comprovise [#3], das drei Tage umfassende „Festival im Festival“ zwischen Komposition und Improvisation, wurde bereits von 2020 auf 2021verschoben. Trotz des erneuten Lockdowns beschlossen die Organisatoren, es diesmal doch – und ohne Publikum – durchzuführen. Alle Konzerte samt Interviews und Diskussionen, die vom 26. bis 28.11. in den schönen Räumen des Italienischen Kulturinstituts in der Ungargasse durchgeführt wurden, waren bzw. sind immerhin sieben Tage lang in Live-Streams zu hören und zu sehen. Das gilt auch für das Schlusskonzert am 30. November mit den Wiener Symphonikern, das Beat Furrer dirigierte. Eine ausgewählte Runde von Journalistinnen und Journalisten wurde eingeladen, live vor Ort dabei zu sein.
Bereits am Freitag, 26.11. fanden die ersten beiden Konzerte des comprovise-Festivals statt. Der Bratschist Vincent Royer führte zu Beginn die auf Noten transkribierten Kompositionen „Manto I, II & III“ von Giacinto Scelsi auf, gefolgt u. a. vom Tarozzi Walker Duo, bestehend aus Silvia Tarozzi (Violine, Stimme) und Deborah Walker (Violoncello, Stimme), zwei aus der italienischen Region Emilia-Romagna stammende Künstlerinnen, deren Repertoire aus Kompositionen, Improvisationen und Performances zeitgenössische und experimentelle Werke, die in ihrem Fall auch Transkriptionen traditioneller italienischer Volkslieder ihrer Herkunftsregion umfasst. Der zweite Konzertteil am späten Freitagabend präsentierte dann Didi Kern (Schlagzeug) und John Edwards (Kontrabass), sowie das Trio O3, von diesem mitwirkend die italienische Flötistin Alessandra Rombolà und der norwegische Perkussionist Ingar Zach.
Aber schon dieser Einstieg zeigte, worum es den Kuratoren Tiziana Bertoncini, Thomas Lehn, Nina Polaschegg und Bruno Strobl ging, nämlich in der Ausgabe von 2021 den Schwerpunkt auf Musikschaffende zu legen, die in beiden Bereichen tätig sind: Improvisierende, die auch als Interpretierende oder Komponierende aktiv sind. „comprovise“ ist übrigens eine Koproduktion von Wien Modern mit der federführenden IGNM-Sektion Österreich (Internationale Gesellschaft für Neue Musik).
Am Samstag, dem 27.11., konnte man erleben, welche großartigen Künstler die Teilnehmer-innen des Festivals waren, die man in der „Sala Dante“ auf Zwei-Meter-Distanz aus nächster Nähe erleben konnte (inklusive vielen Gesprächen mit ihnen in den Spielpausen, verwöhnt mit Speisen und Getränken, die von einem sehr guten Catering zur Verfügung gestellt wurden). Es entstand so der Blick auf eine vielfach miteinander verbundene „Szene“ mit Herkunftsorten bzw. Schauplätzen wie Berlin (Perkussionist Michael Vorfeld spielt auch auf selbst entworfenen Instrumenten), Bern (Marc Kilchenmann ist Fagottist, Forscher, Improvisator, Komponist und Verleger), Strassburg (Klarinettist Joris Rühl erforscht die erweiterten Techniken auf der Klarinette, die er im Kontext der improvisierten Musik, aber auch in genau notierten Kompositionen anwendet; Bratschist Vincent Royer gründete ein Ensemble für kollektive Komposition und Improvisation und ist als Solist und Kammermusiker in verschiedensten Ensembles tätig, auch er stammt aus Strassburg und lebt in Deutschland), schließlich Tirol (Martin Mallaun, stets auf der Suche nach neuen klanglichen und stilistischen Ausdrucksformen auf der Zither, „ist einer der vielseitigsten Künstler, die hierzulande im Moment im Bereich der experimentellen Musik am Werken sind, egal ob nun in der Improvisation, in der Elektronik, der barocken Lautenmusik, der alpinen Volksmusik oder der zeitgenössischen Musik“.
In verschiedenen Improvisationen der Teilnehmenden, solo, miteinander im Duo oder in der Gruppe zu viert erschloss sich die Vielseitigkeit dessen, was diese alles mit ihren Instrumenten machen können – bis hin zu deren Zerlegen, dem Spielen ohne Mundstück oder nur mit diesem, dem Umfunktionieren des Korpus zum Perkussionsinstrument oder auch Michael Vorfelds Spiel auf der Perkussion mit Streicherbögen … Im zweiten Konzertteil gab es jeweils im Solo erstaunliche Kompositionen zu hören: Vincent Royer spielte eine Viola-Version der „Miyagi Haikus“ (2011) des 1963 in Bombay (heute Mumbai) geborenen Bhagwati Sandeep. Das sind siebzehn musikalische Haikus (eine traditionelle japanische Gedichtform mit 17 Silben), ebenfalls in Haiku-Form angeordnet, wobei „jede Version eine kuratorische und interpretatorische Mitschöpfung“ des Musikers sein soll, wie Bhagwati schreibt. Auf der speziell mikrotonal gestimmten Zither (Martin Mallaun im Gespräch mit dem Berichterstatter: „Diese Stimmung auf dem Instrument so zu ‚setzen‘, erfordert fast einen Tag Arbeit“) war „Differenz/Wiederholung 10a (DW 10a)“ für E-Zither und Loop-Generator von Bernhard Lang (2002) zu hören.
Am Sonntag, 28.11. wurde diese Männerriege vom Samstag von bedeutenden Interpretinnen ergänzt, die vorwiegend in Österreich tätig sind. Die Flötistin Cordula Bösze, die bei Wien Modern auch heuer wieder die Konzertreihe „Junge Musik“ leitete, bei der Schülerinnen und Schüler der Musikschule Wien aktuelle Musik zur Aufführung bringen, war bereits Mitwirkende des letzten Improvisationsblocks des Nachmittags, der mit ihr zusammen von Marc Kilchenmann, Joris Rühl und Michael Vorfeld bestritten wurde. Mit dem Koehne Quartet (Joanna Lewis & Anne Harvey Nagl an den Violinen, Lena Fankhauser an der Viola und Melissa Coleman am Cello), im zweiten Stück auch mit Cordula Bösze als Solistin an der Traversflöte, standen Kompositionen eines Festivalkurators und des Fagottisten auf dem Programm. „Überwärts“ für Streichquartett, das von Bruno Strobl bereits im Jahr 2000 komponiert wurde, lässt den Interpretinnen trotz genauer Notation in der Tonhöhenentwicklung, in der improvisatorischen Entwicklung dieser Töne und auch im zeitlichen Ablauf große Freiräume. Marc Kilchenmann komponierte 2009–2013 „Anna-Seghers-Tetralogie“ für (Travers-)Flöte und Streichquartett, die sich auf Seghers’ KZ-Fluchtroman „Das siebte Kreuz“ bezieht. Den vier Sätzen des Werks unterlegte er Sätze der Protagonisten des Romans, die vor allem von der Solistin musikalisch „sprechend“ oder auch stammelnd, auch mit Atemgeräuschen, zum Ausdruck gebracht werden müssen (etwa im 2. Satz: „Jetzt zusammen sein, in welcher Hölle immer“, im 3. „An ihm war nichts richtig, aber sein Blick war richtig“, im 4. Satz: „Unter der gleichen Gefahr, im gleichen kühlen Wind“). Ein enorm beeindruckendes Stück, das die zitierten literarischen „sozialen Kontrapunkte“ in Klang(re)aktionen der Instrumente umwandelt.
Im abschließenden Interview, moderiert vom polnischen Musikessayisten Michal Libera, wurden die Komponistinnen und Komponisten sowie die Mitwirkenden über ihre Herangehensweisen an die gespielte Musik befragt. Cordula Bösze erläuterte, dass es nicht genügt hätte, die geschriebenen Noten „abzuspielen“, sondern dass die geforderten Charakterisierungen im Gehirn verankert und zum Ausdruck gebracht werden mussten.
Das Abschlusskonzert mit Beat Furrer
Beat Furrers Debüt als Dirigent der Wiener Symphoniker begann mit Milica Djordjevićs Quicksilver von 2016, gefolgt von „Déserts“, Edgar Varèses Reflexion über die Vereinsamung des Menschen in der modernen Welt – passend zum Lockdown wurden die elektronischen Zwischenspiele direkt von Computer zu Computer weitergereicht, ohne den Umweg über die Saalakustik. Die beiden Schlusspunkte des Programms und damit des Festivals setzte Beat Furrer in seiner persönlichen Handschrift: Erstmals dirigierte er seine neuen „Tableaux I–IV“ für Orchester sowie sein Violinkonzert selbst, der Solist war wie bei der umjubelten Uraufführung vor einem Jahr in München wieder Ilya Gringolts
Die Wiener Symphoniker erfüllten nicht nur beim Eingangsstück enorme Spielanforderungen für das Orchester. „Quicksilver“ fächert das Geschehen in verschieden eingestimmte, vielfach geteilte Streicherchöre, doppelte Bläsergruppen und vier Schlagzeuger auf, das, im Formzusammenhang kleinteilig untergliedert, in den Registern dramatisch gegenübergestellt sehr spannend zu hören war und von Furrer auch souverän geleitet wurde. „Déserts“ von Edgard Varèse für Orchester und (eigentlich) Tonband ist ein Spätwerk des Komponisten, das 1954 in Paris uraufgeführt wurde und in der Fassung letzter Hand von 1961 von der Bläsergruppe der Symphoniker, Schlagzeugern und Klavier ausgeführt wurde. Bei den drei Tonband-Interpolationen handelt es sich um eine Art frühe „Musique concrète“ mit Fabrikgeräuschen und Schlagzeugmaterialien („organized sounds“ als Zusamenfassung konkreter und instrumentaler Geräusche).
Die „Wüsten“ von Varèse verwandelte sich bei den „Tableaux I–IV“ (2021) in von Waldbildern von Max Ernst inspirierter Musik. Der „Wald als Welttheater“ – so die Werkbeschreibung von Andreas Karl – beginnt mit hohen Klängen und Geräuschen voller Geflüster, im zweiten Teil ist es ein aufgefächertes Dickicht, das sich aus bewegten aufwärtsstrebenden Akkordgestalten zusammensetzt, im dritten Teil beginnt der Wald zu kommunizieren, im vierten findet das choralartige Tutti des Orchesters entfernte Nachklänge. Das nur knapp viertelstündige Stück bringt rätselartige Vermengungen auf den Punkt – nicht nur das bedrohliche Andere, Unzugängliche, sondern auch hellere Momente in diesen Waldruinen. In den drei namenlosen Sätzen des Violinkonzerts (2020) mit dem halsbrecherisch schwierigen Solopart in extremen Lagen (Ilya Gringolts) wendet Beat Furrer vielfach das Schnittprinzip des Kaleidoskops an, zunächst in langsamer Drehbewegung, wenn sich die Violinmelodie zu Beginn aus dem harmonischen Gleiten löst, dann in immer rasanterer Geschwindigkeit. Es ist ein durch und durch virtuoses, violinistisches Konzert, vom Singenden bis zum Geräusch. Großer Applaus des kleinen Publikums. Den Symphonikern hat diese Zusammenarbeit mit Solist und Dirigent sichtlich großen Spaß gemacht.
Heinz Rögl
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Wien Modern