Wenn der Balkan in die Stadt kommt

War da was? Wer die aktuell vorgelegte Studie “Balkanboom – Eine Geschichte der Balkanmusik in Österreich” von Andreas Gebesmair, Anja Brunner und Regina Sperlich liest und sich dabei die Mühe macht, einige der in dieser Studie genannten Akteure nach diesem vermeintlich seit der Jahrtausendwende grassierenden, anstürmenden oder versiegenden Balkanboom zu befragen, erhält durchaus widersprüchliche Antworten. Text Harald Justin.

Krzysztof Dobrek, ein polnischer, in Wien lebender Akkordeonist, der mit seiner Band Dobrek Bistro eine Musik macht, die naive Zuhörer leicht für Musik vom Balkan halten könnte und dessen Name im Zusammenhang mit Balkanmusik immer wieder genannt wird, weist leicht verärgert eine derartige Kategorisierung zurück. „Ich mache doch keine Balkanmusik. Ich doch nicht!“ Richard Schuberth, als mehrmaliger Organisator des Balkan Fever-Festivals und als Musikjournalist zentrale Figur des balkanesken Musikgeschehens in Wien, meint auf die Frage, was es mit dem Balkanboom auf sich habe, nur lakonisch: „Balkanboom? Gab es den? Wenn es ihn gab, ist er weg, oder? Von welchem Balkanboom redest Du?“ Und der Frankfurter Shantel, ehemals DJ Shantel, der erst mit seinen Remixes der traditionellen Musiken der Fanfare Ciocarlia oder der Taraf de Haiouks den vielgepriesenen Bucovina Club auf den Tanzflächen Europas eröffnete und der Wien mit seiner Balkan-Szene als „sein Wohnzimmer“ betrachtete, möchte im Jahr 2013 von seiner Rolle beim so genannten Balkanboom nichts wissen. „Ich habe mit dieser Balkanmusik und diesem Hype eigentlich nichts am Hut. Mir ging es um meine Selbstverwirklichung als Musiker, als Künstler. Deshalb interessieren mich viele Musiken, nicht nur die des Balkans. Jetzt ist es die frühe Rockmusik, die hat so eine punkige Energie. Darum geht es mir.“ Und Slavko Ninic, Sänger, Gitarrist aus Slawonien/Kroatien, der mit seiner Band Wiener Tschuschenkapelle 2014 das 25jährige Jubiläum feiert, macht deutlich, dass er Lieder aus dem Mittelmeerraum spiele, ansonsten aber wenig mit jener Musik zu tun hat, die in ex-jugoslawischen Kreisen als Turbo-Folk gefeiert wird. Auch von den Hochgeschwindigkeitsbläsern der diversen Fanfaren hält er wenig. „Unsere Musik ist viel vielfältiger als das, was als Balkanmusik gehandelt wird.“ Niemand will anscheinend das sein, was allgemein als „Balkan“ bezeichnet wird.

Der Balkan ist woanders

Auch jenseits von Wien, in Deutschland etwa, wo der Hype um die Musik aus dem wilden Osten dank der einpeitschenden, journalistischen Breitenwirkung und der Tätigkeit diverser Label höhere Wellen als in Österreich schlug, sind die Meinungen über das, was da passierte, durchaus zwiespältig. Bereits 2007 war in einigen deutschen Musikmagazinen von einem gewissen Aufatmen zu lesen: ein Glück, so hieß es, dass dieser Balkan-Boom vorbei sei! Waren damit die fünf Minuten Ruhm für Bands wie Fanfare Ciocarlia vorbei? Gleichzeitig feierten Bands wie Gogol Bordello Erfolge mit Madonna, erhielten als Gypsy-Punk-Bands gar den BBC World Music Award, wurden in den gleichen Magazinen, die sich vom Balkan-Boom verabschiedeten, in den höchsten Tönen gelobt. Währenddessen trat (DJ) Shantel vor begeisterten Menschenmengen auf. Was also passierte in der Szene – oder gab es gar mehrere Szenen, die in den Feuilletons und die auf den Tanzböden? Und es war durchaus ein Unterschied, wo man das erlebte, was man 2007 in Berlin gerade medial verabschiedete, von dem im Buch Balkanboom aber zu lesen war, dass „2007 der Hype in Wien nicht mehr zu übersehen war. Die lokalen und internationalen Stars der Balkanmusik gaben sich in den einschlägigen Clubs der Stadt die Klinke in die Hand.“

Eine damalige (2007) Befragung einiger Verantwortlicher ergibt zudem ein differenzierteres Bild. So sagte Matthias Winckelmann vom deutschen Label Enja Records, der mit Lubo Alexandrov und Toni Kitanovski zwei hochgelobte Musiker im Programm hatte, die auf intelligente Weise Musik ihrer Heimat mit Jazz-Elementen auffrischen: „Wir denken nicht in Kategorien wie ‚Boom’ oder ‚Hype’. Der Hype ist mehr ein Phänomen der industriell lancierten und medial gepushten Balkan Musik. Natürlich gibt es mehrere Szenen, die Szene die mich interessiert, ist eine mehr langfristige. Musiker wie Theodosii Spassov, Lubo Alexandrov, Ekrem Sajdic stehen fest auf beiden Beinen, da wackelt nichts.“ Wo Winckelmann auf künstlerische Werte setzte, da fand auch Jean Trouillet von Essay Recordings, der damit mitverantwortlich für das Shantel-Phänomen ist, keine sonderlich verständnisvollen Worte für die Presse: „Was habe ich nicht schon alles gelesen: wie viele Stile wurden hochgejubelt, um dann schnell wieder als „Schnee von gestern“ bezeichnet zu werden. Unvergessen: Die Zeitschrift TEMPO, die einmal einen mehrseitigen Weltmusik-Schwerpunkt setzte – und schon im nächsten Heft (!) eine halbe Seite brachte, die erklärte, warum Weltmusik das letzte sei. Die Medien brauchen immer eine neue Sau, die durchs Dorf getrieben werden kann.“

Ähnlich pressekritisch und auf Seiten der Künstler stehend, argumentierten Henry Ernst und Helmut Neumann; die in Deutschland das Label Asphalt Tango Label (u.a. Fanfare Ciocarlia), eines der erfolgreichsten Label bezüglich der Musiken des Balkans, betreiben: „Wir arbeiten seit Jahrzehnten mit Musikerinnen und Musikern aus Osteuropa zusammen – auch mit denen vom Balkan. Fanfare Ciocarlia haben von ihrem Debutalbum seit 1998 über 100.000 CDs verkauft, Konzerte sind seit Jahren kontinuierlich ausverkauft. Bereits1998 gab es in der Zeitschrift STERN ein 8-seitiges Feature über deren Erfolgstory, ein Kinofilm folgte. So gesehen können wir weder von einem Balkan-Boom reden, noch davon, dass dieser vorbei sei. Das einzig wirklich interessante Phänomen ist, dass das Publikum sich in den letzten 10 Jahren sehr verjüngt hat – und dass in den Medien erst jetzt ein Balkan – Hype hoch stilisiert wird, groteskerweise ausschließlich mit Acts, die wenig mit Balkan und nichts mit Gypsy zu tun haben“.

Eine differenzierende Sichtweise offerierte auch Christian Scholze, der mit seinem Label Network Medien Aufnahmen u.a. in Budapest (Ando Drom), Skopje (Esma Redezepova, Ferus Mustafov), Bulgarien (Bulgarian All Stars), Griechenland (Ross Daly, Petro-Lukas Chalkias & Kompania, Melina Kana, Psarantonis, Rumänien (Clejani Express) machte und Herausgeber wichtiger Anthologien wie „Balkan Blues“, „Gypsy Queens“, „The Diaspora of Rembetiko“, „Golden Brass Summit“ war. „Die Musikwelten des Balkans“, so Scholze, „sind vielfältig – die beiden spannenden und in den verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgeformten beiden Linien – wild-exzessive Tanzstücke hier und tieffühlige Balladen da – haben wir in ‚Balkan Blues’ versucht zu dokumentieren. Von ‚Balkan-Boom’ zu reden ist, das ist undifferenzierter Unsinn. Gemeint ist meistens nur der begrenzte Erfolg von Gypsy Brass-Bands. Erfolg haben sie auf den Festivals wegen ihrer lebendigen, mitreißenden Shows, Erfolg haben sie bei Remix-Tanz-Events, die als modische Erscheinung bei Jugendlichen gut ankommen. Letztere laden zu Mitklatsch- und Mithüpf-Parties ein, aus 7/8-Rhythmen werden mit Drum & Bass sonderbare, aber eingängige 4/4-Takte. Es droht die Wiederkehr des Immergleichen, die Austauschbarkeit. So fuhr ich vor einiger Zeit von einem Natasha Atlas-Konzert zu einer Show mit der Fanfare Ciocarlia: der Rhythmus war hier wie da von Anfang bis Ende fast immer der Gleiche.“ Musiker und Publikum im Einklang, Presseschelte sowieso, und klingt aus allen Antworten nicht auch eine gewisse Unsicherheit gegenüber medialen Phänomenen, gegenüber dem ungewohnten Einverständnis des Publikums mit einer plötzlich alle einigenden Trendmusik, die uns erneut mit dem Bild des Anderen konfrontierten?

Berliner Luft

Langer Vorrede kurzer Sinn: es ist nicht ganz sicher, was da eigentlich passierte, in Wien und Berlin, mit der Musik, den Musikern und Musikerinnen, der Presse und dem Publikum. Gab es den Balkanboom? Wenn nein, was war das, was wir hörten und wenn ja, wo spielte er, wenn nicht auf dem Balkan und wo überhaupt liegt dieser Balkan? Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek macht deutlich: „If you ask ‚Where do the Balkans begin’, you will always be told that they begin down there, towards the south-east. For Serbs, they began in Kosovo or in Bosnia where Serbia is trying to defend civilised Christian Europe against the encroachments of the Other. For the Croats, the Balkans begin in Orthodox, despotic and Byzantine Serbia, against which Croatia safeguards Western democratic values. For many Italians and Austrians, they begin in Slovenia, the Western outpost of the Slavic hordes. For many Germans, Austria is tainted with Balkan corruption and inefficciency; for many Northern Germans, Catholic Bavaria is not free of Balkan contamination.” Balkan, das ist immer das Andere; Balkan ist weit weg, und richtig ist auch, dass die Musiken des Balkans zwar dort entstanden sind, aber erst zu dem Phänomen der westlichen Pop-Musik wurden, als in Berlin in Folge der Balkankriege im ehemaligen Jugoslawien junge Flüchtlinge eintrafen, die – folgt man den einschlägigen Berichterstattungen – mit den ethnischen, sozialen und nationalistischen Unterscheidungen in ihren ehemaligen Heimatländern wenig anfangen konnten und sich in Berlin ins Nachtleben stürzten. Findige DJs nutzten die Vergnügungssucht und die Gunst der Stunde.

Robert Soko aus Kroatien machte alsbald als DJ Soko von sich reden; er war es, der ab 1996 mit „Balkanpartys“ und entsprechenden CD-Komplikationen einen Trend anschob. Der ausgleichenden Gerechtigkeit wegen muss betont werden, dass die Musik aus dem wilden Osten innerhalb der Berliner Szene nur ein Teil war: Jazz, Blues, Soul, Reggae und HipHop, Rap und Rock waren ebenso Bestandteil des urbanen musikalischen Geschmacks. Neben der „Balkannight“ standen die „Russendisko“, der „Technorave“ und die „Blue Hour“ im Jazz-Club. Und, ganz wichtig, um ein Gespür für den Vergleich zwischen Wien und Berlin zu bekommen: es gibt in Berlin kein mit dem Wienerlied vergleichbares Berlinerlied, es gibt in Berlin noch nicht einmal, wie in Wien und Österreich durchaus die Regel, einheimische Musiker, die sich auf irgendwelche volksmusikalische Wurzeln berufen können. Wenn Zisek richtig beobachtet, dass für Nord- oder Westdeutsche die Bayern schon vom Balkan „kontaminiert seien, dann stimmt diese Bebachtung allein schon deswegen, weil, anders als in Bayern, Nord- und Westdeutsche sich auf keinerlei volksmusikalische Traditionen mehr berufen.

Der urbane Bewohner Berlins kommt ohne den altbacken klingenden Klang der ländlichen Musikidylle aus; die klappernde Mühle am Bach, die aus dem Volkslied, dürfte keinem Berliner Schulkind noch ein Begriff sein. Insofern war es klar, dass für diejenigen Deutschen, die den Spaßfaktor an der Musik aus dem Balkan entdeckten, auch diese Musik nur eine unter vielen war. Sie wurde nicht als Teil einer Volksmusik gehörte, derer man sich im weitesten Sinn zugehörig fühlte. Sie war fremdartig, aber vor allem eine Ware, so wie jede andere Musik auch, eine Ware, die gut genug für eine Saison war, solange, bis eine neue Ware noch mehr Spaß versprach. Die vielbeschworenen „BalkanBeats“ machten Spaß, und da war es ziemlich nebensächlich, ob einer der Tanzenden wusste, aus welchem Land die Fanfare Ciocarlia stammte, wo Guca und die Bukovina liegen und wie die Gypsys in ihren Heimatländern leben. Die frühe These von André Malraux, dass im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit Kunst und Musik ihre Gebundenheit an Ort, Zeit und Funktion verlieren, dürfte sich selten besser bewahrheit haben als in der Rezeption der Musik vom Balkan. In Berlin, dort, wo mehrheitlich junge Deutsche mit jungen Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien tanzten, war es egal, woher die Musik kam, wo sie entstanden war und welchen Zwecken sie einst diente. Aus einem bulgarischen Hochzeitslied war ein flotter Partyhupferl geworden, beflügelt vom Wunsch nach einem wilden, abenteuerlichen Leben in ewiger, alkoholgeschwängerter, von schneller Musik vorangetriebener Partystimmung. Balkanbeats und Bläserfixe betrieben die zeitgemäße Fortsetzung der alten „Zigeunerromantik“, angefeuert auch durch die mit selbstironisch und märchenhaft aufbereiteten Klischees arbeitenden Filme vom Emir Kusturica.

Im kulturellen Gesamtpaket von Clubkultur, Film und Musikbeschallung wurde die Musik zu einer Ware, deren Wert sich tatsächlich erschöpfen musste. Und es ist nicht ganz unwichtig, dass sich, jenseits der Gastspiele der üblichen „Stars“ des Genres, in Berlin keine eigene Musikerkultur der Balkan-Szene etablieren konnte. Wer nach der Eventkultur und dem Getanze in den Clubs eine musikalische Nachhaltigkeit in der Szene erwartete, sah sich enttäuscht. Die sich kurze Zeit als deutschen Balkan-Queen in Berlin aufführende, rumänisch-deutsche Sängerin „Miss Platnum“ singt nach Abebben der Modewelle deutsche Schlager, und von weiteren musizierenden balkanesken Aktivposten der Berliner Szene ist nichts bekannt.

Dass 2007 verkündetet Endes des Balkan-Booms hieß aber nicht, dass damit die Qualität der Musik von den weiterhin aktiven Musikern des Balkans litt. Die Alben der Fanfare Ciocarlia erschienen weiterhin mit beeindruckend hoher musikalischer Qualität, und die Live-Auftritte der Mahala Brass Band blieben gleich gut, ob in Essen 2004 oder in Wien 2012. Aber ausgerechnet diese beiden Formationen stellen eben nur eine Spielart der reichen Musikkultur des Balkans dar. Dass ausgerechnet sie in Berlin und später in ganz Deutschland zum gehypten Trend werden konnte, war vorauszusehen. Dass dieser Trend eines Tage einem weiteren Trend weichen musste, war ebenso klar. Dass andererseits die Vielfalt der Balkanmusik dem Wechsel der Moden nicht unbedingt unterworfen sein musste, ist eine andere Geschichte. Sie klingt in Wien ganz anders als in Berlin.

Gewohnte Vorurteile

Von Berlin aus, ist der Balkan weit weg. Möglicherweise beginnt er in Bayern, aber wahrscheinlicher ist er noch weiter weg. (Außer, man zählt eben, Krzysztof Doberk wird es nicht hören wollen, Polen bereits zum Balkan.) In Wien hingegen ist der Balkan bereits Teil der Stadt. Bekanntlich beginnt er, so heißt es, bereits am innerstädtischen Rennweg. Anders als die Berliner, die sich in ihrer Vergangenheit nicht mit den Einwohnern von Südosteuropa auseinandersetzen mussten, diese kaum eine reale Bezugsgröße innerhalb des Alltagslebens in Berlin darstellten und erst durch die italienischen, türkischen und jugoslawischen Arbeitsemigranten zum Thema in der Stadt wurden, ist Wien dem Balkan traditionsgemäß seit Großmachtszeiten verbunden. Schon bei der Kaiserprozession 1908, als der österreichische Kaiser Franz Joseph das 60jährige Thronjubiläum mit einer Prozession feiern ließ, während der Vertreter im Herrschaftsgebiet Österreichs lebenden Völker und Ethnien aufmarschierten, offenbarte sich das besondere Verhältnis Österreichs zum Balkan. Schon damals machten man sich lustig über die Anderen. Im Text zu einer zeitgenössischen Karikatur hieß es, dass am Aufmarsch „Kroaten, und Ratselbinder, die Schlawiner und Mausfallenhandeler, die Hanaken, Scherenschleifer, die Betyaren, Huzulen und die Magyaren“ aufmarschierten. „Sie führten Tänze auf, fraßen Feuer und Schlangen und zeigten Sr. K.K. Apostolischen Majestät ihre bekannte Anhänglichkeit.“ Als wilde Barbaren, die die Städter erschreckten, so kamen die an, die in Wien fortan Traditionen des Fremdenhasses und der Vorurteile gegenüber dem Balkan und dessen Einwohner festschreiben halfen. Noch im Jahr 2014 ist es möglich, in einer Tageszeitung einen Text mit der Überschrift „Österreichs Justiz ist völlig kaputt“ zu schreiben und die Beschreibung der Kaputtheit des österreichischen Justizwesens mit dem Satz enden zu lassen: „Das ist tiefster Balkan.“ Das Schreckgespenst heult laut, und es treibt immer noch sein Unwesen, wenn „Balkan-Banden“ als wienweit agierende Einbrechergangs festgenommen werden.

Tatsächlich, der Balkan ist in der Stadt angekommen, was nicht zuletzt durch die Namenschilder an den Türen bezeugt wird, die serbischer, kroatischer, rumänischer, türkischer oder bulgarischer Herkunft sind. Wo Wien traditionsgemäß eine Stadt für Zuwanderer war, in der sich einheimische und fremde Vorurteile begegnen, fremde und eigenen Kulturen vermischten und die Nähe zum Balkan historisch gewachsen war, erstaunt es, dass es so lange dauerte, bis die Musiken vom Balkan ankamen. Hatten nicht die Modewellen osmanischer Musik im 18. und 19. Jahrhundert, an der etwa Mozart ebenso partizipierte wie später die Gebrüder Schrammel, gezeigt, wie fruchtvoll derartige Begegnungen sein konnten? Folgt man der Studie „Balkanboom“, so kam vornehmlich mit den ArbeitsmigrantInnen in den 1960er Jahren Balkanmusik nach Österreich, allerdings ohne bei der hiesigen Mehrheitsgesellschaft auf besonderes Interesse zu stoßen. Wie auch in Deutschland, erklang diese Musik hauptsächlich in Form von ethnomusikalischen Schallplatten und bei den von der österreichischen Mehrheitsgesellschaft weitestgehend isoliert abgehaltenen Familienfeiern der MigrantInnen. Diese als „Folklore“ bezeichnete Musik interessierte in Österreich nur die an Folklore interessierten Aficionados.

Mit der durch die Balkankriege ausgelösten Flüchtlingswelle und dem Fall des Eiserne Vorhangs kam eine neue Generation von MusikerInnen aus dem Balkan nach Wien: akademisch gut ausgebildet, modern und aufgeschlossen, waren sie weniger an den alten Musiken ihrer Heimat interessiert, wollten weniger das Brauchtum pflegen als vielmehr den Anschluss mit ihrer Musik an die Musiken der Welt, hießen sie nun Jazz oder Rock. Sie kamen zur richtigen Zeit, hatte sich doch 1987 Joe Boyd, tonangebender Schallplattenproduzent in London, und andere Förderer der britischen Musikszene im Londoner Pub „Empress Of Russia“ zusammengefunden, um eine gemeinsame Strategie zu finden, um die bislang als Folklore eher schlecht vermarktbaren Musiken jenseits des amerikanischen Rock- und Pop-Mainstreams zu positionieren. Die Bezeichnung „World Music“ wurde gefunden, eine klassifizierende Bezeichnung, die es erlaubte, Folklore unter einem neuen, übergreifenden Namen in die Geschäfte und an die Journalisten zu bringen. Was als „Folklore“ beargwöhnte wurde, verkaufte sich nun hunderttausendfach, wie die Hitparadenerfolge der bulgarischen Frauenchöre bewiesen, deren Musik Ende der siebziger Jahre als „Folklore-Aufnahmen“ weitestgehend unbemerkt vom Markt verschwanden, als „World Music“ 1987 aber oberste Hitparadenplätze eroberten. Die bulgarischen Frauenstimmen öffneten Türen – und eine ganze Generation von Musikern war bereit, einzutreten.

Zuhause in Wien

Zentraler Ausgangsort war die Kunstuniversität Graz. Der Anteil ausländischer StudentInnen betrug in den neunziger Jahren bis zu 50 Prozent, und unter ihnen war auch Sandy Lopicic. Das von ihm gegründete Orkestra spielt 2001 und 2004 zwei Alben auf Christian Scholzes Network-Label ein, die, überaus erfolgreich, nahezu im Alleingang der Balkanmusik in Österreich ein neues Gesicht gaben. Wo die Wiener Tschuschenkapelle eher folkloristisch klang, das Boban Markovic Orkestar oder die Fanfare Ciocarlia eben doch nach typisch dörflicher Laien-Blaskappellenmusik aus dem alten, unheimlichen Balkan, da war es bei dem 17köpfigen Sandy Lopicic Orkestra klar, dass die führenden Mitglieder gediegene musikalische Ausbildungen besaßen und durch Rock und Jazz sozialisiert waren. Als sich das Orkestra nach dem zweiten Album auflöste, wurden MusikerInnen wie Nataša Mirković, Richard Winkler, Martin Lubenov, Lothar Lässer und Jörg Mikula Aktivposten in der Wiener Szene oder schlossen sich wie Kurt Bauer, einst bei der steirischen Gruppe deishovida, der Truppe von DJ Shantel an.

Die nach Wien gegangenen MusikerInnen des Orkestra konnten dabei mit einer seit der Jahrtausendwende entstandenen Infrastruktur rechnen: Im Porgy & Bess, im Wiener Konzerthaus, in der Sargfabrik, dem ost klub, im WUK und im Theater am Spittelberg fanden seitdem konstant Konzerte oder Festivals mit Musik aus dem Balkan statt. Von nun an spielten dort aber nicht mehr nur Orkestras aus Rumänien oder Bulgarien, die sich um Hypes sowieso nicht zu kümmern brauchten. Denn, so Jean Trouillet: „Künstler wie Boban Markovic, Fanfare Ciocarlia, das Kocani Orkestar oder Taraf de Haidouks haben einen Hype nicht nötig – sie sind verwurzelt in ihrer lokalen Kultur und haben sich dazu parallel ein weltweites Publikum erspielt, dass sich wenig darum schert, was nun in den Medien gehypt oder wieder demoliert wird.“ Wenn sie nach Wien kamen, dann trafen sie auf ein begeistertes Publikum, aber auch auf eine Musikerszene, die sich mittlerweile aus in Wien wohnenden MusikerInnen mit österreichischer oder ex-jugoslawischer Herkunft zusammensetzte.

Interessanterweise veränderte sich bei den in Wien lebenden MusikerInnen mit Balkanhintergrund, Schätzungen gehen von vier- bis sechshundert Aktiven aus, zunehmend der Balkan-Anteil ihrer Musik. Wer nicht direkt aus Ex-Jugoslawien oder aus Bulgarien kam, wie etwa Nataša Mirković, die 2013 den Titelsong in einem Angelina Jolie-Film über die Kriegsgräuel auf dem Balkan sang, oder Martin Lubenov, der immer wieder zwischen Wien und seiner bulgarischen Heimat hin- und herpendelte und dem Balkan-Genre treu blieb, der war, wie Lothar Lässer oder Jörg Mikula, alsbald in anderen musikalischen Zusammenhängen wie etwa dem Neuen Wienerlied eines Stefan Sterzinger zu hören. Das Genrehopping und das Verwischen aller musikalischen Grenzen zwischen Jazz, Rock, Worldmusic und Wienerlied bot sich, nachdem der Markt tatsächlich in Sachen Balkanmusik um 2009 eine gewisse Sättigung erreicht hatte, als Königsweg aus der Misere einer zunehmend als hinderlich erfahrenen Kategorisierung ihrer Musik als „Balkanmusik“ an. So wollte der serbische Kontrabassist Nenad Vasilic nie als typischer Balkanmusiker gelten. „Ich mache meine eigene Musik“, sagt er, spielt in Tango- oder Salsa- und anderen Ethnobands und gilt als arrivierter Jazz-Bassist. Während er durchaus Ethnoklänge mit Jazz zu fusionieren weiß, geht der rumänische Pianist Adrian Gaspar auf Rat seines Lehrers und ehemaligen Leiters des Vienna Art Ochestras Mathias Rüegg einen anderen Weg und trennt strikt Jazz, Klassik und folkloristische Musik. Andere, wie die bulgarischen Brüder Alexander und Konstantin Wladigeroff, spielen bei Shantel, haben eigene Worldmusic – Formationen, sind aber auch 2014 bei einer deutschen Liedermacherin wie Illute zu hören.

Was sich in Wien, im Vergleich zu Berlin, abzeichnet, ist, dass sich mit dem Balkanboom eine Worldmusic-Szene etabliert hat, die nicht nur von MusikerInnen gebildet wird, die mehr oder weniger zufällig aufgrund ihres Tourplans in die Hauptsstadt kommen. Wo sie in Wien sozusagen zur Hausmusik gehören, sind sie versiert genug, um in ihrem Bezug auf außerösterreichische Musiken eigenständig zu bleiben und gleichzeitig zwischen den Genres wechseln und damit letztlich alle Musiken kreativ befruchten. Wichtig ist zudem, ebenfalls im Vergleich zu Berlin, dass ein Teil der Wiener Jazz-Szene, deren Mitglieder ebenfalls oft die Genres wechseln, bei Schlagersängerinnen im Studiostehen oder bei Musicalproduktionen mitwirken, oftmals, wie Lorenz Raab oder Wolfgang Puschnig in ihrer Jugend durch bäuerliche Volksmusik musikalisch sozialisiert wurden. In ihrer Musik ist neben dem Jazz immer das Andere einer folkloristischen Musik zu hören – ein Umstand, der gerade auch die Musik der nun in Wien aufspielenden MusikerInnen mit Balkanhintergrund auszeichnet. Ihr oft nostalgisch verklärter Rückblick auf die Musiken des Balkans bei gleichzeitiger Aufnahme von Jazzelementen bot ein Potenzial an musikalischen Reibungen, das so in Berlin, fernab von jeder Volksmusik, nicht zu haben ist.

Der Balkanboom, dessen Vorläufer in Wien das Klezmer-Revival war und dessen Mitläufer der wesentlich von Harri Stojka Gypsy-Swing ist, hat in Wien auf einer simplen, qualitativen Ebene nicht nur die Musikerdichte vergrößert, sondern zudem die Grenzen zwischen den Genres durchlässig gemacht und die Strukturen der Szene reorganisiert. Denn mit dem Balkanboom hat sich die World Music in der Musikszene etabliert, hat ihr neue Spielorte erschlossen und, vor allem, ein neues, junges, multikulturell eingestelltes und urbanes Publikum zur Musik geführt, das sich als eine Hörerschaft versteht, die Richard Schuberths Ankündigung des Balkan Fever Festivals „Es gilt letztlich einen schicken, eleganten, mit New York, Paris, Berlin, Odessa und Istanbul vernetzten Balkan zu präsentieren“ auch nach dem Hype noch umzusetzen weiß.
Dieser international vernetzte, schicke Balkan ist nicht mehr der Balkan als das Andere. Das ist der Balkan, der in Wien mittlerweile zu Hause ist.
Harald Justin
Foto Robert Soko © Michael Mann
Foto Sandy Lopicic Orkestar © Sandy Lopicic Orkestar
Foto Nataša Mirković  – De Ro  © http://www.mirkovic-dero.com
Foto Harri Stojka © Manfred Werner
Die Diskussions- und Vortragsreihe mica focus wird unterstützt durch die Abteilung für Wissenschafts- und Forschungsförderung der MA7 Wien.