Wien Modern 2021 – Halbzeit-Bilanz (bis 15.11.)

In diesem Zwischenbericht versucht das Musikmagazin zusammenfassende Rückblicke auf  das laufende Festivalgeschehen zu geben, das bis jetzt dank  rigoros eingehaltener “2 G-Regel“ tatsächlich „live“ stattfinden konnte. Unter dem Motto „Mach einfach was du willst“ bietet Wien Modern inspirierende Begegnungen mit Neuer Musik in allen Formen und Farben und in direktem Kontakt zwischen Künstler-innen und Hörenden: Diesmal allein 8 Musiktheateruraufführungen, insgesamt 100 Aufführungen und 20 Begleitveranstaltungen, davon 80 Uraufführungen und 30 österreichische Erstaufführungen von 60 Komponistinnen und Komponisten.

„Es muss etwas anderes als Monokultur geben, ein Miteinander von experimentell und ausgereift“, sagte Intendant Bernhard Günther im mica-Interview. Und:  „Die Vielfalt der Formate macht noch einmal einen Schritt nach vorne (…) Wir haben mehrere Installationen, Spaziergänge und ortsspezifische Raumproduktionen wie beispielsweise unsere große Koproduktion mit dem Kunsthistorischen Museum: Der Konzertbesuch wird zum Museumsbesuch, 70 Musiker:innen mit Instrumenten aus 6 Jahrhunderten sind bei der „ceremony II“ von Georg Friedrich Haas in der Gemäldegalerie verteilt. Es stimmt schon, viele Projekte, die im Vorjahr entweder nur online im Live-Stream, oder wie das Haas-Projekt gar nicht stattfinden konnten, werden heuer überarbeitet neu aufgelegt. Das führt zu dieser großen Geballtheit von Ereignissen und Highlights des heurigen Festivals.  

Orchesterkonzerte mit dem RSO Wien und ein Oratorium

Ein solches „Highlight“ bescherte bereits das ORF Radio-Symphonieorchester (RSO Wien)  unter dessen Chefdirigentin Marin Alsop am 30. Oktober im Konzerthaus. Schon vor dem Beginn des Eröffnungskonzerts konnte man im Foyer mittels einer Kopfhörerinstallation eine virtuelle Klanglandschaft erleben, die Christian Fennesz, eine der Schlüsselfiguren der elektronischen Musik in Österreich gestaltet hat. Einen weiteren wabernden Klangteppich entfaltete dann das Orchester im ersten Werk des Programms („Sky limited“ von Milica Djordjević), und auch  die Uraufführung von Thomas Wally (Trompetenkonzert „Utopia I. Seltsame Schleifen”) bot schillernde Facetten eines Klangapparats in sich verändernden Gestalten mit der Trompetensolistin Selina Ott als Partnerin in wechselnden Rollen. Da gab es auch Zitate und eine humorvolle Parodie einer Kadenz. Jenseits dieser Parodie bewies die österreichische Solistin vielfältige technische Finessen. Das wirklich große Ereignis jedoch war das fast einstündige Werk von Christian Ofenbauer  („Das Satyrspiel 2019/20. Geschachtelte Musik zu Bildern für großes Orchester. Letzter Teil der Antiken Tetralogie“), in dem der Komponist auf jegliches menschliche Wort verzichtet und die Reminiszenz an das Szenische einer „Visuellen Komposition” von Andrea Sodomka überließ („Unschärfe. Kristallklar. Eine Raumkomposition“). Die klanglichen Verdichtungen in dieser Musik, in der jeder Takt, ja jeder Taktteil, Überraschungen in jeweils anderen Orchestergruppen bietet, bilden einen Sog, eine Dramaturgie jenseits billiger Dramatik, die manchmal an den großen Morton Feldman denken lässt.

Das alljährliche Claudio Abbado Konzert, dem charismatischen Mitbegründer von Wien Modern gewidmet, brachte zwei große Orchesterwerke im Großen Saal des Musikvereins. In James Dillons “The Gates” aus dem Jahr 2016 war dem RSO Wien (Leitung: Christian Karlsen) das Arditti-Quartett als Solo-Besetzung zur Seite gestellt: „Das Bild japanischer Tempeltore sowie Begrenzungen und Vermessungen von Raum liefern dem britischen Komponisten strukturelle Vorlagen. (…).  Es ist ein ständiges Beginnen nach klaren Zäsuren, jeweils anders, als es geendet hat. Das Solo-Quartett fügt sich in den Orchesterklang ein, pausiert und gestaltet ebenso Passagen im Alleingang“, resümierte die Journalistin Marie-Therese Rudolph das Geschehen in der „Wiener Zeitung“.

Chaya Czernowin (c) Christopher-McIntosh

Der zweite Teil des Programms war ein Auftragswerk an die israelische Komponistin Chaya Czernowin (Atara. Ein Lamento für Orchester und zwei verstärkte Stimmen mit einem Text von Zohar Eitan). „Es ist ein Stück, das große Blöcke orchestraler Massen zeigt, die durch gewaltige, unvorhersehbare Kräfte immer wieder zu- und auseinanderdriften. Das Stück sollte ein Lamento werden, ein Lamento über die Hybris von uns Menschen zu glauben, dass wir alles um uns herum kontrollieren können, und eine Erinnerung daran, dass es ungeahnte Kräfte gibt, die vielmehr uns und unsere Umwelt bewegen. Ich hatte keine Ahnung, dass im März 2020 unsere Welt zum Stillstand kommen und unser Kontrollverlust über die Natur so umwerfend zutage treten würde.“, kommentierte Czernowin.”Atara” (zu Deutsch “Krone” – oder auch „Corona“) hebt mit tiefen, geheimnisvollen Klängen an und lässt dreideminsionale Blöcke entstehen. Am beeindruckendsten jedoch ist der Vokalpart der beiden Sänger (Sopranistin Sofia Jernberg  & Bariton Holger Falk), sprachlich unverständliche gestammelte und geflüsterte, dann auch sphärische Vokalisen im Duett, die man so noch kaum gehört hat.

Am Sonntag, den 14.11., führte der Weg in die Jesuitenkirche nicht zu einem Konzert, sondern – auch das gibt es bei Wien Modern – zu einem in den barocken Innenraum passenden Oratoriumswerk. Thomas Kessler, der 1937 in Zürich geborene Pionier der Neuen Musik in der Schweiz, der das Studio für elektronische Musik in Basel aufgebaut hatte, komponierte 2019 für das Berner Münster nichts weniger als ein Oratorium für Vokalensemble, Instrumentalquartett, Live-Elektronik und Orgel mit einem Libretto des Dichters Lukas Bärfuss. Es wurde eine Art Passion zwischen Schöpfungsakt und Apokalypse in zwölf Teilen, mit Gegenüberstellung von weltlichen Instrumenten (Ensemble Nikel) und dem sakralen der großen Orgel (gespielt von Klaus Klang). Die sechs Sänger-innen (2 Soprane, Alt, Tenor und Bariton) des Cantando Admont , in den Seitengängen der Kirche postiert und auch live-elektronisch verstärkt und vervielfältigt, entfalten Choräle (durchaus in Bach-Luther-Tradition), Psalmen und Raumkanons und vollführen regelrechte Solo-Arien – in knappen und kantigen Reimen voll Bitten, Verzweiflung, Hoffen und Ermutigung.    

Musiktheater,  Performances, Installationen, Tanz

Der Besuch vom kleinen Tod (c) Nurith Wagner-Strauss

Bereits zwei Musiktheaterproduktionen für Kinder und junges Publikum bot Wien Modern bis jetzt. Auch heuer war im Dschungel Wien vom 1. bis zum 6. November ein neues Stück zu sehen. In einer Produktion von netzzeit (Nora und Michael Scheidl) wurde „Der Besuch vom kleinen Tod“, eine Märchenoper nach dem gleichnamigen Bilderbuch von Kitty Crowther, mit der Musik von Klaus Lang gespielt. Es ist keine leichte Aufgabe, Kinder mit dem Phänomen Tod zu konfrontieren und dabei dennoch lustig zu bleiben. Die Protagonisten sind ein Tänzer (Rino Indiono als kleiner Tod) und Performance-Künstlerinnen (darunter Jasmin Steffl als das Mädchen Elisewin). Zu der schönen und unaufdringlichen Musik (gespielt von Mitgliedern des Ensemble PHACE) läuft das Geschehen ab, einfach erzählt auch auf der Wien Modern-Website: „Der kleine Tod ist traurig, weil die Menschen immer so erschrecken, wenn er sie abholt, obwohl er sich alle Mühe gibt, ihnen den Weg in das Jenseits so angenehm wie möglich zu machen. Bis er das Mädchen Elisewin holt. Sie hat keine Angst vor ihm und kann es kaum erwarten, im Jenseits anzukommen. Sie erzählt, dass sie nun keine Schmerzen mehr hat, und bringt dem kleinen Tod Fangen, Verstecken und Kunststücke bei. Der ist jetzt fröhlich, wie ausgewechselt. Dann muss Elisewin weiter. Der kleine Tod ist todtraurig. Aber da ist Elisewin auch schon wieder zurück. Nunmehr als Engel, hat sie vorgeschlagen, die Menschen gemeinsam mit dem kleinen Tod abzuholen, weil die dann nicht unnötig erschrecken.“  

Im MuTh – Konzertsaal der Wiener Sängerknaben war die Oper „Jorinde“ mit Musik von Maria Gstättner, die im Ensemble auch Fagott spielte, und einem Libretto von Hans Echnaton Schano (nach dem Grimm-Märchen „Jorinde und Joringel) zu sehen (14., 17. November). Schauspieler und ein (mitspielender) Kinderchor des Akademischen Gymnasiums Wien spielen und erzählen die Geschichte von einem Zauberer, der Kinder gefangen hält. Der Ausbruch aus dem Luxusgefängnis gelingt mit Hilfe des fremden Eindringlings Joringel. Es wurde eine nette Produktion, aber auch nicht mehr.

Die aufwändigste Musiktheater-Produktion war die Aufführung der Oper Poppaea von dem US-amerikanischen Komponisten Michael Hersch mit einem Libretto von Stephanie Fleischmann  am 5., 6. und 7. November im Odeon. Die erstmals in Basel gezeigte Produktion (Regie Markus Bothe) mit Ah-Young Hong (Poppaea), Steve Davislim (Nero), Silke Gäng (Octavia), sowie Frauenchor und Ensemble Phönix aus Basel erzählt die Geschichte von Kaiser Nero und seiner Frau Poppaea, der mächtigsten Frau der Welt vor 2000 Jahren, neu und anders als von Monteverdi. Hersch wagte in dieser Partitur weit ausschwingende wie quälende Opulenz. Das blutige Geschehen um Raub, Mord und Brand bietet den Sängerinnen und dem Sänger des Nero wie auch dem Ensemble dennoch bravouröse und schwierig exponierte Partien. Bühnencoup: Hunderte von an -zig Zügen aufgefädelte Plastikflaschen schirmen erst das Orchester hinter der Spielfläche ab und prasseln später mit dumpfem Klimpern herunter.

Ein vieldimensionales Musiktheater auf Basis der Cyberpunk-Romantrilogie „Idoru“ (Bridge) von William Gibson wurde  „Fugen – fragmentarisch vernetzt in 13 Bildern“ nach dem Gesamtkonzept und der Komposition von Elisabeth Schimana. Lohnend und sehr spannend war der Besuch in die SOHO-STUDIOS im Sandleitenhof in Ottakring, wo am 6., 10. und 11.11. die von den Performerinnen Christina Sutter, Chetan Yeragera, Aiko Kazuko Kurosaki und Pete Simpson (Performance und Stimme) auf vier Podien choreografisch gestaltete, mittels Max Brand Synthesizern, Elektronik und Wiener Akusmonium musikalisch realisierte, mittels Kameras auf viele im Saal verteilte Tablet-Screens projizierte Geschichte zu bestaunen war, zu der auch ein vorab im ORF-Funkhaus aufgenommener Sprecher(innen)-Chor „acht abwesender Körper“ beitrug. Atemberaubend waren vor allem Körperbeherrschung und die tänzerischen Leistungen der Performerinnen, die sich teils selbst mit den Kameras aufnahmen. Elisabeth Schimana: „DIY-Elektronik oder der von Max Brand in Zusammenarbeit mit Bob Moog gebaute Max Brand Synthesizer symbolisieren Widerstand und Eigenermächtigung. Tastaturen erinnern an ihre Jahrhunderte alte Geschichte als Schnittstelle zu Maschinen. Gewaltige Klänge physikalischer Modelle von Membranen prallen auf Field Recordings und Stimmen anwesender und abwesender Körper. Das Wiener Akusmonium, ein im Raum verteiltes Lautsprecherorchester, schleudert die Klanggestalten durch die Luft und vernetzt somit akustisch den durch massive Säulen fragmentierten optischen Raum. Kontrapunktisch driften die einzelnen Stimmen durch die Zeit und fügen sich zu einem Geflecht aus Körpern, Objekten, Licht und ephemeren Klanggestalten“.

Am 8. November führte der Weg in den Großen Sendesaal des ORF-Radiokulturhauses, um  „Alles kann passieren. Eine Chorprobe für zwölf Vokalist*innen, Ensemble und Dirigent“ zu besuchen. Das Libretto von Doron Rabinovici, das nicht unversiert vom Komponisten Norbert Sterk in Musik gesetzt wurde, sollte Reden von Rechtspopulisten zitieren und zerpflücken. Leider wurden die großen Erwartungen an dieses Unterfangen eher enttäuscht. Hauptstrang der „Handlung“ waren nämlich klischeehafte, musikalische Aufforderungen und Anfeuerungen durch den Dirigenten (Michael Schneider) an die Musikerinnen (reconsil Ensemble) und die Sängerinnen und Sänger, die solo oder im Chor „verschämte wie unverschämte, deprimierende wie euphorisierende Inhalte“ (Norbert Sterk) zu rezitieren hatten.

Ein weiteres großartiges Musiktheater an den Übergängen von Choreografie und Komposition realisierten Brigitte Wilfing und Jorge Sánchez-Chiong mit dem Assemble andother stage  in ihrem bereits dritten Wien Modern-Projekt im Studio Moliére (13.11, 14.11.): growing sideways. Choreografische Komposition in rückfälligen Verhaltensmustern ist der Titel dieser vier Mal gezeigten Produktion.  „Der programmatische Titel lädt ein, dem westlichen Fortschrittsparadigma neue Richtungen des Wachstums hinzuzufügen und wird von den Performer*innen als choreografisch-kompositorische Handlungsanweisung wortwörtlich genommen. Spiel- und Bewegungsmodi werden rechts-links verdreht, umgekehrt verkehrt, um sich spielerischen Umorientierungen, Rückverdrehungen und anderen Wildwüchsen hinzugeben“ (Brigitte Wilfing). Die sechs Akteurinnen (Performance, Stimme, Turntables, Tanz + Horn, Schlagwerk, Tasteninstrumente) vollführen schier Atemberaubendes, besonders, wenn sie ihre Instrumente spielend gleichzeitig in rasenden Bewegungen über die Bühne tanzen. Ein Ereignis.   

Solo- und Ensemblekonzerte

Ingrid Schmoliner (c) Elvira Faltermeier

Es würde hier den Rahmen sprengen, auf die durchwegs guten Aufführungen und Konzerte bis zur „Halbzeit“ allesamt einzugehen. Zu nennen sind Solo-Auftritte der Performerin Ingrid Schmoliner (1.11. in den Kasematten des Palais Coburg), der Geigerinnen Nurit Stark bzw. Miranda Cuckson (am 2.11. in der Votivkirche, im Arkadenhof der Universität Wien und im Billrothhaus, bzw. am 6.11. in der Alten Schmiede), oder auch das Werk „MAAT ME“ für Schlagzeug und Ensemble von Pierluigi Billone mit dem Grazer Schallfeld Ensemble im Reaktor (am 4.11.). 

Verdienstvoll ist in jedem Fall die musikalische Rückbesinnung auf den neben Haubenstock-Ramati wichtigen in Österreich tätigen Pionier der musikalischen Grafik, den am 27. Oktober 1921 geborenen Anestis Logothetis, dem in einer ganzen Serie von Konzerten und Vorträgen unter dem Motto LOGOTHETIS 100 Tribut gezollt wird. Zu diesem Tribut gehört auch, dass Werke späterer Komponistinnen und Komponisten in den Programmen zu Wort kommen zu lassen, deren künstlerische Strategien sich im Kontinuum zwischen Notation , indexikalischen Zeichen und rein zeichnerischen Formen bewegen, etwa Peter Ablinger, Christoph Herndler, Hermann Markus Preßl  (gespielt in der Alten Schmiede am 31.10. im Konzert von Janna Polizoides und Dimitrios Polisoidis), besonders interessant auch im Programm LOGOTHETIS 100.3 am 4.11. im Reaktor mit dem oenm.oesterreichisches ensemble fuer neue musik, dirigiert und kuratiert von Rupert Huber. Neben dem „Papaphysik-Chor“, „Kassandraauge“ und „Meridiane / + Breitengrade für Orchester und Soli [Ensemble und Tenorsaxofon] von Logothetis waren neuere Stücke aus den Jahren 2017 – 2021 von Charles Uzor, Maria de Alvear, Rupert Huber, Robert Moran oder Alexander Hermann zu hören. Auf dem mdw Campus gab es 12.11. LOGOTHETIS 100.5 , das war ein Konzertabend mit Studierenden des ELAK (Lehrgang für elektroakustische und experimentelle Musik der mdw), am dem Logothetis‘ Kompositionen auch in freien Interpretationen grafischer Partituren präsentiert (Jan Brocza,  Antonia Matschnig) bzw. auch mit akusmatischer Klangregie und Elektronik (Matija Schellander) versehen wurden. Eingeleitet wurde der ELAK-Abend mit einer Foyer-Performance von Lissie Rettenwander.

Heinz Rögl

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