Wien Modern 36 geht in die zweite Festivalhälfte

Olga Neuwirths große Collage am Graben, Isabel Mundrys Raumkomposition sowie 21 Glocken des Stephansdoms zum Abschluss der Woche mit Peter Zumthor, Joanna Bailie & Arditti Quartet im Wiener Konzerthaus, “Alice” im Odeon, Elisabeth Harnik, the klingt.collective, Anton Gerzenberg u.v.a.

Das Festival geht am Dienstag in Woche vier – spektakulär mit Olga Neuwirths großem Gassatim-Konzert: Im Rahmen der Musikverein Perspektiven Peter Zumthor wirken rund 100 Musiker:innen bei der Collage rund um die Pestsäule am Graben mit. PHACE und das Vokalensemble Exaudi heben Isabel Mundrys Invisible im Reaktor aus der Taufe, Peter Conradin Zumthors Domglocken con Sordino beschallen den Außenbereich des Stephansdoms. Ein Double Feature im Wiener Konzerthaus verbindet das Brüsseler Ictus Ensemble mit Joanna Bailie und anschließend das Arditti Quartet. Kurt Schwertsiks Musiktheater Alice. Eine phantastische Revue feiert im Odeon Premiere. Cantando Admont und PHACE spielen im Reaktor, das Webern Ensemble im Joseph-Haydn-Saal der mdw. Elisabeth Harniks In Change is Rest gibt es in der Wiener Kalvarienbergkirche zu erleben. Am vierten Festivalsonntag steht nach einem jungen Auftakt mit der Matinée Petite die Wiener Off-Szene im Mittelpunkt – the klingt.collective gibt mit Videos und Großformation live on stage Einblick in die Arbeitswelten der freien Szene. Am Montag stehen dann die Zeichen auf Klavier mit dem Klavierrecital Anton Gerzenberg im Berio-Saal und auf Party mit Sch:cht im Club Praterstraße / PRST. Insgesamt gibt es bis Anfang Dezember 43 Ur- und 22 Erstaufführungen an 36 Spielstätten in 14 Bezirken zu hören und zu entdecken.

Olga Neuwirth erweckt mit rund 100 Mitwirkenden, 120 Knackfröschen und einem kleinen weißen Hund eine anarchische Aktion des jungen Joseph Haydn neu zum Leben: Eine Art Happening im öffentlichen Raum führt in einer guten halben Stunde einmal quer durch die Musikgeschichte, von Joseph Haydn, Erik Satie und Charles Ives über das Berlioz-Requiem, Edgar Varèse, Olga Neuwirth und einen Begräbnismarsch bis hin zu Little Wing von Jimi Hendrix und dem am Ende alles aufsammelnden Plattenteller von Dieter Kovačič a.k.a. dieb13. «Ein […] Beispiel für die anarchisch-ironische ‹Energie› des jungen Haydn ist seine Vorwegnahme einer Charles Ives’schen Idee. Er organisierte ein ‹gassatim- Konzert› im öffentlichen Raum, bei dem er Musiker einlud, sich am Tiefen Graben in Wien auf mehrere Häuser und Winkel zu verteilen und das zu spielen, was sie wollten. Und das um 1753! Das finde ich wunderbar. So etwas kann man nur als junger Mensch, da sollte man solche anarchischen, provokativen, herausfordernden Ideen auch ausleben – statt nur in einem Betrieb, der jedes Scheitern bestraft, funktionieren zu wollen. Das gefällt mir an Haydn.» (Olga Neuwirth: «Ein Mann von zu vieler Empfindung», profil 14/2009) Anschließend an das Konzert wird im MAK Peter Zumthor Fragen an Olga Neuwirth stellen. (Olga Neuwirth: Gassatim-Konzert | Peter Zumthor 17 + Werkstattgespräch | Peter Zumthor 18, Dienstag 21.11.)

Was wir sehen oder nicht, wer gesehen wird oder nicht, ist ein gesellschaftlich-kulturelles Phänomen: Die Perspektive beeinflusst Zugehörigkeit, Einbezug oder Ausgrenzung. Mit einer komponierten, in sich beweglichen Raumkonstellation spürt Isabel Mundry am Mittwochabend dem Unsichtbaren nach. Die große Neuproduktion im Reaktor zum Abschluss der gemeinsam mit Peter Zumthor kuratierten Festivalwoche ergänzen PHACEArditti Quartet & Co. an den beiden darauffolgenden Tagen mit weiteren Kammer- und Vokalmusikwerken der Komponistin. Anschließend an die beiden Aufführungen am Mittwoch stellt Peter Zumthor Fragen an Isabel Mundry. (Mittwoch 22.11. + Donnerstag 23.11.)

Wien Modern: Glocken con sordino von Peter Conradin Zumthor
Wien Modern: Glocken con sordino von Peter Conradin Zumthor (c) Lucerne Festival/Priska Ketterer

Am Mittwoch 22.11.Donnerstag 23.11. und Freitag 24.11. gibt es die gedämpften Kirchenglocken von Peter Conradin Zumthor nach der Premiere im Stift Klosterneuburg auch beim Stephansdom zu erleben – sogar mit 21 der 22 Glocken des Doms. «Wir schlagen die Glocken weich an und brechen so subtil mit der Gewohnheit, wie ein Geläut zu klingen hat. Wir packen die Klöppel der Glocken weich ein. Es trifft nicht mehr Eisen auf Legierung. Ein weicher Klöppel entlockt der Glocke andere Musik als ein harter. Kaum Anschlag, viel Ausklang. Ein leises Summen, ein fremder Singsang, lontano, con sordino. Eine Musik von urtümlicher Selbstverständlichkeit. The natural melody. Aus der Tiefe des Raumes, aus der Tiefe der Zeit scheint es zu kommen, von dort scheint es uns zu berichten: das leise Geläut.» (Peter Conradin Zumthor) (Domglocken con sordino)

Gewissermaßen als prominente Vorgruppe vor dem Londoner Arditti Quartet macht das Brüsseler Ictus Ensemble mit acht im Raum verteilten Instrumenten und Video Joanna BailiesRaum-Klang-Gedächtnis Memory of a Space des Lebensgefühls als Kind im Jahr 1979 erahnbar. «Der Raum, in dem diese für immer reflektierenden Klänge zusammenfinden, ist ein imaginärer, die Verschmelzung von Wohnzimmern des Jahres 1979, in denen der Fernseher läuft, Popmusik spielt und der Lärm der Straßen draußen durch die Wände dringt.» (Joanna Bailie) Im folgenden Konzert spielt das Arditti Quartet u. a. Raumstücke von Isabel Mundry und Robert HP Platzsowie Mark Andres großen Miniaturenzyklus iv 13. «iv ist ein Zyklus von Kammermusikstücken, der die Problematik der Introvertiertheit thematisiert. Drei Gruppen von Materialien liegen der Fragmentierung zugrunde: unharmonische, harmonische und geräuschhafte Klänge. So entstehen durch verschiedene Klangräume und -familien unerwartete innere Klangwelten, die den Bogen des Stücks aufbauen. Die I(ntro)v(ertiertheit) betrifft die kompositorische Darstellung von existenziellen und metaphysischen Darstellungen.» (Mark Andre) (Donnerstag 23.11.)

Alice Plakatmotiv
Alice Plakatmotiv (c) Eva Grün

Alice. Eine phantastische Revue zeigt ab Donnerstag im Odeon charakteristische Szenen aus Lewis CarrollAlice’s Adventures in Wonderland und, Through the Looking-Glass and What Alice Found There für ein Ensemble aus 24 Instrumentalist:innen, sieben Solist:innen und die fabelhafte Truppe des Serapions Theaters, das gemeinsam mit dem sirene Operntheater diese große Uraufführung von Kurt Schwertsik (Musik) und Kristine Tornquist (Libretto) auf die Bühne bringt. Der Kampf im Wunderland dreht sich um Schicklichkeit, die Waffe ist das Wort. Die berühmte blaue Raupe, die Herzkönigin, der zeitlose Hutmacher, die geschwätzigen Blumen und andere erstaunliche Figuren reißen im Wortwechsel mit Alice stets die Deutungshoheit an sich. Ihre Logik deckt sich zwar nicht mit dem Hausverstand, und sie haben auch nicht Recht, dafür aber das Sagen und damit die Macht, Alice den wunderlichsten Benimmregeln zu unterwerfen – Benimmregeln wie im viktorianischen England, unter denen der Mathematiker Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll zeitlebens litt. Doch über diesen gesellschaftskritischen Aspekt hinaus sind seine beiden Alice-Bücher das Werk eines begnadeten Spielers, der mit Logik und Unlogik jongliert und daraus den tiefsten Widersinn und das höchste Vergnügen destilliert. «Lewis Carroll als Verfasser der Lyrics zu haben, war einer der Gründe, mich in diese Welt zu vertiefen: Die Gedichte aus den Alice-Erzählungen haben mich schon beschäftigt, als ich noch kaum Englisch verstand.» (Kurt Schwertsik) (Donnerstag 23.11. Sonntag 31.12.)

Für seinen Abend am Freitag 24.11. mit Werken von der Renaissance bis zu Isabel Mundry, Rebecca Saunders und einer Uraufführung von Gerald Resch holt sich das Vokalensemble Cantando Admont erstmals Verstärkung vom Ensemble PHACE in den Reaktor.

«Musik mit einer sehr bunten Gangart und Ausdrucksweise […], frei und beweglich, mit einem manchmal völlig unvorhersehbaren Verlauf», schrieb die südkoreanische Komponistin Unsuk Chin in ihrem Doppelkonzert für Klavier, Schlagzeug und Ensemble. Conlon NancarrowPiece No. 2 erinnert sogar an «eine Ballettmusik für eine wildgewordene Marionette und lässt sich mit den gängigen Kategorien der neueren Musikgeschichte nicht fassen» (Martin Lorber). Für die Farben in György LigetiViolinkonzert sorgen Mikrointervalle, die sich abwechselnd zu harmonischen und nichtharmonischen Klangspektren fügen. Ein großer Ensembleabend ganz im Zeichen virtuoser zeitgenössischer Musik in der mdw. (Samstag 25.11.)

Elisabeth Harnik
Elisabeth Harnik (c) Frank Schemmann

«Ich sehe mich als Künstlerin in der Verantwortung, die Komplexität unserer Zeit zu absorbieren und in meiner Arbeit zu reflektieren. Um mit Uneindeutigkeiten und Unsicherheiten konstruktiv umzugehen, finde ich es wichtig, Widersprüche zu erkennen und auszuhalten – das zeichnet für mich Offenheit aus. Und genau diesen offenen Möglichkeitsraum fand ich in den Fragmenten Heraklits, insbesondere im wiederkehrenden Thema seines Philosophierens, dem Prozess beständigen Werdens und Wandels. Seine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Gegensätzen resonierte sehr stark in mir. Gerade im Kontrast zueinander werden die Pole eines Gegensatzes besonders stark erfahrbar. In der Raumkomposition in change is rest arbeite ich mit vier Chorgruppen, vier Solist:innen und vier Instrumenten, die verschiedene Positionen im Kirchenraum einnehmen und sich auf unterschiedliche Arten zueinander verhalten.» (Elisabeth Harnik) (In Change is RestSamstag 25.11.)

Das mumok präsentiert die erste umfassende, europäische Einzelausstellung des in New York lebenden Künstlers Adam Pendleton. Pendleton entwickelt seine Malerei in Form eines fortlaufenden Indexes, der Gesten registriert, transponiert und überschreibt. In der Ausstellung auf der Ebene 0 führen Schüler:innen der Musikschulen der Stadt Wien zur Ausstellung ausgewählte Werke auf. Das Programm wird traditionell erst kurzfristig bekanntgegeben, feststeht aber: Die Matinée petite garantiert jedesmal ein lebendiges Konzerterlebnis für Jung und Alt mitsamt eines Workshops für Kinder. (Sonntag 26.11.)

Das neunköpfige klingt.collective thematisiert am Sonntag 26.11. in dem Stück Estos Patos Locos Produktionsräume der zeitgenössischen experimentellen Musik mittels eines kollektiv an eben jenen Orten produzierten Videos. Die Mitglieder des Ensembles zeigen ihre individuellen (privaten) Aufnahme- bzw. Proberäume. Sie spielen dafür nacheinander jeweils ein Solo mit ihrem Instrumentarium in ihrer Klangkammer. In einer Art Stille-Post-Spiel entsteht eine audiovisuelle Reise durch die Produktionsstätten der Ensemblemitglieder, die zur «Partitur» für ein gemeinsames Live-Konzert im festlichen Rahmen des Präsentationsraumes Odeon wird. (the klingt.collective)

Der junge Pianist Anton Gerzenberg – nach seiner ersten Saison als Great Talent gleich wieder im Wiener Konzerthaus zu Gast – realisiert an diesem außergewöhnlichen Klavierabend u. a. die erste Gesamtaufführung von Marco StroppaTraiettoria bei Wien Modern. Der in Paris lebende Komponist, der als außergewöhnlich feinfühliger Meister der Raumelektronik gilt, sitzt – auch bei den Werken von Luigi Nono und Giacinto Scelsi – an diesem Abend selbst am Mischpult. (Klavierrecital Anton GerzenbergMontag 27.11.)

sch:cht [ʃɪçt] versteht sich als Plattform für musikalische Entdeckungen abseits des Mainstreams, die seit dem Frühjahr 2022 Raum für transformative Begegnungen zwischen Klassik und Clubkultur schafft. Schon im ersten Jahr des Bestehens setzte die Veranstaltungsreihe Akzente als niederschwellige, pluralistische Impuls- und Ideengeberin sowohl für Besucher:innen als auch für in Kunst- und Kulturbereichen Tätige. Klassische Musik trifft auf Clubkultur. Den Anfang des Abends im Club Praterstraße / PRST bei Wien Modern macht die von Los Angeles nach Wien übersiedelte Theremin-Virtuosin Pamelia Stickney, gefolgt vom Duo schtum, das bereits seinen zweiten Auftritt im Festival hat – ein Grenzgang zwischen Feedbackschleifen, Sub-Bass-Interferenzen und Noise-Gezwitscher. Für das tanztaugliche Finale sorgt Antonia XM, Mitbegründerin des Labels Ashida Park, dessen Ziel es ist, eine zugängliche Plattform für neue, unkonventionelle Formen der Club- und experimentellen Musik sowie bildender und digitaler Kunst aufzubauen. (Montag 27.11.)

Wien Modern 36
Heuer findet Wien Modern zum 36. Mal statt, einen Monat lang mit insgesamt 91 Veranstaltungen an 36 Spielstätten in 14 Bezirken. Das 1988 von Claudio Abbado initiierte Festival ist mit heuer 43 Ur- und 22 Erstaufführungen die größte Plattform zur inspirierenden Begegnung von Künstler:innen und Hörer:innen neuer Musik aller Spielarten. Mit dem Festivalpass (120 € / 96 € / 48 €), dem Mengenrabatt (30% Ersparnis ab vier Veranstaltungen) sowie kostenlosen Angeboten bietet das Festival Gelegenheit zur Begegnung mit der zeitgenössischen Vielfalt der Musik. Ermöglicht wird Wien Modern von der Stadt Wien Kultur und dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS), den Festivalsponsoren Kapsch und Erste Bank, LSG, Pro Helvetia, den SKE der austro mechana, Ernst von Siemens Musikstiftung, AKM, und zahlreichen Koproduktions- und Kooperationspartnern.

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Wien Modern