musik arbeitete (es spielten an zwei Klavieren Manon Liu Winter und Katharina Klement, das Koehne Quartett und der Perkussionist Berndt Thurner, dazu kamen elektronische Zuspielungen). Es ist nicht die erste Filmmusik, an der Stangl in synästhetischer Auseinandersetzung arbeitete.

 

O-Ton Burkhard Stangl in besagtem Artikel aus dem Wien Modern-Almanach: “In den 1980er Jahren waren Eisenstein, Pasolini, Akermann, Chris Marker, Alexander Kluge und die Filme des italienischen Neorealismus für mich wichtig. Am Letzteren haben mich insbesondere das Fragmentarische, Bruchstückhafte, das Zerlegen von Handlungs- und Raumstrukturen interessiert . In der letzten Zeit mache ich gemeinsam mit Olga Neuwirth und Angélica Castelló immer wieder Live-Musik zu neapolitanischen Stummfilmen, seit nunmehr sieben Jahren arbeite ich mit Gustav Deutsch zusammen. Daraus entstand u. a. die Filmmusik für Deutschs Serie Film ist (7-12). Derzeit gestalten Christian Fennesz, Martin Siewert und ich den Sound zu seinem neuen Film ist, der 2009 Premiere haben wird.

 

Musik zu einem sozialkritischen Handlungsthema wie Die freudlose Gasse zu schaffen bedeutet, sich sofort mitten in einer heiklen Situation wiederzufinden. Nämlich, ganz egal, wie es klingt und was erklingt, die Musik wird zum Kommentar, ist Kommentar, begleitet. So habe ich mir vorgenommen, für die Freudlose Gasse eine Musik zu komponieren, die als Musik geradezu verschwindet, die aber, würde sie fehlen, dem Film für immer fehlte”.

 

Burhard Stangl glaubt auch, dass Pabsts Film in der Darstellung von Nachkriegsfolgen und eines katastrophalen ökonomischen Systems immer noch eine Menge mit der heutigen Situation zu tun hat. “Ich denke nicht, dass der Kapitalismus besser geworden ist – sicher, er trägt in unseren Breiten das raffinierte Kleid der sozialen Marktwirtschaft, in anderen Weltgegenden sind seine Auswirkungen ungehemmt  brutal und menschenverachtend”. Und: “Instrumentalmusik wird konkret politisch, wenn sie in bestimmen Szenen und Kontexten kraft ihres Klangs Bedeutung erlangt oder ausgegrenzt wird.  Dieser Umstand lässt darauf schließen, dass sich an Instrumentalmusik Gedanken geheftet haben, für die oder gegen die man kämpft, für die man einsteht und lebt . Dass der Verlust der Würde, Verzweiflung und Elend nicht naturgegeben sind.”

 

Stangl und den exzellenten MusikerInnen ist mit Unaufdringlichkeit, Zurückhaltung und Präzision in der Musik und ihrer Wiedergabe sehr gut gelungen, das auszudrücken und zu vermitteln oder zu versuchen – auch mit dem Mittel der “Stille” – dass man genauer hinsieht. Chapeau!

 

RSO-Konzert unter Emilio Pomárico

 

Im ersten Teil dieses Konzertes im Musikvereinssaal erklang bester Salvatore Sciarrino, nämlich das magische “Morte di Borrimini” von Salvatore Sciarrino. In seiner Besprechung in der “Presse” vom 2.11. charakterisiert Walter Weidringer das Stück und die Stimmung im Musikverein, wie sie sich in der Wiedergabe durch den grandiosen Emilio Pomárico und die mitgehenden RSO-Musiker einstellte, wirklich unübertrefflich gut und widmet sich Details dieser Musik:

“Da wurde es im Musikverein so still, wie man sich das jedes Mal wünschen würde, dann hob die Musik an: kaum hörbare, tonlose Luftgeräusche, schwaches, schweres Atmen, leiser Wirbel der großen Trommel, bis sich ein einzelner Violinton dazustahl und jammernde Wah-Wah-Klänge des Blechs gekräuselte Linien beschrieben – kreatürliche Botschaften aus der Randzone des Daseins. Es war die letzte Nacht eines genialischen, depressiven Künstlers, derer wir Zeuge wurden, und der selbst ganz nüchtern seinem Arzt jene Umstände diktierte, die seinen nahen Tod unausweichlich machten: Er hat den Griff seines Degens ,in das Bett gedrückt und seine Spitze auf eine Lende gerichtet’, und sich ,mit größter Kraft auf ihn geworfen…’
Francesco Borromini war es, der Schöpfer so berühmter römischer Kirchen wie San Carlo alle Quattro Fontane, Sant’Ivo alla Sapienza oder Sant’Agnese in Agone, der sich am 2.8.1667 in Rom das Leben nahm – wohl auch, weil er in der Gunst der Mäzene seinem Konkurrenten Bernini unterlegen war. Salvatore Sciarrino lässt in ,Morte di Borromini’ eine Sprechstimme (Otto Katzameier) des Architekten letzten Bericht rezitieren und liefert die emotionalen Leerstellen des Textes, die Erforschung der Seelenabgründe Borrominis, auf intensive Weise musikalisch nach. Emilio Pomárico und das konzentrierte RSO Wien sorgten von höchsten Flageoletts über knirschende Multiphone bis zu gespannten Pausen für eine eindringliche halbe Stunde.”

Hinzuzufügen: Spannung auch bei Beat Furrer, dessen “Konzert” für Klavier und Orchester nach der österreichischen Erstaufführung in Graz beim “Musikprotokoll”, diesmal unter Emlio Pomáricos Leitung in Wien ein weiteres Mal zu erleben war, und das vom Orchester fast noch besser realisiert wurde, weil es dem Klavierpart noch ebenbürtiger als in Graz dialogisch gegenübertritt, “die verschiedenen klanglichen Möglichkeiten in den verschiedenen Registern auch im Orchester verstärkt” (Furrer).

Ungemein aufschlussreich ist auch der “Schatten” des zweiten im Orchester platzierten Klaviers zu erleben gewesen, das solistisch manchmal fast genauso viel zu tun hat wie der eigentliche (und genannte) Solist Nicolas Hodges, dessen Part zum Schluss hämmernd-“martellato” in der obersten Region verharrt “wie ein gläserner Loop”, während das zweite Klavier das Schließen des Stücks übernimmt.
Weidringer schrieb betont kurz über das endlos lange “Lucifer d’après Pollock” (1992-2000) von Hugues Dufourt: “. eine Reverenz an das Action-Painting. Den lustvoll ausgekosteten Klangräuschen des RSO zum Trotz: seltsam ziellose 35 Minuten.”

Der Rezensent dieses Beitrags kann auch nur über dumme Streiche berichten, die sich im Musikverein auch bei einem langweiligen und pathetischen Stück gar nicht gehörten. Er schaute seufzend immer wieder den ersten Violinen beim Umblättern zu, bemerkte mit zusammengebissenen Zähne (eh leise)  dass das “noch einmal zwei Seiten zum Spielen sind” .  “und noch einmal” .  “und noch einmal”, sein Nachbar Daniel Ender tröstete ihn mit einem guten Hustenzuckerl, dessen Papierl er trotzigerweise zu einem Geschoß zusammendrehte und schließlich versuchte, dieses in die durch Quergang geteilte nächste Reihe vor ihm (er saß also auch noch mit Generalpass fußfrei) jemandem Weiblichen (!) auf den Kopf zu werfen, was ihm gottlob eh nicht gelang. Es hätte doch genügt, allein und für sich verblasene Lebenszeit zu bedauern, und ein großartiges Orchester, dass das schließlich alles spielen musste. Soviel zu dem  angeblich wichtigen “Spektralisten” Hugues Dufourt. Warum hat man den eigentlich auf das Wien Modern-Programm gesetzt?

 

Über Eric Kandel und den “Musik&Gehirn”-Schwerpunkt hier demnächst mehr, auch über Peter Ablinger.

 

Heinz Rögl

 

(1) Nobel Laureate Eric Kandel and his wife Denise © Society for Neuroscience
(2) Die freudlose Gasse © Filmarchiv Austria
(3) Greta Garbo © Cinetext Bild- und Textarchiv GmbH, Frankfurt
(4) Kandel Aplysia © dwb4.unl.edu