Wien Modern – Rückblick Woche 2

Pierluigi Billones “Bocca.Kosmoi” für Stimme, Posaune und Orchester Orchester, uraufgeführt als Auftragswerk von Wien Modern, wurde zum  Highlight des dritten RSO Wien-Konzertes beim Festival am Donnerstag. Grandiose Uraufführungen (Klaus Lang, Georg Friedrich Haas) gab es auch bereits am 12.11. mit dem Klangforum Wien. Fürs Semper-Depot (Klangmaschinen, Turntable-Festival) und für die Aufführungen in der Ruprechtskirche (Volkmar Klien, Giacinto Scelsi, Eva Reiter) lautet die Parole fürs Wochenende: “Warm anziehen”. Pierluigi Billone

Wie aus dem Inneren eines Kraters oder den Tiefen eines  Brunnenschachts tönen die von den im Zentrum des Orchesters postierten Solisten Alfred Eberle (Posaune) und Alda Caiello (Stimme) produzierten Klänge, als kämen sie von einem organischen Lebewesen. Diese Töne, erst nach einer gewissen Dauer des Stücks individuell wahrnehmbar, absorbieren die sie in mehreren Schichten umgebenden Orchesterklänge wie sie sie auch steuernd auszulösen scheinen. Die Solostimmen – zwei Seelen ein und desselben Lebewesens – können mechanisch vibrieren, bedrohlich grölen und seufzen und/oder flüsternd deklamieren, gegen Ende auch klatschen. Sie stellen ein visionäres Inneres dar, die Stimme wird mitunter zum Instrument, die Posaune allmählich zum “Mund”. Ein Klangkosmos voller Geheimnisse, faszinierend und schrecklich zugleich, umgibt es, der keinem formalen Gesetz folgt und in dem die Launen von Naturgewalten zu herrschen scheinen. Glänzend disponiert die unübliche Orchesteraufstellung – aufgeteilt in mehrere Gruppen, in denen einmal Blechbläser, einmal Streicher dominieren, zusätzlich modifiziert durch Perkussionsinstrumente und andere spezielle instrumentale Farben. Ein faszinierendes Weben und Changieren zwischen stabileren und instabileren Aggregatzuständen, noch pointiert mittels subtiler Klangaussteuerung und -verstärkung durch Lautsprecher. Kurz: Eine durch und durch spannende, große neue Komposition des überwiegend in Wien ansässigen Komponisten, der auch im Vorjahr bei Wien Modern mit dem Bassklarinettenduo 1 + 1= 1 sehr reüssieren konnte.

Hinzuzufügen, dass unter Stefan Asburys souveräner Leitung auch die anderen aufgeführten Werke vom Orchester in nachgerader idealer Wiedergabe präsentiert wurden – Luciano Berios repräsentative “Formazioni” für Orchester (1986), Luca Francesconis “Da Capo” für neun Soloinstrumente (1985-95), sowie Luigi Dallapiccolas “Variazioni per Orchestra” (1954), letztere komplex dodekaphonisch im Geist der Wiener Schule gefertige, oft aphoristisch kurze Stücke mit einem expressiven Eigenwert, der kein Ablaufdatum trägt.

 

Uraufführungen von Klaus Lang und Georg Friedrich Haas

galt, neben der österreichischen Erstaufführung des Ensemblestücks “. danses oniriques .” von dem Schweizer Michael Pelzel, das zwei im Sechsteltonabstand gestimmte Klaviere als eine Art “Concertino” verwendet, das dritte Klangforum-Konzert im Mozart-Saal. Klaus Lang sucht in seinem neuen Ensemblestück “the book of serenity” den Gestus der Heiterkeit eines “Allegro” nicht wörtlich im Sinn einer Tempovorschrift, als vielmehr in der (wichtigeren) Bedeutung eines heiter-gelassenen Charakters. Eine zarte Klangwelt mit einem oft so leise wie möglich spielendem Klavier im Zentrum wird entfaltet, weit verspannte Klangmotorik läuft da in aller Ruhe und doch bewegt ab – in wie im Goldenen Schnitt oft unterschiedlich lang ausgehaltenen Tönen, Pizzikati, Luftgeräuschen, angedeuteten Glissandi, spektralen Arpeggien. Fast immer leise, mit kunstvoll gesetzten Pausen klingen und verklingen die Töne, werden weitergesponnen, atmen – und lassen nicht los, halten die Spannung bis zum abschließenden einsamen tiefen C des Kontrabasses.

Ganz anders Georg Friedrich Haas in “Remix” (der Titel bezieht sich auf eine beabsichtige Wiederverwertung von eigenem Material). Gemeinsam mit jenem von Lang ist diesem Stück allenfalls die ständige, hier aber ruhelose, kleinräumige Motorik. Rasende Läufe, Eschersche Treppen, spiralförmige Konstellationen, markant mehrfach in Schlagzeuggewittern kulminierend: “Remixed” ist daran die erprobte Auseinandersetzung mit unausweichlichen Prozessen, entstanden ist durchaus Neues.

 

Filme von Frank Scheffer

Reich beschenkt, wer sich der vom anwesenden Regisseur moderierten großen Retrospektive von Musikfilmen unterzog. Vom 8. bis einschließlich 11. 11. waren beim Filmfestival im Neuen Saal des Konzerthauses an die drei Dutzend größerer und kleinerer Arbeiten des niederländischen Filmemachers Frank Scheffer aus über zwei Jahrzehnten zu sehen, die auf je verschiedene Arten und in unterschiedlichen künstlerischen Zugängen etliche der wichtigsten Exponenten in der Musik des 20. Jahrhunderts portraitieren und damit ein eigenes Genre des Films begründeten –  jenseits sowohl schulmeisternder Didaktik, als auch bloßen “Abfilmens”, wie man’s beim Neujahrskonzert gewohnt ist. Neben etlichen Arbeiten von, über und mit John Cage, den Frank Scheffer einen Freund nennen durfte, waren das eindrückliche Portraits entweder unter Mitwirkung der Portraitierten: etwa von Elliot Carter, Luciano Berio, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen (die Live-Reportage vom Helicopter String Quartet mit den Musikern des Arditti String Quartet als Heroes war neben allen sonstigen Vorzügen auch noch dazu ungemein vergnüglich), oder Nader Mashayekhi (der als Gast eine Live-Uraufführung beisteuerte), oder aber – unter Einsatz von Archivmaterial – auch ohne diese: Gustav Mahler, Edgard Varèse, Igor Strawinsky, Frank Zappa. Auch einzelne Werke (wie Schönbergs Five Orchestral Pieces oder Boulez’ Eclat) wurden integral und filmisch eindrucksvoll eigenständig aufbereitet (wiewohl Scheffer stets nur mit einer Kamera filmte). Der Besuch war außerordentlich gut – ach, man hätte sich Schulklassen bei diesem Festival gewünscht.

Im Schömer-Haus agierte die Performance-Künstlerin Jennifer Walshe, im Gläsernen Saal des Musikvereins trat am 13.11. das Ensemble Wiener Collage an, mit Werken von Haas (” . “, Doppelkonzert für Akkordeon, Viola und Kammerensemble), Friedrich Cerha (UA der vollständigen Fassung des Concertino für Violine, Akkordeon und Kammerorchester), René Staar (u. a. UA von Studien für Bläser), Benedikt Schiefer (Kadenz für 2 Celli, Harfe und Kontrabass, UA) sowie Alexander Stankovski (“Das Rätsel eines Tages” für Soloflöte, Violine, Viola, Violoncello und Harfe , UA der vollständigen Fassung). Diese Konzerte hat der Rezensent aber leider versäumt. Im Semper-Depot begann die Ausstellung “Klangmaschinen” mit einer Installation von Volkmar Klien. Mehr über diesen demnächst.
Heinz Rögl

Foto Pierluigi Billone: Privatfoto
Foto Klaus Lang: Klassik in Berlin
Foto Frank Scheffer: Wien Modern