WIEN MODERN 2015 – die 28. Ausgabe steht unter dem Motto „Pop. Song. Voice”

Beim Festival WIEN MODERN (5. bis 28. November), das MATTHIAS LOŠEK als künstlerischer Leiter heuer zum letzten Mal ausrichtet, steht die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Neuer Musik und avancierter Popmusik im Vordergrund. In den beiden scheinbar getrennten Welten gibt es bedeutend mehr Schnittmengen, als man auf den ersten Blick glauben könnte. Auffallend ist dabei auch, dass vor allem viele Frauen, darunter besonders österreichische Komponistinnen und Interpretinnen, wichtige Beiträge dazu liefern. Zu nennen sind OLGA NEUWIRTH, EVA REITER, ELECTRIC INDIGO, PIA PALME, MANUELA KERER, ISABEL MUNDRY UND REBECCA SAUNDERS. Der ERSTE-BANK-Kompositionspreis ging an PETER JAKOBER. mica – music austria verlost für WIEN MODERN zwei Genralpässe. Bei Interesse bitte eine Mail an office@musicaustria.at; Betreff: Wien Modern Generalpässe.

Vor dem Meisterwerk „Pli selon pli“ von Pierre Boulez, einem Meilenstein der Musikgeschichte der neueren Musik des 20. Jahrhunderts, mit dem Wien Modern am 5. November vom ORF Radio-Symphonieorchester unter Cornelius Meister mit der Sopransolistin Marisol Montalvo im Großen  Konzerthaussaal eröffnet wird, wird Susanne Kirchmayr alias Electric Indigo die heurige Rede zur Eröffnung halten und sich mit dem Phänomen Pop und Neue Musik auseinandersetzen. Die in Wien und Berlin lebende Künstlerin steht als DJane und Produzentin seit der Techno-Ära der 1990er-Jahre in rund 40 Ländern hinter den Turntables, rief bereits 1988 die feministische Vernetzungsplattform female:pressure ins Leben. Seit gut zehn Jahren ist Electric Indigo, die heuer das Popfest Wien mitkuratierte, auch im Bereich der modernen E-Musik aktiv. Neben Wien Modern waren ihre Arbeiten unter anderem schon beim Klangspuren Festival, bei Heroines of Sound und bei CTM zu hören. Gefragt nach dem Unterschied zwischen Neuer Musik, echter Popmusik und elektronischer Clubmusik (für die sie steht) meinte sie: „Der zentrale Unterschied ist die konzeptuelle Haltung. Passiert etwas aus Zufall oder liegen dem bestimmte Überlegungen zugrunde? Für mich als Komponistin und Musikschaffende ist es etwas ganz Wesentliches. Je mehr theoretischen Hintergrund es gibt, desto näher kommen sich die Bereiche.“ Und: „Vor 20 Jahren haben wir noch nicht so viel über Cage und Stockhausen geredet. Über Steve Reich schon eher“, verriet sie dem Falter-Redakteur Gerhard Stöger in einem Interview.

Am 26. November, also gegen Ende des Festivals, tritt sie mit Elektronik und Computer gemeinsam mit Pia Palme (Kontrabassblockflöten und Elektronik) und Jorge Sánchez-Chiong (Turntables) im Konzerthaus an, um sich in einem der drei neuen Werke, die dafür von Wien Modern in Auftrag gegeben wurden, mit popspezifischen Themen auseinanderzusetzen. Klangexzerpte und Lyrics von Pop-Hits werden den Ausgangspunkt der Uraufführungen bilden. Titel des Abends: „No 1: A Phenomonolgy of Pop“. Auch das Ensemble Kontrapunkte lässt Pop- und Rocksongs in Kompositionen zu Wort kommen. So erscheinen in Gerhard E. Winklers „Anamorph Va: 3 Rocktänze“ Franz Zappa, Bill Haley und Miles Davis und in „Is it a Sin?“ von Lukas Ligeti die Pet Shop Boys (Musikverein, 22. November). Das nach einem Song von Frank Zappa benannte Black Page Orchestra, das von Mirela Ivicevic, Peter Mayer, Alessandro Baticci, Hui Ye, Matthias Kranebitter u. a. gegründet wurde, spielt im Porgy & Bess Musik im Grenzbereich zwischen komponierter Musik und multimedialer Komposition, darunter von Stefan Prins und Alexander Schubert (25. November). Und im Fluc lässt das Ensemble Platypus „Hits“ der Neuen Musik erklingen (26. November).

Erwähnen muss man auch noch weitere Ensembles, die sich an verschiedenen Abenden mit Pop und Neuer Musik beschäftigen. Das Remix Ensemble Casa da Música aus Porto serviert unter der Leitung von Peter Rundel am 27. November Stücke von David Horne, Vitor Rua und die berühmte Komposition „Professor Bad Trip: Lesson III“ von Fausto Romitelli, die zurück in Perioden der Rockmusik des 20. Jahrhunderts entführen. Victor Ruas „Interstellar Overdrive“ entführt das Publikum in von Pink Floyd inspirierte Klangwelten, Hornes „Restless Feeling“ ist eine instrumentale Hommage an Lou Reeds legendäre Band The Velvet Underground und „Professor Bad Trip“ nimmt die ZuhörerInnen auf einen musikalischen Meskalinrausch mit. Mit der energiegeladenen Musik von Wolfgang Mitterer kommt man wieder im 21. Jahrhundert an. Auch des Ensemble Nikel begibt sich in einer „Rave-Night“ bei der Abschlussparty im WUK am 28. November auf die Suche nach der Essenz des Pop.

Das zweite Konzert des Radio-Symphonieorchesters am 9. November im Musikverein wird sich neben Gerhard E. Winklers „Anamorph II (Fake: a Suite)“ mit einem Hauptwerk von Olga Neuwirth auseinandersetzen. Ihre „Hommage à Klaus Nomi“ in einer neuen und komplettierten Fassung für Kammerorchester wird vom Countertenor Andrew Watts interpretiert. Neuwirths musikalische, aber auch biografische Auseinandersetzung mit den Songs von Klaus Nomi erfolgt mit ihrer unverwechselbaren Klangsprache und eigenen Ästhetik: Der deutsche Countertenor mit dem Künstlernamen Klaus Nomi schmetterte im New Yorker Underground der Siebzigerjahre Popsongs der Sechzigerjahre ebenso wie barocke Arien in verfremdender Disco-Ästhetik. Die Faszination Olga Neuwirths für diesen Sänger besteht seit nunmehr anderthalb Jahrzehnten und hinterließ auch in ihrem Werk Spuren: Bereits 1998 wurde Neuwirths Bearbeitung von vier Songs des Pop-Barden bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, 2007/08 erweiterte die Komponistin die ursprüngliche Fassung zu einem nunmehr neun Lieder umfassenden Zyklus.

Auch das Ensemble PHACE hat neben Ur- und Erstaufführungen in seinem vielfältigen Programm ein Werk Olga Neuwirths im Programm, ihre ebenfalls bereits berühmten „Five Daily Miniatures“ nach einem Text von Gertrude Stein. Des Weiteren wird PHACE – unterstützt von den subshrubs um Angelica Castelló – mit elektronischen Geräten, Klavier, Blockflöten, Präparationen, Turntables, Computern, Kabeln, Mikros und Mixern ein neues Werk von Katharina Klement uraufführen: „in dem HIMMEL benannten Darüber“. Neben einem Stück des Erste-Bank-Musikpreisträgers Peter Jakober spielt das Ensemble „Knights of the strange“ von Chaya Czernowin, Werke von Joanna Wozny („brown, fizzled out“) und der Chinesin Ying Wang („Coffee & Tea“) sowie „linea dell’orizzonte“ von Beat Furrer (20. November).

Bernhard Lang überführt in „Monadology XVIII – Moving Architecture“ die Seitenansichtspläne des Architekten Raimund Abraham für das Austrian Cultural Forum in New York in musikalische Bewegungen. Dabei ziehen sich Fragmente von Bob Dylans „Like a Rolling Stone“ wie ein roter Faden durch das Stück, das die Choreografin Silke Grabinger inszenieren wird (Tanzquartier Wien, 18. und 19. November).

Der Erste-Bank-Kompositionspreis ging an Peter Jakobers „Substantie“, das vom Klangforum Wien am 13. November aufgeführt wird. Ideeller Hintergrund des Titels findet sich bei dem jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza. „In Substantie sind es drei ansatzweise autonome Klangschichten, wechselnd dominant aufeinander bezogen. Ein Verbindungen suchendes System, das Eigenständigkeit scheitern lässt. Im Zeitablauf fixierte Streicher färben die schwebend klingenden, mikrotonal schattierten Multiphonics der Holzbläser. Eingemischt fragil Perkussives. Prozesse des Berührens und Auseinanderdriftens“, so beschreibt Kurator Lothar Knessl das Stück in seiner Preisbegründung.

Unter Sylvain Cambreling spielt das ORF-Orchester in einem weiteren Konzert bei Wien Modern neue Instrumentalkonzerte der Britin Rebecca Saunders und der Deutschen Isabel Mundry. Saunders, eine führende Vertreterin ihrer Komponistengeneration, hat in Edinburgh neben Komposition Violine studiert und setzt sich seit einigen Jahren immer wieder mit dem Phänomen des Solistenkonzerts auseinander. Carolin Widmann wird ihr Violinkonzert „Still“ interpretieren. Ihre energetischen, oft auch collageartigen Werke sind nahe am instrumentalen Theater. Mundrys erneute Auseinandersetzung mit dem Klavierkonzert widmet sich den Themen der Verwandlung, Infragestellung und Selbstreflexion. Der für Avantgarde-Aufführungen berühmte englische Pianist Nicolas Hodges spielt ihr Werk „Non-Places“ (19. November).

Die Wiener Symphoniker und der Schlagzeuger Colin Currie spielen am 15. November „into the open … for percussion and orchestra (a tribute to David Drew)” von HK Gruber. Gruber ist der Überzeugung, dass „jede Musik, die geschrieben wurde, der Unterhaltung diene und ein guter Song genauso zu schätzen ist wie eine komplexe Sinfonie. Es klingt wie ein Widerspruch, doch es gehört zu den Charakteristika Grubers, liedhafte wie serielle Strukturen in seinen Werken einvernehmlich zu integrieren. Sein neuestes Schlagzeugwerk ‚into the open‘ ist ein gutes Beispiel dafür. Innerhalb des Gesamtgefüges der verschachtelten Intervallreihen schimmern die Bruchstücke des bekannten Weill-Songs ‚O Moon of Alabama‘ durch“, weiß Grubers Biografin Andrea Zschunke.

Die italienische Komponistin Manuela Kerer, die in Innsbruck unterrichtet, und der den Großteil seiner musikalischen Aktivitäten ebenfalls in Innsbruck und Wien entfaltende Mexikaner Arturo Fuentes komponierten arbeitsteilig und teils gemeinsam ein satirisches Libretto von Dimitré Dinev. „Whatever Works“ zeigt nach einer Idee von Michael Scheidl in diesem Libretto, wie man Katastrophenhilfe zu Karrierehilfe umfunktionieren kann und was man dazu braucht: drei Staatslimousinen, deren Chauffeure Hilfsgüter in die Dritte Welt transportieren, für die dort niemand Verwendung hat, und einen Chor, der regelmäßig den Applaus für die sinnlosen Taten der beiden Karrierefrauen abliefert (Rabenhof, 7., 8. und 12. November).

Mit dem schier unendlichen Facettenreichtum der menschlichen Stimme setzt sich Eva Reiter in ihrem neuen Werk „The Lichtenberg Figures“ auseinander, in dem sie das Instrumentarium des belgischen Ictus Ensembles selbst zur Stimme werden lässt. Kennzeichnend für ihre kompositorische Arbeit ist die Auslotung des schmalen Grats zwischen rein akustischer und elektronischer Musik. Dabei greift sie für dieses Stück auch auf Modelle der Physik zurück. Namensgebend sind die Lichtenberg-Figuren, baum-, farn- oder sternförmige Muster, die entstehen, wenn sich elektrische Hochspannung auf oder in isolierenden Materialien entlädt. Dieses physikalische Phänomen nahm der amerikanische Autor und Lyriker Ben Lerner als Titel eines Gedichtbandes, dessen Sprache Reiter als Vorlage für das musikalische Koordinatensystem ihrer Musik dient (MuTh – Konzertsaal der Wiener Sängerknaben, 25. November).

Heinz Rögl
Electric Indigo (c) Christian Koenig
Olga Neuwirth (c) Harald Hoffmann
PHACE (c) Oliver Topf
Peter Jakober (c) Franz Reiterer
HK Gruber (c) Lucerne Festival
Eva Reiter (c) Moritz Schell

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