Wien Modern 2016: Die letzte Woche des Festivals und die letzten Fragen

Ein Monat WIEN MODERN ist mit dem Abschlusskonzert der Wiener Symphoniker am 30.11.2016 zu Ende gegangen. Heinz Rögl wirft für uns einen Blick auf das große österreichische Festival, das dieses Jahr, neben der Standortbestimmung und dem Ausblick, der Rückschau einen besonders großen Stellenwert zukommen ließ.

Mit dem Abschlusskonzert der vollbepackten 29. Ausgabe von Wien Modern, die dem heutigen Stand des zeitgenössischen Komponierens unter vielen Rückbezügen auf österreichische „Traditionen“ seiner Geschichte gewidmet war, stellten die Wiener Symphoniker am letzten Abend (30.11.) noch einmal die letzte Frage, „wo zum Teufel wir hier überhaupt sind“, indem sie das durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs unterbrochene, 1906 begonnene und 1920 fertig gestellte Poème chorégraphique „La Valse“ von Maurice Ravel aufführten: ein Klangbad in Walzerrhythmen, deren Apotheosen gleichzeitig auch die Todeswirbel des Untergangs des alten Europa darstellen. Eingeleitet wurde das Konzert durch Charles Ives’ „Unanswered Question“.

Die „offene Frage“ der Musik versuchte auch Karl Schiske 1952 in seiner dodekaphonisch strukturierten 5. Symphonie in „B“ durch Verweise auf Bach, Beethoven, Brahms und Bruckner zu beantworten. Im eigentlichen Sinn „heutige“ Musik waren die im Zentrum des Programms aufgeführten Auftragswerke von dem Briten James Clarke („Untitled Nr. 8“), gespielt von Nicolas Hodges auf einem teils vierteltönig „verstimmten“ Klavier, und Olga Neuwirths neues Konzert für Schlagwerk und Orchester „Trurliade – Zone Zero“. Wie bei der Uraufführung musste Viktor Hanna als Solist für den aus gesundheitlichen Gründen verhinderten Martin Grubinger einspringen.

Olga Neuwirths neues Konzert für Schlagwerk und Orchester „Trurliade – Zone Zero“

Neuwirths ausuferndes, episodisch gehaltenes Stück, ein „Relief méta-sonore“, nahm seinen Ausgangspunkt an einem einminütigen Sketch, in dem der Filmkomiker Jerry Lewis das Rattern und Klingeln einer Schreibmaschine zu einer „Symphonie“ aus Geräuschkulisse und Bewegung machte.

Olga Neuwirth
Olga Neuwirth beim Abschlusskonzert  (c) Markus Sepperer

Auch die Komponistin hat in ihren Arbeiten immer wieder ihrer „Faszination an (Musik)-Automaten, an der Automatisierung nachgespürt“. In ihrer „Trurliade“ (Neuwirth bezieht den Titel des Stücks auf „Trurls Maschine“ aus einer Erzählung von Stanislaw Lem) bricht „der Solist aus der Isolation eines Niemandslandes, seiner ‚Zone Zero’, zu einer Expedition auf, in der er merkwürdige, zerstörende und unheimliche Erfahrungen macht im Aufeinandertreffen des Individuums gegen einen ‚Masse/Macht’-Apparat … Er müht sich gegen die Verzögerungen und Wiederholungen des Apparats ab, bis an den Rand der Verzweiflung.

Viktor Hanna setzt zum letzten Ton Olga Neuwirths „Trurliade – Zone Zero" an (c) Markus Sepperer
Viktor Hanna setzt zum letzten Ton Olga Neuwirths „Trurliade – Zone Zero” an (c) Markus Sepperer

Wie in Lems Erzählung gibt die starrsinnige große Maschine nicht auf. Sie setzt immer wieder zur Destruktion an. Der Solist aber rebelliert gegen die Autorität des (musikalischen) Machtapparats durch verschiedenartige Befreiungsversuche“ (Olga Neuwirth).

Rückblick Wien Modern

Nachzutragen ist noch ein kursorischer Rückblick auf die Veranstaltungen und Konzerte der letzen Festivalwoche. Am Dienstag, den 22.11. gab es im Konzerthaus mit dem Ensemble PHACE drei neue Werke zu hören, nämlich von den Schweizer Komponisten Michael Jarrell und Patrick Franck, sowie ein neues Violinkonzert des Vorarlbergers Wolfram Schurig. Reinhard Kager referierte darüber im Zeit-Ton auf Ö1: Mit „Assonance“ ist ein Zyklus von Michael Jarrell betitelt, der inzwischen auf ein Bündel von Stücken für verschiedene kammermusikalische Besetzungen angewachsen ist. „Verästelungen (Assonance 1c)“, ein gut zehnminütiges Werk im Auftrag von PHACE, in dem die Idee der Proliferation von Pierre Boulez wieder auftaucht, stand am Beginn des Konzerts. Das Material des Stückes wird einmal komprimiert oder gestaucht, mal läuft es in kontrollierten Wucherungen. Es wurde ein konzises, aus der französischen Tradition schöpfendes Werk.

Ein zoologischer Garten der Irrationalitäten

Patrick Francks Stück „Siegel und Idee“ für Stimme und Ensemble hingegen besteht vor allem aus Text zu einer Art bebildernden Musik, der Text handelt von Philosophie bis hin zu Jean Baudrillard, über gescheiterte Utopien der Linken und des Neoliberalismus, bis – natürlich auch gemäß dem Festivalmotto – zu letzten metaphysischen Fragen der Menschheit. Der Konzertsaal wird laut Francks Bezeichnung zum „zoologischen Garten der Irrationalitäten“ und man fragt sich eher, wozu der Aufwand gut sein sollte. Mit Neuer Musik hatte das alles weniger zu tun, allenfalls mit Zitaten aus romantischer Klaviermusik und dem neuen Modewort „postfaktisch“. Nach „Hoquetus“ ist nach langer Arbeit das bereits zweite Violinkonzert von Wolfram Schurig, das mit zahlreichen mikrotonalen Verschiebungen in der Geigenstimme mit Doppelgriffen der Sologeigerin Ivana Pristašová wie ein klassisches Konzert beginnt. Mit den 19 Spielenden des Ensembles entstehen fluktuierende Dialoge, die diese nie auf die bloße Begleitfunktion reduziert. Das im Metrischen sehr anspruchsvolle, formal klar strukturierte Stück mit virtuosem Finale hinterließ großen Eindruck.

Bild Wolfram Schurig
Wolfram Schurig

Das Konzert der Wiener Philharmoniker im Konzerthaus stand im Zeichen von „Halleluja. Oratorium Balbulum“ von Peter Eötvös, der das bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte Werk auch selbst dirigierte. Der Oratorientext von Péter Esterházy (gestorben am 14.7. 2016) reflektiert zwischen Witz und Tiefgang navigierend, wie Karl Masek treffend im „Neuen Online-Merker“ zusammenfasst, Ereignisse wie Sarajevo 1914 oder das Attentat auf die Twin Towers am 11.9. 2001 und nimmt, scheinbar prophetisch schon im Jahr 2010 Ereignisse vom Sommer 2015 vorweg, wie der Narrator (Peter Simonischek) kommentiert: „Wir brauchen Grenzen. Wir ziehen überall Zäune, wir umzäunen sogar die Zäune.“ Die Mezzosopranistin Iris Vermillion darf auch einmal ins Publikum hinein fragen: „Gibt es hier keinen Logopäden in diesem bedeutenden Saal? Die Propheten stottern, die Engel lächeln, a scheene Wirtschaft…“

 Eine Sängerschar, „die durchaus nicht nur Halleluja singen mag“, nämlich der Chor des Ungarischen Rundfunks, bringt dennoch „Halleluja-Zitate von Schumann, Händel, schon mal Mozart (Frauen) & Bruckner (Männer), gleichzeitig von Bartók (‚wenn er eins geschrieben hätte‘) und Mussorgski“. Die Musik von Eötvös ist gekonnt eklektizistisch, stilistisch vielfältig und durchaus mitreißend. Es geht von Monteverdi bis zu den Beatles. Die Güte des Budapester Chors erwies sich auch an der überzeugenden Wiedergabe des A-cappella-Werks „Friede auf Erden“ von Arnold Schönberg. Enttäuschend allerdings zeigten sich die Philharmoniker bei der Wiedergabe des 1. Satzes („Adagio“) aus der Symphonie Nr. 10 von Gustav Mahler, den sie mit einer Wurstigkeit dahernudelten, wie es diese Musik wahrlich nicht verdient.

Bild von Peter Eötvös
Peter Eötvös (c) Marco Borggreve

Excuse my dust 3 – Das Wiener Weltgericht

In „Excuse my dust 3 – Das Wiener Weltgericht“ am 25. November in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste am Schillerplatz boten unsichtbar bleiben wollende Künstler (was das Publikum zum Teil irritierte) im Auftrag der Galerie und des Verein .akut Chor- und Solowerke von Josquin Desprez, Mark Andre, Salvatore Sciarrino, Rebecca Saunders, Gérard Pesson und Klaus Lang. Elisabeth Flunger am Schlagwerk, Hannes Löschel am Klavier und Wolfgang Vincenz Wizlsperger (Kollegium Kalksburg) als Sprecher von Gedichten Gerhard Rühm begeisterten dann am späten Abend in der „Late Night 5“ im 7*stern Kulturzentrum Cafè.

Bild von Elisabeth Flunger und Hannes Löschel, 1994
Elisabeth Flunger und Hannes Löschel, 1994 (c) Johannes Stoll

In einem Konzert unter dem irreführenden Titel „György Kurtág 90“, in dem es ganze 5 Minuten Stücke Kurtágs zu hören gab, strapazierte am 26.11. die geschätzte Geigerin Patricia Kopatchinskaja nicht nur den Autor dieses Artikel mit agogisch unzulänglichen und noch dazu manieriert vorgetragenen Bearbeitungen von Franz Schuberts d-moll-Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ , wiewohl das The Saint Paul Chamber Orchestra anfänglich in einer (guten, nicht von Kopatchinskaja stammenden) Streichorchester-Bearbeitung der 1944 im KZ geschriebenen „Partita für Streichtrio“ von Gideon Klein beweisen konnte, dass es gut spielt. Die manchmal bekrittelte „Retro“-Orientierung von Wien Modern 2016 – hier ging sie gründlich daneben. Alle, die es schafften am Sonntag in den Zentralfriedhof zu fahren, um Klaus Lang an der Orgel der Friedhofskirche Erik Satie und Eigenes spielen zu hören, waren begeistert, abends dann spielte Nicolas Hodges am Klavier im Konzerthaus beeindruckend den gesamten Zyklus „Vingts regards sur l’Enfant-Jésus“ von Olivier Messiaen.

Abgesehen von der Musiktheatertriologie „Ökonomien des Handelns“ von Daniel Kötter und Hannes Seidl, die hier nicht behandelt werden kann, führten die vor dem Abschlusskonzert vorletzten Wege noch einmal ins Semperdepot. Dort fand vom 27. bis 29. November, auch zum 80. Geburtstag von Hans Zender, das interdisziplinäre Symposium „Hölderlin Lesen, Ikkyu Sojun, Musik Denken“ statt, das auch zwei Konzerte mit dem Klangforum Wien beinhaltete, die vor allem Hans Zenders Kompositionen im Spannungsfeld von westlichem (Hölderlin) und fernöstlichem Denken (Ikkyu- Soju-n) umfassten. Unter der Leitung von Emilio Pomàrico wirkten als Solistinnen die Sopranistin Claron McFadden, Salome Kammer als Sprechstimme, Olivier Vivarès an der Klarinette, Krassimir Sterev am Akkordeon, Gunde Jäch-Micko an der Violine und Uli Fussenegger am Kontrabass mit.

Bild von Klangforum Wien
Klangforum Wien
(c) Judith Schlosser

Neben Hans Zenders Werken, „Ein Wandersmann …zornig (Hölderlin lesen V)” und “Denn wiederkommen… (Hölderlin lesen III) “, sowie “Lo-Shu I” und “4 Enso) (Lo-Shu VII) , Furin No Kyo, waren auch Friedrich Cerhas Streichsextett „Acht Sätze nach Hölderlin-Fragmenten“, Giacinto Scelsis „Anahit“ für Solovioline und Instrumente, sowie „Ein Hauch von Unzeit VII“ von Klaus Huber in der Kontrabass-Soloversion von Fernando Grillo mit Uli Fussenegger zu hören.

Klangforum Wien at its best: Nicht nur die Solisten, sondern etwa auch das in zwei jeweils mit 10 Personen gleich besetzte Formationen aufgeteilte Ensemble, von denen eine in einem Nebenraum in Zenders „4 Enso“ das gleiche Stück von hinten nach vorne spielt, wobei sich die beiden Formationen genau in der Mitte einen Moment lang treffen.

 

Heinz Rögl