Der Wettbewerbsgedanke prägt viele Bereiche der gegenwärtigen Gesellschaft. Doch während Rivalität und Konkurrenzdenken in Wirtschaft und Politik, am Arbeitsmarkt und im Sport unbestritten eine dominierende Rolle spielen, herrschen über Wettbewerbe in der Kunst geteilte Meinungen. Skeptikerinnen und Skeptiker sind der Ansicht, die Ausübung von Kunst stelle einen Wert für sich dar und bedürfe keinerlei „äußerlicher“ Orientierung auf Siege und Preise, sondern solle vielmehr einen Gegenpol zum Leistungsdruck der gesellschaftlichen Umwelt bilden. Befürworterinnen und Befürworter wenden ein, es sei doch ein menschliches Grundbedürfnis, sich mit anderen zu messen. Bereits Kindern bereite dies meist großen Spaß. Seit jeher habe sich Kunst als Spiegel der Gesellschaft verstanden – warum sollte sie also das Phänomen der Eitelkeit ausklammern? Und schließlich: Sobald ein Mensch eine Bühne betrete, sei der Wettbewerbsgedanke ohnehin immanent.
Die Frage, ob Wettwerbe veranstaltet werden sollen oder nicht, wird wohl auch in Zukunft die Gemüter erhitzen, ist aber im Grunde genommen rein theoretisch. In der Praxis haben sich Wettbewerbe in nahezu allen künstlerischen Bereichen längst etabliert – vielleicht sind sie sogar so alt wie die Kunst selbst. Bereits bei den Pythischen Spielen des antiken Griechenlands wurden musikalische Wettkämpfe ausgetragen. Im Mittelalter wurde bei Dichterturnieren wie dem berühmten Sängerkrieg auf der Wartburg rivalisiert, am Beginn der Neuzeit bei den Wertungssingen der Meistersinger.
Spätestens in der Barockzeit finden sich Vorläufer des modernen Virtuosenwettbewerbs, zunächst in Form von „Wettspielen“. Bei diesen äußerst populären Veranstaltungen traten zwei bekannte Musiker gegeneinander an. Legendär sind die Duelle zwischen Georg Friedrich Händel und Domenico Scarlatti und – einige Jahrzehnte später – zwischen Wolfgang Amadeus Mozart und Muzio Clementi.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts schossen allerorten neue Konservatorien und Musikakademien aus dem Boden. Mit der Professionalisierung und Spezialisierung der Musikerausbildung gewann auch der Konkurrenzgedanke rasant an Bedeutung, und die Gründung der ersten institutionellen Wettbewerbe ließ nicht lange auf sich warten. Einer der bekanntesten was der Anton-Rubinstein-Wettbewerb für Klavier und Komposition, der zwischen 1890 und 1910 im Fünfjahrestakt in St. Petersburg ausgetragen wurde und mit Ferrucio Busoni, Wilhelm Backhaus und Béla Bartók einige prominente Preisträger hervorbrachte.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden nach und nach in allen großen Musikzentren und in vielen kleineren Städten Wettbewerbe ins Leben gerufen. und in den letzten Jahrzehnten ist deren Anzahl geradezu explodiert. Der Musikpädagoge Hans Günter Bastian konstatierte vor einigen Jahren: „Die heutige Musikszene lässt sich als ‚Wettbewerb total‘ beschreiben.“
In dieser Entwicklung spiegelt sich einerseits der allgemeine Trend hin zu immer größerer Perfektion – Konkurrenz steigert bekanntlich das Niveau – und andererseits ein wachsendes Bedürfnis nach großen Show-Events wider. Das Publikum jedenfalls liebt die Verquickung von künstlerischer Darbietung und sportlichem Kräftemessen: So sind etwa die Eintrittskarten für den berühmten Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau meist bereits ein Jahr vor dessen Beginn ausverkauft, und das Finale wird live auf Großleinwänden im Stadtzentrum übertragen.
Befragt man Musikerinnen und Musiker über ihre Einstellung zu Wettbewerben, so zeigt sich ein anderes Bild. Nur wenige äußern sich durchwegs positiv. Viele berichten von durchwachsenen Erfahrungen, von großem Druck und Stress, von Enttäuschungen aufgrund ungerechter Juryentscheidungen. Was den meisten aber auch klar ist: Strebt man eine Karriere als Solistin bzw. Solist an, kommt man an Wettbewerben heutzutage nicht mehr vorbei. Und da es so viele davon gibt, reicht ein Preisgewinn bei einem x-beliebigen Wettbewerb längst nicht mehr aus. Um ernsthaft wahrgenommen zu werden, muss man entweder mehrere gewinnen oder bei einem der ganz berühmten Wettbewerbe reüssieren.
Doch wie trennt man die Spreu vom Weizen? Angesichts der Wettbewerbsinflation ist es nicht gerade einfach, den Überblick zu behalten. Die Website der WFIMC (World Federation of International Music Competitions), einer 1957 gegründeten Dachorganisation klassischer Musikwettbewerbe, bietet eine gute Orientierung. Sie listet die größten und renommiertesten Wettbewerbe weltweit auf, zudem kann gezielt nach Wettbewerben für verschiedene Instrumente gesucht werden. Um in die Liste der WFIMC aufgenommen zu werden, sind folgende Mindestanforderungen nötig: Internationalität des Teilnehmerfeldes und der Jury, eine präzise formulierte Ausschreibung und klar festgelegte Richtlinien für das Juryverfahren.
Grundsätzlich kann man zwischen Wettbewerben für ein Instrument und solchen mit mehreren Kategorien unterscheiden. Viele Wettbewerbe sind einer bestimmten Komponistin bzw. einem bestimmten Komponisten gewidmet und weisen einen entsprechenden Schwerpunkt im geforderten Programm auf. Im Extremfall besteht das komplette Programm nur aus Werken einer einzigen Komponistin bzw. eines einzigen Komponisten, etwa beim bereits erwähnten Internationalen Chopin-Wettbewerb, aber auch beim Internationalen Beethoven Klavierwettbewerb in Wien.
Die berühmtesten Wettbewerbe finden nicht jedes Jahr statt, sondern in einem Drei-, Vier- oder Fünfjahresrhythmus. Damit wird ähnlich wie bei den Olympischen Spielen oder der Fußball-Weltmeisterschaft signalisiert, dass es sich um ein ganz besonderes Ereignis handelt und ein Preisgewinn umso mehr zählt.
Um die Relevanz eines Wettbewerbs innerhalb der Musikszene richtig einzuschätzen, ist es aufschlussreich, ihn an der Königsklasse zu messen. Zu dieser gehört beispielsweise der traditionsreiche Concours Musical Reine Elisabeth in Brüssel. Seit 1937 wird im jährlichen Wechsel eine der Kategorien Violine, Cello, Gesang und Klavier ausgetragen. Um überhaupt zugelassen zu werden, gilt es, eine strenge Vorauswahl zu überstehen: Ein vorgeschriebenes Programm muss auf DVD aufgezeichnet und eingeschickt werden, danach wird es von einer Jury begutachtet. Der eigentliche Wettbewerb erstreckt sich über drei Runden und nach jeder Runde scheidet etwa die Hälfte des Teilnehmerfeldes aus. Am Ende des Wettbewerbs werden sechs Preise vergeben, darunter 25.000 Euro für den 1. Platz. Auch bei anderen großen Wettbewerben liegt das Preisgeld in dieser Größenordnung. Für viele Kandidatinnen und Kandidaten ist jedoch nicht allein das Geld der Ansporn, erhoffen sie sich doch vor allem ein Sprungbrett für die weitere Karriere. Hierin bieten die Veranstalter zum Teil Beachtliches an: Die Gewinnerinnen und Gewinner des Concours Géza Anda in Zürich erhalten für drei Jahre ein kostenloses Management durch die gleichnamige Stiftung. Den Preisträgerinnen und Preisträgern der Van Cliburn International Piano Competition in den USA werden für einen Zeitraum von drei Jahren nationale und internationale Konzerttourneen garantiert.
Im deutschen Sprachraum ist der Internationale Musikwettbewerb der ARD in München hervorzuheben. Er wird jährlich ausgetragen, allerdings wechseln die Kategorien permanent. Pianistinnen und Pianisten haben jedes dritte Jahr die Gelegenheit zur Teilnahme, Geigerinnen und Geiger alle vier Jahre, weniger gespielte Instrumente noch etwas seltener. Die Preisträgerliste des 1952 gegründeten Wettbewerbs liest sich wie das „Who‘s Who“ der Klassikszene: Neben vielen anderen großen Namen scheinen darin Heinz Holliger, Christoph Eschenbach, Robert Holl, Thomas Quasthoff, Jessye Norman, Anne Sofie von Otter und Mitsuko Uchida auf.
Doch wie wird man eigentlich eine Wettbewerbsgewinnerin bzw. ein Wettbewerbsgewinner? Reicht es aus, besser zu spielen als die anderen, oder sollte man vielleicht doch jemanden aus der Jury kennen? Und was heißt eigentlich „besser spielen?“ Kann man künstlerische Leistungen denn abmessen und vergleichen wie die Hundertstelsekunden beim Skirennen? Wie kann es je einen objektiven Maßstab dafür geben? Damit sind wir bei der zentralen Instanz aller Wettbewerbe – ungeliebt, gefürchtet und oft verteufelt: Es handelt sich um die Jury.
Anders als im Pop-Bereich werden Juryentscheidungen bei den meisten klassischen Wettbewerben geheim gefällt: Jede Jurorin und jeder Juror erhält einen Stimmzettel und notiert darauf die Bewertung. Niemand weiß, wie die anderen Jurorinnen und Juroren abstimmen, und am Ende zählt lediglich das mathematische Ergebnis. Zu Diskussionen innerhalb der Jury kommt es nur in Ausnahmefällen, etwa bei einer Pattsituation zwischen zwei Kandidatinnen und/oder Kandidaten oder wenn aufgrund fehlender Spitzenleistungen die Vergabe des 1. Preises infrage gestellt wird. Die Praxis der geheimen Bewertung soll verhindern, dass die Jurymitglieder einander beeinflussen, hat aber auch Nachteile.
Die Jury eines klassischen Wettbewerbs bildet ein Gremium, das „mit einer Stimme spricht“. Wer wen warum wie bewertet hat, erfährt man als Außenstehende bzw. Außenstehender meistens nicht, und gerade diese Geheimniskrämerei bildet einen idealen Nährboden für Spekulationen und Verschwörungstheorien.
Um einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und Musikwettbewerbe aus Sicht der Jurorinnen und Juroren zu erforschen, habe ich vor einigen Jahren eine Reihe von Jurymitgliedern klassischer Klavierwettbewerbe interviewt. Viele davon berichteten ausführlich über ihre Erfahrungen – die Erkenntnisse werden im Folgenden kurz dargestellt.
Keine der befragten Personen glaubte ernsthaft an die Möglichkeit einer objektiven Bewertung von Kunst. Doch je größer eine Jury besetzt sei, umso höher sei die Chance auf ein faires Resultat. Im Idealfall seien Männer und Frauen verschiedenen Alters in der Jury vertreten. Auch unterschiedliche Herkunftsländer, künstlerische Prinzipien und „Schulen“ sollten abgedeckt werden. Damit könne auch die Gefahr gegenseitiger Beeinflussung und Manipulation reduziert werden. „Mafiöse Schiebereien“ und Absprachen sind nach Ansicht einer interviewten Jurorin zwar meist unter der Würde von Jurymitgliedern, gefährlich sind aber „im Halbbewusstsein stattfindende Bemerkungen“. In jeder Gruppe bilde sich von selbst eine Hierarchie und ein beiläufiger Kommentar der Meinungsführerin bzw. des Meinungsführers – etwa beim Abendessen zwischen zwei Runden – könne schon ausreichen, um die Wahrnehmung der anderen Jurymitglieder zu verzerren. Deshalb sei es entscheidend für die Qualität eines Wettbewerbs, möglichst reife und selbstständige Menschen als Jurorinnen und Juroren zu bestellen.
Über ihre Urteilsbildung befragt, gaben vor allem ältere und erfahrene Jurymitglieder an, spontan nach dem Gesamteindruck zu werten und sich auf ihr Gefühl zu verlassen. Sie würden sich während des Zuhörens höchstens flüchtige Notizen machen. Andere Jurorinnen und Juroren wiederum versuchen, den Höreindruck in einzelne Kategorien aufzuschlüsseln, und legen sich regelrechte Tabellen an, um zu einem fundierten Urteil zu gelangen.
Technik und Sicherheit gehören einerseits zu den wesentlichen Kriterien, bilden andererseits gerade bei großen Profiwettbewerben eher eine Voraussetzung, um überhaupt teilnehmen zu dürfen. Von einer Wettbewerbskandidatin bzw. einem Wettbewerbskandidaten werden heutzutage ein nahezu fehlerfreies Spiel und eine absolute Beherrschung des Instruments erwartet. Diesbezügliche Mängel schlagen unweigerlich auf das Ergebnis durch.
Das zentrale Kriterium für sämtliche Jurorinnen und Juroren ist die musikalische Gestaltung. Sie umfasst im Grunde alles, was über die Reproduktion der richtigen Noten hinausgeht: Klang, Tempo, Dynamik, rhythmische Gestaltung und Agogik. All diese Einzelaspekte sollten freilich in ihrem Zusammenwirken eine stimmige und individuelle Interpretation ergeben. Auch stilistische Sicherheit wurde mehrfach als wichtiger Punkt erwähnt. Was jedoch im Einzelfall als gut oder schlecht empfunden wird, unterscheidet sich je nach der bewertenden Person sehr stark. Viele Jurorinnen und Juroren berichteten von großen Streuungen innerhalb der Jury. Große Einigkeit herrsche meistens nur bei eindeutig guten oder schlechten Kandidatinnen und Kandidaten. Dazwischen komme es oft zu ziemlich willkürlich anmutenden Bewertungen – weil die Geschmäcker eben verschieden seien und jede Jurorin und jeder Juror den Fokus auf andere Aspekte einer Interpretation lege.
Für manche Jurorinnen und Juroren spielen das Auftreten und die Bühnenpräsenz der Kandidatinnen und Kandidaten eine wesentliche Rolle, sind sie doch untrennbar mit der musikalischen Darbietung verbunden. Andere blenden diesen Faktor völlig aus, hören lieber mit geschlossenen Augen zu und konzentrieren sich nur auf die Musik selbst. Sie würden es begrüßen, wenn die Kandidatinnen und Kandidaten hinter einem Vorhang spielen würden, wie es bei Orchester-Probespielen der Fall ist.
Auch beim Punkt „Alter der Kandidatinnen und Kandidaten“ scheiden sich die Geister. Bei den meisten Profiwettbewerben gibt es ohnehin eine Altersgrenze, die meist zwischen 28 und 32 Jahren liegt. Die Sympathien liegen tendenziell bei den jüngeren Kandidatinnen und Kandidaten: Ein Achtzehnjähriger vermag mit einer starken Leistung viele Jurorinnen und Juroren eher zu beeindrucken als ein um zehn Jahre älterer Kandidat, der gleich gut spielt. Manche Jurorinnen und Juroren gaben allerdings an, dass das Alter der Kandidatinnen und Kandidaten absolut irrelevant für sie ist.
Die Herkunft der Kandidatinnen und Kandidaten sollte eigentlich keine Rolle spielen, und doch gaben einige der befragten Jurorinnen und Juroren freimütig zu, gewisse Vorurteile zu hegen. Eine befragte Jurorin ist bei russischen und anderen osteuropäischen Kandidatinnen und Kandidaten von vornherein skeptisch, da sie ihrer Erfahrung nach sehr oft ein mangelndes Stilgefühl mitbringen, etwa bei Werken der Wiener Klassik. Bei großen und renommierten Wettbewerben spielt auch eine Portion Patriotismus mit: Manche Jurorinnen und Juroren halten es durchaus für legitim, Kandidatinnen und Kandidaten aus ihrem eigenen Herkunftsland einen kleinen „Bonus“ anzurechnen.
Besonders heikel für Jurorinnen und Juroren ist der Umgang mit Kandidaten, die ihnen persönlich bekannt sind. Ihre eigenen Schülerinnen und Schüler dürfen sie im Normalfall zwar nicht bewerten, aber die Klassikszene ist überschaubar und es kommt immer wieder vor, dass Jurorinnen und Juroren eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten aus dem Hochschulbetrieb, von einem anderen Wettbewerb oder einem Meisterkurs kennen. Spielt die Kandidatin bzw. der Kandidat dann in der Wettbewerbssituation nicht überragend, bewerten ihn viele Jurorinnen und Juroren im Wissen um ihr bzw. sein „wahres Können“ trotzdem gut. Das mag aus Jurorensicht verständlich sein, ist aber nicht fair gegenüber den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Natürlich kann auch ein negatives Vorwissen das Urteil beeinflussen.
Noch problematischer wird es, wenn es sich bei Wettbewerbskandidatinnen und -kandidaten um Schülerinnen und Schüler einer ungeliebten Kollegin bzw. eines ungeliebten Kollegen handelt. Eines der häufigsten Vorurteile lautet denn auch, dass viele Wettbewerbe in Wirklichkeit nicht zwischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, sondern zwischen deren Professorinnen und Professoren stattfinden. Eifersüchteleien und Konkurrenzneid werden auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler ausgetragen. Die befragten Personen kannten diesen Vorwurf und bestätigten, dass dies speziell bei kleinen Veranstaltungen oft tatsächlich der Fall ist. Auch hier gilt: Je größer und international besetzter die Jury ist, umso geringer ist die Gefahr für derartige Auswüchse. Ein Juror meinte im Gegenteil, dass er talentierten Kandidatinnen und Kandidaten oft so manche Schwäche verzeihe, wenn er der Ansicht sei, diese sei auf die Lehrerin bzw. den Lehrer zurückzuführen.
Was den Bewertungsmodus anbelangt, so ist nach wie vor das Punktesystem am verbreitetsten. Die Skala reicht bei vielen Wettbewerben von 0 bis 25, manchmal auch von 0 bis 100. Vor der Addition der Punkte am Ende jeder Runde werden oft die höchste und die niedrigste Note gestrichen. Der Vorteil des Punktesystems ist, dass es feine Abstufungen erlaubt. Allerdings hat es auch seine Tücken, wie ein Juror mehrfach beobachtete und an folgendem Beispiel demonstrierte: Wenn auf eine eher schwache Kandidatin, die man mit 15 von 25 Punkten bewertet habe, eine gute folge, gebe man dieser vielleicht 18 Punkte, denn das sei ja ohnehin deutlich besser. Folge dieselbe Kandidatin aber auf eine Spitzenleistung mit 25 Punkten, so zöge das auch ihre eigene Bewertung in die Höhe und sie erhielte 21 oder 22 Punkte.
Ein großes Problem ist für viele Jurorinnen und Juroren die Punktevergabe ganz am Beginn des Wettbewerbs, wenn sie noch nicht „eingehört“ sind. Meist werde am Anfang eher vorsichtig benotet und nach dem ersten Ausreißer nach oben würden sich die Werte irgendwo in der Mitte einpendeln. Aufgrund dessen seien die ersten Kandidatinnen und Kandidaten eines Wettbewerbs meist chancenlos, wie ein Juror freimütig zugab. Manche Wettbewerbe tragen diesem Umstand Rechnung, indem nicht sofort nach jeder Kandidatin bzw. jedem Kandidaten bewertet wird, sondern erst am Ende der Runde. Bei einem großen Teilnehmerfeld könne dann jedoch das Problem auftreten, dass man sich als Jurorin bzw. Juror nicht mehr genau an die ersten Kandidatinnen und Kandidaten erinnere oder gar Teilnehmerinnen oder Teilnehmer miteinander verwechsele.
Allmählich setzt sich bei vielen Wettbewerben ein einfacheres Bewertungssystem durch: Dabei werden keine Punkte vergeben, sondern nach jeder Runde lediglich die Namen jener Teilnehmerinnen und Teilnehmer notiert, welche nach der Meinung der Jurorin bzw. des Jurors ein Weiterkommen in die nächste Runde verdient haben. Ein Vorteil dieses Systems liegt darin, dass es ein strategisches Hinunterpunkten einzelner Kandidatinnen und Kandidaten nicht zulässt. Denn auch das gebe es immer wieder: Teilnehmerinnen und Teilnehmer würden nicht etwa aufgrund ihrer Leistung schlecht bewertet, sondern weil sie eine Gefahr für die eigene Favoritin bzw. den eigenen Favoriten darstellen würden. Nach der Aussage eines der befragten Juroren passieren die größten Skandale in dieser Hinsicht meist in der ersten Runde, bevor das Publikum seinen Liebling hat.
Das Urteil einer Jury deckt sich nicht unbedingt mit den individuellen Entscheidungen der einzelnen Jurorinnen und Juroren. Laut einer der befragten Personen passiert es nicht selten, dass am Ende eines Wettbewerbs sämtliche Jurymitglieder überrascht auf das Ergebnis reagieren, obwohl doch jede und jeder Einzelne von ihnen am Urteil beteiligt gewesen ist. Ein anderer Juror machte die Erfahrung, dass oft die unscheinbarsten Kandidatinnen und Kandidaten in die nächste Runde weiterkommen – Musikerinnen und Musiker, die gut, aber nicht herausragend spielten. Viele davon würden von ihren Lehrerinnen und Lehrern gezielt auf Wettbewerbe hin gecoacht. Sie böten eine solide, dem Zeitgeschmack entsprechende Interpretation, würden aber nicht allzu viel riskieren, um ja bei niemandem anzuecken. Auf diese Weise würden sie es oft sehr weit schaffen. Wie mehrere Jurorinnen und Juroren betonten, werde aber spätestens im Finale großer Wert auf Individualität gelegt und auch so manche Exzentrikerinnen und Exzentriker hätten bereits Wettbewerbspreise gewonnen.
Bei allen Nachteilen und Problemen im Zusammenhang mit Wettbewerben – sie sind in der Musikbranche nun einmal allgegenwärtig, und sich davor zu drücken, ist für junge Musikerinnen und Musiker am Beginn ihrer Karriere auch keine Lösung. Man sollte also zu Wettbewerben gehen und die Teilnahme als Ziel einer konzentrierten Vorbereitung sehen. Man sollte nicht nur den Konkurrenzgedanken im Kopf haben, sondern Wettbewerbe als Gelegenheit sehen, um Gleichgesinnte kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Das Ergebnis eines Wettbewerbs sollte man niemals allzu ernst nehmen, denn: „Wenn man auf dem Niveau ist, um preisverdächtig zu sein, dann ist es sehr viel Glückssache“, wie eine befragte Jurorin meinte.
„Ein Wettbewerb ist eine Momentaufnahme, es ist wie auf einem Schnappschuss“, sagte ein anderer Juror. „Einmal hat man halt einen schiefen Mund und ein anderes Mal ist man gut getroffen!“ Und ein weiterer Juror gab den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen weisen Ratschlag mit auf den Weg: „Geh mit offenen Augen und mit offenem Herzen hin und schau, was du mitnehmen kannst!“
Hannes Oberrauter
Die Diskussions-, Vortrags- und Artikelreihe mica focus wird unterstützt durch die Abteilung für Wissenschafts- und Forschungsförderung der MA7 Wien.