„WIE EINE GROSSE SPIELWIESE“ – LITTLE ROSIES’ KINDERGARTEN IM MICA-INTERVIEW

Die großartige Wiener Großformation LITTLE ROSIES’ KINDERGARTEN versetzt mit ihren situationselastischen, akustischen Dérives den Hörenden auf ihrem zweiten Album „Jeder gegen Jeden“ (Listen Closely) in die magische Zeit der Kindheit zurück, als die Grenzen zwischen spielerischem Ernst und ernsthaftem Spiel nur durch einen Zaun aus Fantasie gebildet wurden. Es macht Freude und zieht in Bann, wenn man der agonalen Leichtigkeit und Raffinesse im Sound-Kasten folgt, die der sehr antiautoritär geführte Hort dieser Austobe-Ausnahmetalente im Kollektiv kreiert. Dazugesellt hat sich auf zwei Aufnahmen auch der impulsive Sprachkünstler CHRISTIAN REINER, der sich meisterhaft der freien Assoziation in Wort und Laut überantwortet. Michael Franz Woels hat den neugierigen Kindergarten-Inspektor gespielt, dem Großteil der Großformation getrennt voneinander ein paar Fragen zu gestellt, und herausgefunden, wer der große Inspirator ist, wie ein idealtypischer Kindergarten aussehen könnte und wo einem der Kakao im Tetrapack noch warmgemacht wurde.

Welche Erinnerungen hast du an deine Kindergartenzeit? Wie würde für dich ein idealtypischer Kindergarten aussehen?

Judith Schwarz: Ich erinnere mich an viele Rollenspiele, die wir uns einfach ausgedacht haben. Ich wollte dabei immer die „Mama“ oder „Heldin“ sein. Ideal wäre, viel freie Zeit mit den anderen Kindern. Beim Spielen und Tun, was einem gerade in den Sinn kommt, da kommt die Fantasie erst richtig in Schwung.

Robert Schröck: Ich war der erste meiner Gruppe, der einen Papierflieger basteln konnte!

Helmut Mühlbacher: Ich habe mich wahrscheinlich selbst bemalt und dabei sicher viel Spaß gehabt!

Johannes Bankl: Geborgenheit und Gemeinsam-Welten-erschaffen-im-Spiel.

Anna Anderluh: Meine Kindergarten-Erinnerungen sind schrecklich. Im idealtypischen Kindergarten gibt es niemanden, der mir sagt, ich soll ihm oder ihr die „gute Hand“ geben. Man darf dort toben und lärmen und die Bälle rausstrampeln.

Simon Frick: Ich erinnere mich an einige Kinder, an die Betreuerinnen und an den Ort. Das Gefühl dabei ist durchaus positiv. Kinder sollen dort in ihrem Grundwesen willkommen sein und sich spielerisch entfalten können.

Werner Zangerle: Das war ein kleiner Kindergarten am Land und die Tante Resi war streng, aber nett. Der Kakao in den kleinen Tetrapacks wurde warmgemacht, das war in der Volksschule dann nicht mehr so; ein ziemlicher Rückschritt. Sich aus dem Gruppenraum in den Gang hinauszubewegen war eigentlich fast undenkbar, da musste man schon seinen ganzen Mut zusammennehmen. Bei meinen war es dann schon ganz anders, der Kindergarten war ein offenes Haus, in dem es erwünscht war, dass die Kinder überall hereinschauen können.

Lisa Hofmaninger: Das spielerische Erlernen und die unbekümmerte Herangehensweise, mit unglaublicher Neugier Fremdes kennenzulernen und zu erforschen sind wichtig. Nichts zu hinterfragen, was man im Moment gerade tut: Das sogenannte „Tunfischprinzip“. Mein idealtypischer Kindergarten besteht aus einem bunt gemischten Haufen unterschiedlicher Charaktere, die so divers sind und doch alle an einem Strang ziehen. Er lässt jedes Kind seine Stärken erforschen und erkennen. Er wird von warmherzigen Kindergärtnerinnen und Kindergärtnern geleitet, die den Haufen hin und wieder in eine bestimmte Richtung lenken, denn manchmal braucht’s auch eine klare Anweisung, um einen starken gemeinsamen Fokus zu formen. Er hat einen riesigen Garten zum körperlichen Austoben und Tanzen.

„MAN SCHWEBTE IN EINER ZEITLOSEN BEGRIFFSLOSIGKEIT.“

Lukas Leitner: Meine spärlichen Kindergartenerinnerungen sind wenig spezifisch: alle Gegenstände um mich herum waren übergroß und luden zum Spielen ein. Ein idealtypischer Kindergarten ist für mich ein Ort der zwang- und grenzenlosen interaktiven Kreativität und Spielfreude.  

Philipp Kienberger: Ich erinnere mich an nichts Besonderes. Es ging ja auch um nichts, in dieser Zeit. Bruchstückhaft: weinende Mitkinder, St. Martins Feste, Fasching, Rumlaufen im Freien, Blumen pflücken. Man schwebte in einer zeitlosen Begriffslosigkeit, gab jedem Impuls nach und wusste es einfach nicht besser. Eigentlich wusste man nichts. Aber das kann man nur aus heutiger Sicht so definieren. Kinder sollten in einem Kindergarten keinen Druck bekommen, sondern einfach sein dürfen. Ich wohne in Hütteldorf neben einem Kindergarten. Die Kinder laufen dort die ganze Zeit nur im Garten herum. Das schaut eigentlich ziemlich ideal aus.

Bild Little Rosies Kindergarten
Little Rosies` Kindergarten (c) Hans Klestorfer

Little Rosies` Kindergarten Stücke erzeugen immer wieder eine erstaunliche Sogwirkung, die den Hörenden in Bann ziehen. Babys sind für mich so etwas wie Mini-Trance-Expertinnen und Experten. Sie scheinen ja permanent von der sie umgebenden Welt fasziniert und von den Sinnesreizen hypnotisiert zu sein. Welche persönlichen Trance-Erfahrungen hattest du mit oder auch ohne Musik in deinem Leben?

Judith Schwarz: Fast jeden Tag, wenn ich übe. Das hat etwas sehr Meditatives für mich.

Werner Zangerle: Meine Erfahrungen sind wahrscheinlich tatsächlich hauptsächlich beim Musik-Machen, wenn plötzlich alles klar wird, man nicht mehr denkt, sondern nur mehr tut. Ein bisschen in diese Richtung, aber weniger „trance-ig“ geht es bei mir auch beim Meditieren.

Anna Anderluh: Manchmal kippe ich rein in Musik, sodass ich alles um mich herum vergesse. Das fühlt sich wie eine Trance-Erfahrung an.

Philipp Kienberger: Für mich ist Sog das Grundprinzip jedes künstlerischen Schaffensprozesses. Ich kann ein Stück Musik, besonders ein eigenes, erst dann als gut empfinden, wenn es mich beim Anhören nicht loslässt und ich das Bedürfnis habe, es bis zum Ende zu hören. Die Suche nach diesen Kunststücken ist für mich omnipräsent und ich hoffe sehr, es jeden Tag mindestens einmal erleben zu dürfen. Es geht für mich um eine Art abstrakten Kontrapunkt. Eine weiße Wand bildet einen Kontrapunkt zum Bild, das darauf hängt. Ebenso ist es mit der Stille und der Musik und weiter: mit dem Zuhörer und der Musik. Es geht um zwei Entitäten, die sich gegenüberstehen und unweigerlich in einen endlosen Austausch miteinander geraten. Noch verrückter wird es, wenn eine Dritte oder Vierte dazukommt oder wenn ein in sich drehendes System mit einem anderen in Kontakt kommt. Dann werden Fragen gestellt, dann beginnen Dinge zu leben, dann entsteht für mich Sog.

Simon Frick: Beim Musik-Machen, besonders beim Improvisieren stellt sich teilweise ein Trance-ähnlicher Zustand ein. Sonst hatte ich Trance-Erfahrungen unter anderem auch noch beim Sport, bei Erlebnissen in der Natur und beim Meditieren.

Helmut Mühlbacher: Die Entdeckung von Jimi Hendrix war ein Trance-Moment, ab dann habe ich begonnen Gitarre zu spielen.

„WENN DAS HÖREN SO STARK IN DEN VORDERGRUND KOMMT, DASS ES DAS SEHEN VÖLLIG ÜBERSTRAHLT.“

Lukas Leitner: Tief empfundene Musik und Trance gehen für mich oft Hand in Hand. Trance-Erfahrungen im Musikkontext gibt und gab es daher viele – sei es als Musiker auf der Bühne oder als Zuhörer im Publikum. Bezüglich Bühnensituation fällt mir sogar ein Konzert mit Little Rosies Kindergarten und Musikerinnen und Musiker des Euregio Jazz Ensembles auf gefühlt 2.000 Metern Seehöhe im Rahmen des Südtirol Jazz Festival ein. Während eines auf rituellem Groove basierenden Saxophon-Solos begann die Location – ein großer ehemaliger Holzstadel – sprichwörtlich zu glühen.

Johannes Bankl: Meine Trance-Erfahrung erlebe ich ganz oft beim Improvisieren auf der Bühne, wenn das Hören so stark in den Vordergrund kommt, dass es das Sehen völlig überstrahlt, der Raum verschwindet und man das eigene Instrument plötzlich nicht mehr selbst zu spielen scheint.

Wie und wann habt ihr als Großformation zusammengefunden? Was macht für dich den Reiz am Musizieren in dieser Konstellation aus. Ihr seid ja durch die Bank auch in anderen Musikprojekten aktiv?

Robert Schröck: Flexible Soundgestaltung und Auftrittsformationen. Das Wohlfühlen als geschätztes Individuum im Kollektiv.

Lisa Hofmaninger: Jede Probe ist wie ein Klassentreffen. Jede/r bringt Erfahrungen aus anderen Projekten und künstlerischen Ecken mit. Jede einzelne Stimme und Meinung ist im Kollektiv wichtig und wird gehört. Die Besetzung lässt sehr viele Möglichkeiten zu, sich kompositorisch und improvisatorisch auszutoben.

Anna Anderluh: Es ist kompositorisch sehr interessant, was man mit so einer großen Band machen kann. So viele Farben und eine starke Energie. Wenn alle an einem Strang ziehen, fährt es einfach mit einem dahin.

Simon Frick: Ich bin erst später vor gut einem Jahr dazu gestoßen. Für mich ist es eine stimmige, erfrischende Zusammenkunft unterschiedlicher Charaktere.

Werner Zangerle: Ich bin auch erst relativ spät dazugestoßen. Von Judith Schwarz bin ich gefragt worden, ob ich mitmachen will. Der Kindergarten ist einfach ein großartiger Klangkörper, tolle Instrumente, unglaublich tolle Musikerinnen und Musiker, super Menschen. Ich habe in und mit der Band auch schon sehr viel gelernt. Ich finde es auch wunderschön, dass jede und jeder den Input mit einer persönlichen Stimme machen kann. Trotzdem ist es auch auf eine gute Art und Weise fordernd.

Helmut Mühlbacher: Lisa Hofmaninger hat mich 2016 gefragt, ob ich Interesse hätte bei einem Impro-Kollektiv mitzuspielen. Das Projekt hatte noch keinen Namen und war erst in der Entstehungsphase. Little Rosies Kindergarten ist für mich wie eine große Spielwiese. Alles ist erlaubt und sogar erwünscht – das ist für mich extrem reizvoll, vor allem, weil ich dabei mit 13 Musikerinnen und Musikern interagieren kann und immer neue Facetten in der Musik entdecke.

„ZWISCHEN KONTROLLE UND CHAOS, MIT GEMEINSAMEN ANSÄTZEN IM HINTERKOPF.“

Lukas Leitner: Der Ursprung der Band liegt in einem Ensemble, in dem einige von uns gegen Ende des Musikstudiums an der Linzer Bruckneruniversität mitgewirkt haben. Wir spielten dort unter der Ägide von Andreas Schreiber die Musik von Frank Zappa und verknüpften sie mit freier Improvisation. Daraufhin beschlossen wir, diesen Spirit mit eigenen Kompositionen weiterzuführen und gründeten wenig später in Wien Little Rosies Kindergarten. Was für mich das Musizieren im Little Rosies Kindergarten ausmacht? Die einzigartige Klangwelt, die entsteht, wenn 13 Musikerinnen und Musiker mit ähnlichen Vorstellungen gemeinsam eigene Musik machen. Das klangliche Resultat ist derart vielseitig und bewegt sich von subtil und intim bis hin zu aufbrausend und hochenergetisch.

Johannes Bankl: Ich bin kurz vor dem ersten Album zum Projekt dazugekommen. Es ist ein wunderbarer Haufen an kreativen und lieben Menschen. Jede/r hat einen ganz individuellen Zugang zur Musik und kommt aus einer unterschiedlichen Richtung. Gemeinsam entsteht ganz oft eine sprühende Schaffensatmosphäre und eine Energie, die sich beim Spielen entlädt.

Philipp Kienberger: Nach dem sehr erfolgreichen Abschlusskonzert auf der Bruckner Universität waren wir alle von dieser Kombination aus ausnotierter Musik für großes Ensemble und freier Improvisation extrem begeistert. Judith Schwarz ergriff dann die Initiative und trommelte uns alle außerhalb der Universität zusammen und der Kindergarten erwachte zum Leben. Das erste Konzert erfolgte dann 2017 und es war ziemlich schnell klar, dass wir eine sehr spannende Konstellation gefunden haben. Es ist keine Bigband, die in den klassischen Sections funktioniert, sondern ein Haufen an kreativen Solistinnen und Solisten. Da es auch 13 Komponistinnen und Komponisten sind, entstand schnell eine große Fülle an Klängen und neuen Arten zu Musizieren. Jedes Mitglied ist in der Szene in unterschiedlichsten Projekten und Varianten umtriebig. Dadurch ist der Kindergarten nicht leicht zu organisieren, aber gleichzeitig fühlt es sich mittlerweile wie eine Art Homebase an, wo alle von Zeit zu Zeit zusammentreffen und ihre neuen Erfahrungen mitbringen.

Cover Jeder gegen Jeden
Cover “Jeder gegen Jeden”

Judith Schwarz: Ich freue mich sehr über diesen Kindergarten, und auf unsere bisherige Entwicklung zu einer richtigen Band, wo jeder/e sich einbringt und stolz ist mit seinen Kolleginnen und Kollegen gemeinsam etwas zu entwickeln. Der Sound dieser großen Formation ist voller Leben und Kreativität jedes Einzelnen: Zwischen Kontrolle und Chaos, mit gemeinsamen musikalischen Ansätzen im Hinterkopf. Da es kaum Band-Formationen gibt, die eine derartige Größe haben ‒ wo es keinen „Chef“ gibt ‒ war es sehr wichtig bei der Zusammenstellung eine Gemeinschaft aus kreativen Individualisten zusammen zu trommeln, die neben ihrer Eigenständigkeit auch noch teamfähig sind und die Kraft und das Potential, das ein Kollektiv mit sich bringt, verstanden haben. Das haben wir auf jeden Fall geschafft.

Eure erste CD entstand im Rahmen eines Live-Auftritts, das zweite Album wurde heuer in den Räumlichkeiten des ORF Funkhauses aufgenommen. Was waren für dich persönlich die großen Unterschiede im Prozess der Album-Entstehung?

Judith Schwarz: Ja, es war doch etwas anders. Beides hat Vor- und Nachteile.
Während des Live-Auftritts waren wir im gewohnten Feld. Wir haben uns alle gut gehört und konnten den gemeinschaftlichen Sound beim Spielen wirklich spüren. Trotzdem bietet das neue Album, neben einer musikalischen Weiterentwicklung, eine tolle Klangqualität und ein Best-of unserer Studiotage.

Robert Schröck: Beide Prozesse haben ihre Reize. Die Einzigartigkeit des Live-Takes mit Publikum gibt ihm eine Qualität, die auch bei dem einen oder anderen „Fehler“ in der Performance, dessen Qualität nicht mindert. Eine Studio-Produktion bietet einfach die Möglichkeit, Verschiedenstes auszuprobieren, um einem imaginären oder auch realen Ideal einer Klangvorstellung nahezukommen.

Johannes Bankl: Es waren beide Album-Aufnahmen energetisch wie ein Konzert. Dem aktuellen Album „Jeder gegen Jeden“ sind intensive Touren und Konzerte vorangegangen, einige der Lieder wurden also schon live gespielt und weiterentwickelt und haben dadurch einen Reifungsprozess hinter sich. Das spürt man. Besonders schön ist der Moment nach der Aufnahmesession, wenn man das erste Mal die Musik als reiner Zuhörer wahrnimmt.

Helmut Mühlbacher: Das Studio 2 im ORF Funkhaus hat einen ganz besonderen Vibe, es war sehr inspirierend dort Musik zu machen. Wir konnten uns auch mit den Nummern etwas mehr Zeit lassen und während der Aufnahmephase besser auf die einzelnen Songs eingehen.

„WIR KONNTEN EINEN VIEL DETAILLIERTEREN UND GLÄNZENDEREN SOUND ERZEUGEN.“

Lukas Leitner: Das erste Album war eine gelungene Momentaufnahme; mitsamt der Energie eines Live-Auftritts. Das zweite Album hatte mehr Vorlaufzeit und wurde mit mehr Liebe zum Detail verwirklicht – sowohl vor als auch nach der Aufnahme. Den Sounds der einzelnen Instrumente und Sections, aber auch der Stimmung der jeweiligen Stücke konnte damit besser gerecht werden. Zudem hat sich unser Band-Sound seit der ersten Album-Aufnahme stark weiterentwickelt.

Werner Zangerle: Die Vorbereitungszeit war eine viel längere. Wir konnten einige Stücke schon des Öfteren live spielen, da reifen sie natürlich auch. Auch als Band sind wir seit dem ersten Album unglaublich zusammengewachsen.

Philipp Kienberger: Der erste große Unterschied ist natürlich, dass wir im Radiokulturhaus aufnehmen durften. Das Studio 2 klingt einfach unglaublich gut. Dadurch, und zusätzlich durch die bessere Trennung, konnten wir einen viel detaillierteren und glänzenderen Sound erzeugen. Die Musik, die wir machen, ist zwar eindeutig eine Live-Musik, aber ich vertrete trotzdem die Meinung, dass man es dem Zuhörer, der sich die CD zu Hause anhört, schuldig ist, ein möglichst optimales Hörerlebnis zu liefern. Die Möglichkeit, zumindest im kleinen Ausmaß in der Postproduktion, durch das Verwenden der unterschiedlichen Takes, das fertige Resultat zu verbessern, ist schon sehr gut. Damit haben wir auch sehr viel Zeit verbracht. Es war uns aber sehr wichtig, den Live-Charakter zu behalten. Darum haben wir zur Gänze auf Overdubs verzichtet. Alle Soli und Impros sind so im Moment entstanden.

Euer aktuelles Video habt ihr „Dem grossen Inspirator“ gewidmet. Wer oder was ist das?

Lukas Leitner: Für mich ist das die Muse, die hinter künstlerischen Einfällen, hinter Kreativität steckt. Es ist ja kein Leichtes, musikalische Ideen hervorzulocken und sie dann zu einem fertigen Produkt weiterzuentwickeln. Das Lied ist also quasi eine Hommage, eine ehrfürchtige Anbetung der Muse, würde ich meinen. Wissen tut es ja nur Clemens (Anm: Sainitzer), der Komponist dieses Stückes.

Anna Anderluh: Für mich klingt es ja manchmal nach Zorn und Cobra. Ich glaube, ich war nicht dabei, als Clemens das erklärt hat (lacht).

„IN DIESEM SINNE IST DAS STÜCK AUCH EINE PERSIFLAGE AN DIE HEKTISCHE MUSIKALISCHE ENTWICKLUNG DER AKTUELLEN ZEIT.“

Philipp Kienberger: Der Name ist eine Metapher. Man kann das Video als eine Widmung an die Musik verstehen, und an die Idee an sich. Aber das ist nur ein Teil davon. Um ganz ehrlich zu sein, entstand der Titel, weil alle in der Band große Anti-Fans des britischen Musikers Jacob Collier sind. Es herrscht ja künstlerische Freiheit und es soll jeder machen dürfen was er will. Aber diese ausschließlich auf technische Fähigkeiten beruhende Musik von Jacob Collier kann man leider nicht gutheißen und die Entwicklung, dass dieses anti-musikalische Auf-der-Bühne-Herumspringen, und dass das alleinige Sich-Verlieren in der Produktion von super aufwendigen und informationsüberladenen YouTube-Videos als momentanes musikalisches Optimum angesehen wird, kann ich nicht unterstützen. In diesem Sinne ist das Stück auch eine Persiflage an die hektische musikalische Entwicklung der aktuellen Zeit. Der Mittelteil in dem wir völlig zusammenhangslos von einer Musik zur nächsten hüpfen soll dieses Empfinden widerspiegeln. Wir verlieren die Konzentration, genauso wie unsere Internet-verbrannten Hirne, und es entsteht ein Tohuwabohu. Aber was bleibt ist die Hoffnung auf Musik.

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Könnt ihr kurz auch etwas zu den Stücktiteln des aktuellen Albums „Jeder gegen jeden“ erzählen?

Lisa Hofmaninger: „Friday 2015“ ist meine persönliche Reminiszenz an die Terroranschläge in Paris am Freitag den 13.11.2015. Ich verbrachte zu dieser Zeit mein Erasmus-Semester in Paris. Die unterschiedlichen Gefühlslagen und Emotionen, die ich in diesem Halbjahr erlebt habe, spiegeln sich in diesem Stück wider.
„imizamo yethu“ ist inspiriert von den Eindrücken und Bildern, die eine Reise nach Südafrika in mir hinterlassen hat. „imizamo yethu“ bedeutet so viel wie „unsere Anstrengungen“ und ist der Name eines Township nahe Kapstadt.

Werner Zangerle: Das Stück „Urban Gardening“ habe ich ursprünglich für unsere Zusammenarbeit mit der Jazzwerkstatt Südtirol komponiert. Der Titel nimmt natürlich aufs Garteln Bezug, es geht aber auch ums Leben in der Stadt; ganz generell ums Zusammenleben verschiedener Kulturen und Lebensphilosophien. Im Stück passiert genau das, verschiedene Elemente die mal mehr, mal weniger zusammenpassen werden zusammengefügt, übereinander getürmt. Das geht nicht immer reibungslos, ist dynamisch, wuchtig.
„Panto“ habe ich schon 2012 aufgenommen, es war das Titelstück des zweiten Albums meines Werner Zangerle Quartetts. Es ist beeinflusst vom älteren Paul Motian Quartett und von Bill McHenry Alben, vor allem dieses frei Fließende und Melodische hat mich fasziniert. Panto ist eine Brillenfassungsform, Pan bedeutet so viel wie allumfassend. Für den Kindergarten habe ich es erweitert und umarrangiert. Es geht ums Nebeneinander und Übereinander von relativ unabhängigen Elementen.
„Nachtlied“ habe ich für meine Kinder komponiert. „Fürchtet euch nicht“ ist eine Textzeile die da ganz am Anfang Platz hätte, gäbe es einen Text. Da steckt viel Liebe in der Melodie. Musikalisch inspiriert hat mich ein Stück des Schlagzeugers Doug Hammond mit dem Titel „Closing Down“, das hat eine ähnlich simple und repetitive Bassline und eine einfache aber wunderschöne Melodie.

Judith Schwarz: „Calling for Strength“ habe ich während meines Erasmus Aufenthalts in Basel geschrieben. Eine Zeit voller Hochs und Tiefs. Nach einer sehr unschönen Trennung habe ich mich dort sehr einsam gefühlt. In einem der Übe-Zimmer am Campus habe ich aber versucht, die Stärke in diesem Gefühl hervor zu holen und ins Klavier zu hämmern. So ist das Leitmotiv dieser Komposition entstanden.

Philipp Kienberger: „Solo!(2)“ entstand, weil ich gerne ein Stück schreiben wollte, in dem jeder ein Solist ist. Gleichzeitig stellt es auch die moderne Form der Jazz-Improvisation in Frage, die ja oft nach dem Prinzip Höher-Schneller-Weiter fungiert. Jeder Musiker hat nur einen Takt, und muss dabei alles geben! Das Stück ist aber auch aus der Erinnerung an ein Projekt mit dem Christoph Cech Jazzorchestra Project entstanden und ist so eine Art gedankliche Zusammenfügung.
Das Stück „Kran“ ist Christian Reiner gewidmet. Es war schon länger geplant, dass er Teil der Album-Produktion wird und ich wollte ein Stück schreiben, dass sich durch Wiederholung und durch das Hinzufügen von Ebenen immer weiter nach oben treibt, mit Christian als leitende Stimme. Es entstand, als wir mit Little Rosies Kindergarten im letzten Jahr mehrere Stunden im Stau auf der deutschen Autobahn gestanden sind. Der Titel „Kran“ hat allerdings nichts mit dem Stau zu tun, sondern frei nach Hazel Brugger habe ich das erste Wort genommen, das mir eingefallen ist und dessen Klang mir gefallen hat.

„ABER DANACH SIND WIR WIEDER LIEB ZU EINANDER.“

Welche Bedeutung hat für Dich der Spruch: „Jeder gegen jeden“?

Simon Frick: Das kann bei einer Impro schon vorkommen …

Robert Schröck: Für mich bedeutet er ein Spiel, oder eine durchaus verbreitete Wahrnehmung in so mancher Aufführungspraxis.

Philipp Kienberger: Jeder gegen Jeden heißt auch Jeder (oder Jede) für Jeden (Jede). Ein Konflikt entsteht aus zwei Parteien. Gleichzeitig wäre das, was zwischen diesen beiden Parteien entsteht, nicht ohne diese beiden Parteien da. Was ist der große Unterschied zwischen Jeder gegen Jeden und Jeder für Jeden? Für mich ist das pure Musik.

Anna Anderluh: Meine Assoziationen dazu: Schlacht im Sandkasten, Schneckenkampf, Black Friday.

Judith Schwarz: Ich sehe es als komplettes Gegenstück zu unserer Arbeitsweise. Wir schauen da sehr gut aufeinander und versuchen, dass jeder/e die eigene Stimme entfalten kann. Trotzdem gibt es Spielsituationen wo gerade „Jeder gegen jeden“ gefragt ist und eher pusht. Aber danach sind wir wieder lieb zueinander (lacht).

Bild Little Rosies Kindergarten
Little Rosies’ Kindergarten (c) Hans Klestorfer

Helmut Mühlbacher: Das Album-Cover beschreibt es ohne Worte. Generell ist es für mich ein absolutes Wunder, dass wir es geschafft haben, in Zeiten der Pandemie ein komplettes Album zu recorden und releasen.

Lisa Hofmaninger: Genau das, was unser Cover abbildet: Was sich liebt, das neckt sich.

Lukas Leitner: Für mich ist der Spruch in erster Linie ein ironischer Kommentar auf die Wettbewerbs- und Selbstvermarktungszwänge unserer mediatisierten Gesellschaft. Jeder und jede denkt immer noch mehr an sein und ihr eigenes Vorankommen, insbesondere auch in der Kunst und Kultur. Wir setzen hier mit dem Kollektivgedanken eine gewisse Antithese. Aber eigentlich geht der Titel ja auf eine banale Situationskomik während der Album-Aufnahme im Funkhaus zurück (lacht).

Johannes Bankl: Der Name entstand in einer intensiven Probe. Er beschreibt sehr schön die Energie und Stimmung beim gemeinsamen erarbeiten von Musik, im positivsten Sinn!

Werner Zangerle: Da geht es schon um Raubtierkapitalismus: Fressen oder gefressen werden. Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem was wir wollen, ist aber irgendwann aufgetaucht, kurz vor dem Einzählen eines Stücks. In eine ähnliche Kategorie fällt der Schmäh, dass wir ein ziemlich fragiles Stück jetzt mal „richtig hinbetonieren“.

Wie kann man als Musikerin und Musiker das „innere Kind“ am besten bei Laune halten?

Anna Anderluh: Für mich ist das An-Musik-Basteln ‒ ohne gleich einen Zweck dahinter zu sehen ‒ wichtig, aber auch das Pausen-, und etwas komplett anderes als Musik-Machen.

Simon Frick: Indem man immer weiterforscht …

Johannes Bankl: Wichtig ist zuhören, zuschauen, lesen, was andere Menschen zu sagen haben, wenn jemand sich ausdrücken kann. Egal ob musikalisch oder als Autorin und Autor, Sprecherin und Sprecher, Schauspielerin und Schauspieler, Malerin und Maler, oder einfach als Person. Wenn man durch die Kunst den Menschen spürt, ist das oft eine starke Inspiration.

Lukas Leitner: Das ist eine Herausforderung, vor der man laufend steht. Allgemein gültige Lösungen gibt es dafür wohl nicht. Am ehesten würde ich sagen, dass ein Kreis an Kreativen um eine*n herum genauso hilft, wie Ehrlichkeit sich und seinem eigenen „inneren Kind“ gegenüber. Wichtig ist aber sicher auch der Rahmen, also die zur Verfügung stehende freie Zeit, die Räumlichkeiten oder das Vorhandensein von Konzerten, um Ziele zu haben.

„OFT IST DAS SICH-VERZETTELN DIE KREATIVSTE UND NACHHALTIGSTE ZEIT DES KÜNSTLERISCHEN SCHAFFENS.“

Helmut Mühlbacher: Ich würde sagen, sich nicht selbst zu viel unter Druck setzen und Spaß an der Sache haben.

Werner Zangerle: Neugierig bleiben, Neues hören, immer wieder auch an scheinbar altbekannte Sachen unvoreingenommen herangehen. Beim Üben, aber auch beim Spielen, immer Freiraum lassen, um auszuprobieren, um spontan zu sein, um Fehler zu machen.

Lisa Hofmaninger: Die aktuelle Gefühlslage durch die Musik sprechen lassen. Wie ein Schwamm äußere Eindrücke aufsaugen.

Philipp Kienberger: Lieb sein. Und überraschen. Jeden Tag dasselbe machen ist tödlich. Und auf keinem Fall glauben, dass man durch E-Mails schreiben und Facebook glotzen an Kreativität gewinnt. Raus gehen. Blöd sein. Sich selbst nicht ernst nehmen.

Robert Schröck: Zucht und Ordnung. Zuckerbrot und Peitsche (lacht).

Judith Schwarz: Versuchen nach dem Bauchgefühl zu gehen. Bei dem Verweilen, was einen gerade inspiriert. Und sich immer wieder etwas treiben lassen. Oft ist das „Sich-Verzetteln“ die kreativste und nachhaltigste Zeit des künstlerischen Schaffens, auch wenn man das oft erst viel später erkennt.

Herzlichen Dank für dieses polyperspektivische Interview!

Michael Franz Woels

 

Konzert (Live-Stream):
22. Dezember Porgy&Bess

 

Link:
Little Rosies’ Kindergarten
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