„Wenn man etwas zu zweit macht, muss man mehr sprechen.“ – Clara Iannotta und Christof Dienz (Klangspuren Schwaz) im mica-Interview

Das Tiroler Festival für zeitgenössische Musik KLANGSPUREN SCHWAZ startet am 8. September in seine 29. Runde und hat nun nach recht kurzatmigem Intendantenwechsel seit Mai 2021 ein gemischtes Doppel in der künstlerischen Leitung: die Komponistin und Kuratorin CLARA IANNOTTA und den Komponisten und Multiinstrumentalisten CHRISTOF DIENZ. Dem Festivalschwerpunkt, neue Publikumsschichten zu erschließen, begegnet das Intendantenduo mit einer frischen Marke: dem Future Lab.

Wie ist es denn dazu gekommen, dass ihr die Festivalleitung der Klangspuren Schwaz zu zweit tragt?

Christof Dienz: Thomas Larcher hat vor zwei Jahren die Obmannschaft für die Klangspuren Schwaz übernommen und fragte mich, wer die künstlerische Leitung innehaben sollte. Meine Antwort war: eine Frau. Ich schlug Clara Iannotta vor, weil sie international so wahnsinnig gut vernetzt ist. Die Bedingung an die künstlerische Leitung war aber, hier vor Ort zu sein. Also überlegten wir uns die Kombination einer gemeinsamen Leitung. Ich bin hier in Tirol und in der österreichischen Musikszene sehr gut vernetzt und kenne mich recht gut in den Grenzbereichen der Neuen Musik aus, die ich aus dem akademischen Bereich und der so klar selbstdefinierten Neue-Musik-Szene herausholen möchte. 

Und wie habt ihr zu einer gemeinsamen Ausrichtung, einem Schwerpunkt für das diesjährige Festival gefunden?

Clara Iannotta: Obwohl wir einander kennen, haben wir bislang noch nie zusammengearbeitet. Es war also erst einmal wichtig, ästhetische Gemeinsamkeiten zu finden. Wir sind sehr verschieden und fokussierten uns deshalb auf Komponistinnen und Komponisten bzw. Künstlerinnen und Künstler, die in einem Dazwischen arbeiten. Oftmals sind sie Komponierende und Performende zugleich und bewegen sich auf einer verschwimmenden Grenze zwischen den Ästhetiken; Christof ist auch selbst nicht nur Komponist, sondern auch Instrumentalist. Und es gibt einige Künstlerinnen und Künstler dieser Art: Jennifer Walshe zum Beispiel, Matthew Shlomowitz, der ihr Stück „Minor Characters“ performen wird, auch 5K HD usw. Erst einmal erkundeten wir die Unschärfen zwischen unseren Unterschieden. Das war ziemlich spannend und stellte unsere Herangehensweise beim Erstellen unseres ersten gemeinsamen Festivalprogrammes dar.

War Begegnung womöglich bewusstes oder unbewusstes Leitmotiv? Es gibt in den Konzerten oft Begegnungen: von sehr alter mit sehr neuer Musik, von arrivierten und ganz jungen Komponierenden, von Kunstlied mit Orchestermusik …

Clara Iannotta: Wir diskutierten viel über die Frage, ob wir ein Motto oder Thema brauchen, und kamen zu dem Schluss, dass wir in unserem ersten Jahr der gemeinsamen Festivalleitung keines haben wollten. Dennoch gibt es etwas, dass das ganze Programm verbindet, beispielsweise die visuelle Präsenz zu Beginn und am Programmende wie eine Rahmung. Mitten im Programm gehen wir zurück in die Vergangenheit mit Eva Reiter, die Musik des Barock auf alten Instrumenten spielt, oder Chaya Czernowins Vokalstück „Immaterial“, das sie selbst Madrigal nennt. Wir wollten nicht nur eine Sache abbilden, vielmehr ein erstes Festival gestalten, das die Differenzen, die Vielgestaltigkeit, auch die Interdisziplinaritäten innerhalb gegenwärtiger Musik zeigt, und ihm dadurch einen Sinn und eine Richtung geben. All die Möglichkeiten erkunden, die Neue Musik offeriert. Junge Komponierende sind dafür von extremer Bedeutung. Deshalb ist es so wichtig, das Festival für sie zu öffnen. Neue Musik hat sich dermaßen entwickelt und ist nicht mehr eine in sich geschlossene Kategorie.

Deswegen auch das „Future Lab“ als die neue Marke der „Klangspuren Akademie“?

Clara Iannotta: Die Klangspuren haben eine lange Tradition pädagogischer Projekte wie die „Internationale Ensemble Modern Akademie“ („IEMA“), die einen großen Teil des Festivals bildeten. Wir wollten nun mal etwas anderes machen. Also schufen wir die erste „Composers Academy“ und das „Chamber Music Lab“ für Kammermusik.

„Meine Hoffnung ist, den jungen Musikerinnen und Musikern ein Initialerlebnis zu verschaffen, das sie darin stärkt, Musikerin bzw. Musiker werden zu wollen.“

Christof Dienz: Und „konsTellation plus“ ist eine Alternative zur „IEMA“, die es über lange Jahre bei den Klangspuren gegeben hat. Sie arbeitete mit tollen internationalen Musikerinnen und Musikern zusammen, hat aber die lokale Szene hier nicht erreicht. Die jungen Musizierenden der Region einzubeziehen, war mir sehr wichtig, schließlich gibt es ein Konservatorium in Innsbruck, dessen Ensemble KONStellation von Ivana Pristašová, Geigenprofessorin am Konservatorium und Geigerin bei PHACE, geleitet wird. Mein Ansatz war, die Ressourcen vor Ort zu nützen und ihnen eine Plattform zu bieten, die sie ohne das Festival schon aus finanziellen Gründen nicht hätten. Da gibt es zum einen Konzerte, die sie in der Auslage spielen können, und zum anderen den Kontakt zu internationalen Musizierenden und die Möglichkeit, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Meine Hoffnung ist, den jungen Musikerinnen und Musikern ein Initialerlebnis zu verschaffen, das sie darin stärkt, Musikerin bzw. Musiker werden zu wollen. Jede Musikerin und jeder Musiker hat so ein Erlebnis in seiner Biografie. Auch mit dem Musikgymnasium in Innsbruck arbeiten wir zusammen. Dessen noch einmal jüngeren Schülerinnen und Schüler gestalten die Klangwanderung. Mit ihnen zusammen ein Programm zu erarbeiten, hat sehr viel Spaß gemacht. Die 17-jährige Komponistin Mailin Hartlieb aus dem Musikgymnasium haben wir sogar beauftragt, ein Stück zu schreiben, das bei der Klangwandwanderung zur Uraufführung gelangen wird. So schaffen wir Erlebnisse für junge Leute, die sie hoffentlich nicht so schnell vergessen und sie inspirieren, weiterzumachen. Wir erweitern das Streicherensemble KONStellation um Blasinstrumente und Professoren des Konservatoriums, um ein höchstmögliches Niveau zu liefern. Das sind wir dem Publikum und uns selbst schuldig und es soll auch ein Ansporn für die Studierenden sein.

Aufgeführt wird dann neben Werken von Charles Ives, Jörg Widmann und Justė Janulytė das „Recycling Concerto“ von Gregor Mayrhofer.

Christof Dienz: Das ist ein Stück für Schlagwerk für Abfall und Ensemble. Das Thema Umwelt ist ja hochaktuell und erfährt hier eine witzige Bearbeitung.

Clara Iannotta: Es ist für diese superjungen Musizierenden hoffentlich auch spannend, einen Zugang zu Werken von lebenden Komponierenden zu bekommen, sie verbringen ja die meiste Zeit damit, Werke toter Komponisten zu spielen. Und auch der Aspekt, Musik mit allem Möglichen zu machen, ist vielleicht eine wichtige Erfahrung.

Sind alle Uraufführungen Auftragswerke des Festivals?

Christof Dienz: Alle Uraufführungen sind zumindest Co-Commissions oder eben Einzelaufträge der Klangspuren. Das Riot Ensemble aus London ist als Ensemble in Residence für das „Composers Lab“ zuständig. Junge Komponierenden arbeiten mit ihm zusammen eine Woche an ihren Stücken und bringen sie dann zur Aufführung. Zusätzlich bringt das Riot Ensemble ein Konzert mit Werken aus seinem Repertoire, mit dem es sich selbst vorstellt.

Clara Iannotta: Wir bekamen die Leitung des Festivals im Mai 2021 und Komponierende brauchen manchmal mehr als ein Jahr, um ein Stück zu schreiben. Ich glaube, vor diesem Hintergrund haben wir eine gute Mischung aus Uraufführungen und österreichischen Erstaufführungen erzielt. Das Eröffnungskonzert wurde von den Klangspuren beauftragt, im zweiten Konzert gab es für „Archora“ von Anna Thorvaldsdottir eine Co-Commission. Aufträge erhielten zum Beispiel auch Martin Brandlmayr, Jennifer Walshe und Matthew Shlomowitz. Für das Riot Ensemble erhielten Naomi Pinnock und Alex Paxton einen Auftrag für ein Werk. Wir haben versucht, beides zu ermöglichen: ein Stück zu vollenden, aber es auch zur Aufführung zu bringen und dem Stück zu neuem Leben zu verhelfen.

Studio Dan (c) Julia Wesely
Studio Dan (c) Julia Wesely

Wird auch mit Aspekten von Pop durch 5K HD oder Jazz und elektronischer Tanzmusik durch Studio DAN beispielsweise versucht, das Feld der Gegenwartsmusik weiter zu spannen?

Christof Dienz: Das sind alles Hilfsausdrücke, die den Kern der jeweiligen Musiken gar nicht treffen. Gerade das Projekt von Studio DAN ist schwer zu fassen, weil es sich aus so vielen Elementen speist. Nicht zuletzt durch den Schlagzeuger Bernhard Breuer, der ja auch bei Elektro Guzzi am Schlagzeug sitzt, bekommt es eine Tendenz in Richtung Clubmusik, aber die Musikerinnen und Musiker kommen auch aus dem Jazz, Karolina Preuschl könnte man als Dada-Sängerin mit Wiener Schmäh beschreiben, und der Komponist und Ensemble-Leader Daniel Riegler bringt auch noch sein Eigenes hinein. Der Titel Studio DAN rekurriert ja auf die Zappa-Platte Studio Tan, Zappa ist also so ein Übervater für dieses Ensemble. Daraus kann man dann schon ablesen, dass es um sehr viele Einflüsse bei diesem Ensemble geht, auch Improvisation, freies Spielen ist wichtig – ein schönes Beispiel für Ensembles, deren Musik man fast nicht mehr einordnen, höchstens Einflüsse beschreiben kann, die darauf einwirken. Das gilt auch für 5K HD: Eine quasi Pop-Band hat es bei den Klangspuren wahrscheinlich so auch noch nie gegeben, erst recht nicht mit einem Kompositionsauftrag versehen. Unser Ansatz ist eben auch, dass man jemanden wie Manu Mayr, der zwar kein studierter Komponist ist, aber sich wahnsinnig mit Klang, Ästhetik und elektronischen Möglichkeiten beschäftigt, damit beauftragt, eben nicht für Sinfonieorchester zu schreiben, wo es Leute gibt, die den Apparat besser beherrschen. Sondern dass wir seine supereigensten Fähigkeiten fördern und ihm eine Plattform geben, in seinem Element, in dem er zuhause ist, zu experimentieren und etwas Neues zu schaffen.

5K HD (c) Hanna Fasching
5K HD (c) Hanna Fasching

Notation ist im „Composers Lab“ ein großes Thema …

Christof Dienz: Die Notation spielt eine sehr wichtige Rolle. Bei einigen Stücken der Teilnehmenden des „Composers Labs“ sind oftmals Klänge nicht bis ins kleinste Detail, stattdessen eine Spieltechnik oder interpretierbare Begriffe vorgegeben. Es ist also bei manchen Stücken zur Notation auch der Klang interpretierbar.

Greifen wir auf Vergangenes zurück, um unserer Gegenwart habhaft zu werden?

Clara Iannotta: Die Verbindung von Komponistinnen und Komponisten bzw. Künstlerinnen und Künstlern zur Geschichte kann extrem bedeutsam und spannend sein. Es gibt dann den deutlichen Geruch der Vergangenheit, und nach dem Neuen muss man erst schauen, es ist (noch nicht) gegeben. Heute morgen las ich den Text, den Martin Brandlmayr Alex Paxton brachte, der als einer der sehr jungen Komponisten ein Stück für das Riot Ensemble geschrieben hat: Er handelte von der Beziehung zur Popkultur. Auch Jenny Walsh oder Martin Shlomowitz pflegen eine Beziehung dazu. Es ist ja auch wichtig, eine lebendige Verbindung zum Publikum zu halten. Wir können (noch) keine Komponistinnen und Komponisten aufführen, die die Vergangenheit vollkommen zurückweisen. Besser mit der Geschichte arbeiten und einen eigenen Weg dazu finden. Ich selbst habe mich noch nie mit einer Komposition auf einen Text bezogen. Aber was immer dem Komponisten bzw. der Komponistin hilft, ein Stück zu schreiben, ist erwünscht. Den größten Teil des heutigen Tages habe ich einen Text über George Lewis’ „Memex“gelesen, das ja ebenfalls auf die Vergangenheit verweist. Zeit, Geschichte oder Vergangenheit kann in vielen der Kompositionen der diesjährigen Klangspuren gelesen werden, aber jede findet einen anderen Zugang.

Lassen sich über das Musikschaffen möglicherweise auch Auswege aus den derzeitigen Zuständen finden, wenn Manu Mayr beispielsweise mit den Strukturen von Kollaps anstatt dagegen zu arbeiten versucht und sich im Schlusskonzert in Fausto Romitellis „An Index of Metals“ Melancholie, aber auch Euphorisches ausdrückt?

Christof Dienz: Der Kern in Manu Mayrs Arbeit ist, ohne dass ich das Stück kenne, sich vor allem als Bassist in die Möglichkeiten elektronischer Effekte und elektroakustischer Phänomene zu vertiefen. In seinem Duo schtum arbeitet er ja beispielsweise auch mit Feedback. Und bei „Aesthetics of Collapse“ versucht er, sich dem Umgang mit etwas anzunähern, das eigentlich abgelehnt wird, also ein Problem zu beherrschen und aus der Beherrschung Kreativität zu schöpfen. Tatsächlich sieht das dann so aus, dass er formal ziemlich viel niederschreibt – also kleine Modelle, große Form. Aber dazwischen gibt es auch Freiraum für die einzelnen Musizierenden, denn so arbeitet das Ensemble 5K HD. Innerhalb der Struktur kann sich jede und jeder ein Stück weit bewegen, wozu die Sängerin Mira Lu Kovacs’ Texte beiträgt, an denen sich Songstrukturen entwickeln lassen. Inwieweit diese Songstrukturen in das Stück einfließen, wird sich erst noch zeigen. Im Festivalprogramm gibt es auch etliche notierte Improvisationen, aber der eigentliche Klang wird trotzdem erst von der Musikerin bzw. dem Musiker ausgestaltet.

Christof Dienz und Clara Iannotta (c) Astrid Ackermann
Christof Dienz und Clara Iannotta (c) Astrid Ackermann

„Vielleicht überzeugst du nicht jeden. Aber der einzige Weg, Zuhörende zu erreichen, ist, ihnen zu vertrauen.“

Steckt da auch ein Versuch dahinter, Neue Musik zugänglicher zu machen?

Clara Iannotta: Nein, da bin ich komplett dagegen. Natürlich können wir einen Zugang zu den wichtigen Stellen der Stücke aufzeigen, aber das kann nicht bedeuten, Stücke simpler zu gestalten, damit sie leichter verstanden werden. Wir sollten dem Publikum vertrauen, dass es verstehen wird. Wir müssen nichts vereinfachen. Extrem komplexe Strukturen wirken von Weitem manchmal total einfach, wohingegen vermeintlich Einfaches sehr kompliziert sein kann. Wir gewinnen Publikum, indem wir zeigen, was die Szene Großartiges zu bieten hat. Also müssen wir versuchen, diese Szene sichtbar, aber auch erreichbar zu machen. Ich erinnere mich, als 2016 ein sehr lautes Stück von mir in der voll besuchten Walt Disney Concert Hall gespielt werden sollte. Ich war verunsichert, wollte ja nicht, dass die Menschen verrückt werden. Also beschloss ich, dem Publikum zu vertrauen. In dem Moment, in dem du Menschen guter Musik aussetzt, werden sie auch verstehen. Vielleicht überzeugst du nicht jeden. Aber der einzige Weg, Zuhörende zu erreichen, ist, ihnen zu vertrauen.

Für ebenjene Zugänge gibt es zu manchen Konzerten Einführungsgespräche. Was wird da passieren?

Clara Iannotta: Die Komponierenden werden sich vorstellen, ihre Geschichte zum jeweiligen Stück erzählen oder den Kompositionsprozess beschreiben. Es sind ja sehr viele junge Komponierende, die dem Publikum noch unbekannt sein dürften. Sich und seine Arbeitsweise in Geschichten vorzustellen, baut Brücken zwischen den Komponierenden und ihren Stücken hin zu den Zuhörenden. Dann können auch kompositorische Vorstellungen im Stück besser erkannt werden.

Christof Dienz: Es können auch ganz alltägliche Dinge sein, die für das Publikum interessant sind. Auch hier ist es eine Möglichkeit, das Publikum an die Musik heranzuführen, ohne an der Musik selbst Kompromisse machen zu müssen. Es gab eine Zeit in der Neuen Musik, da wehte der Geist: Friss oder stirb! Das hat sich geändert. Und das ist gut so. Vor allem geht es um den Dialog und Austausch zwischen Komponierenden und Publikum. Wir haben uns dafür auch einen Fragenkatalog an die Komponistinnen und Komponisten überlegt –  die Antworten werden nach und nach auf der Website zu finden sein.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock (Sprechgold)

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Christof Dienz (music austria Datenbank)
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