„WAS MACHT EINE LOCATION ZU EINER LOCATION?“ – HEINRICH DEISL IM MICA-INTERVIEW

„Musikorte lassen Rückschlüsse auf die Verfasstheit einer Stadt ziehen“, sagt HEINRICH DEISL. Der Musikjournalist, Radioproduzent und Kulturwissenschaftler legte zuletzt eine Doktorarbeit zum Thema vor: „Wiensounds. Topografie Wiener Soundkulturen 1976 bis 1995“ heißt die 282-seitige Arbeit, mit der sich DEISL mit den Anfängen der Wiener Popkultur beschäftigt. Unter der Betreuung von Diedrich Diederichsen und Katharina Gsöllpointner packt DEISL den Werkzeugkoffer der Cultural Studies im Kellerclub des alten Flex genauso aus wie in der Hausbesetzerszene des autonomen Kulturzentrums Gassergasse. Er beleuchtet die Rolle aufkommender Szenehotspots wie WUK, Blue Box sowie U4 und spricht mit damaligen Protagonist*innen. Seine zentralen Fragen: Welche Rolle nahmen Locations zwischen Besetzung der Arena und der Gründung des Radiosenders FM4 in den Wiener Soundkulturen ein – und wie veränderten sie Popkultur? Im Gespräch mit Christoph Benkeser führt DEISL dafür Antworten an. Außerdem wird „Wiensounds“ ab dem Spätsommer im SR-Archiv österreichischer Popularmusik verfügbar sein. Und: DEISL steht in Verhandlung mit einem Verlag, um die Erkenntnisse der Arbeit auch für angehende Expert*innen zugänglich zu machen. Ein Werkstattgespräch.

Du hast zum Thema „Wiensounds“ dissertiert. Dir sitzt ein Laie gegenüber – wie erklärst du ihm, um was es dabei geht?

Heinrich Deisl: Es geht um Wiener Musikorte zwischen den mittleren 70er- und 90er-Jahren und davon ausgehend: Veränderungen in der Popkultur.

Veränderung in der Popkultur lässt darauf schließen, dass es vor den mittleren 70er-Jahren bereits eine Popkultur in Wien gab.

Heinrich Deisl: Lass mich ein wenig ausholen: 2013 brachte ich das Buch „Im Puls der Nacht: Sub- und Populärkultur in Wien 1955–1976“ heraus. Ich sehe folglich eine Entwicklung in drei Schritten. Den Einstieg setze ich mit 1955, weil Österreich unabhängig wird – eine wichtige Zäsur, mit der eine Art Beginn der Popkultur in unserem heutigen Verständnis einhergeht. 1976 wähle ich als zweite Zäsur, weil es das Jahr der Arena-Besetzung ist. Den dritten Paradigmenwechsel nehme ich ab den mittleren 90er-Jahren wahr. Das Internet wird massentauglich, die Kommunikation globalisiert sich und Wien wird international als Musikproduktionsstandort wahrgenommen. In meiner Dissertation beschäftige ich mich bis 1995, aus zwei pragmatischen Gründen: In diesem Jahr fand das erste phonoTAKTIK-Festival statt. Damit kamen für viele zum ersten Mal die Protagonisten der experimentellen elektronischen Musik nach Wien. Außerdem ging im selben Jahr der Radiosender FM4 on air. Davor gab es in Österreich keinen alternativen Mainstream-Sender, der sich permanent mit Popkultur auseinandergesetzt hat. Es gab die „Musicbox“auf Ö3, allerdings war das nur …

… ein Sendeformat, kein alleinstehendes …

Heinrich Deisl: Sendekonzept, ja. Zusätzlich entstehen in dieser Zeit freie Radios, die experimentelle Musikplattform klingt.org gründet sich, Labels wie Mego und Cheap ebenso. Das Magazin Spex wählt das Flex zum besten Club im deutschsprachigen Raum, Kruder & Dorfmeister reüssieren international. Man merkt: Mitte der 90er explodiert die Szene in Wien. Wer sich erinnert: 1998 brachte das Wire Magazine eine Coverstory zum Thema „Vienna Electronica“. Davor gab es keine Berichte über Wien, schon gar nicht im Wire.

Wir bewegen uns am zeitlichen Ende deiner Forschung, machen wir den Sprung zur Arena-Besetzung 1976 und beleuchten die Prämissen, die in der Entwicklung hin zur „Vienna Electronica“ führten.

Heinrich Deisl: Richtig, 1976 beginnt eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die sich im Laufe von zwanzig Jahren spezifiziert. Natürlich passierte die Besetzung der Arena nicht einfach so. Die politische Situation war seit 1968 aufgeladen, auch wenn die Auswirkungen der Studentenbewegung in Wien erst in den 70er-Jahren spürbar wurden.

Die Ausläufer der 68er-Bewegung.

Heinrich Deisl: Genau. Die Soundkultur, die nach der Arena-Besetzung entstehen konnte, kam aus einem zivilgesellschaftlichen wie subkulturellen Impetus. Deshalb habe ich zu Beginn meiner Dissertation Kultur in unterschiedlichen Ausprägungen dargelegt. Es ging um Populär- wie Subkultur, aber auch Pop- und Soundkultur. Ausprägungen, die mit unterschiedlichen Ausformungen einhergehen und andere Diskurse generieren, aber in ihrer Gesamtheit miteinander zu tun haben.

Was meinst du damit?

Heinrich Deisl: Die Besetzung der Arena war ein zivilgesellschaftlicher Akt des Ungehorsams. Dem ging voraus, dass die Stadt Wien ein schönes, altes Areal – den Auslandsschlachthof – an eine Schuhfabrik verkaufen wollte. Das Arena Festival, ein Avantgarde-Event im Rahmen der Wiener Festwochen, fand bereits zwei Jahre vor der Besetzung statt. Teilweise waren bei der Besetzung 1976 dieselben Leute aktiv, zum Beispiel Soziologen wie Rolf Schwendter oder Dieter Schrage, aber auch Konzertveranstalterinnen wie Ingrid Karl. Im Laufe des Sommers engagierten sich tausende von Leute freiwillig vor Ort und befüllten das Areal mit Kunst und Kultur. Das war eine Bewegung, die aus der Mitte der Gesellschaft kam. Selbst wenn sie hauptsächlich von Intellektuellen getragen war, gab es auch eine aktive Arbeiterschicht, die ein eigenes Haus besetzte. Das führte zu Problemen, es kam zu Rauswürfen und Spaltungen. Deshalb lässt sich schon an der Arena-Besetzung darstellen: Um ein eigenes Projekt der Integration und Inklusion aufrechtzuerhalten, ist der Ausschluss gegenüber bestimmten Gruppen notwendig.

Es konnten also nicht alle dabei sein.

Heinrich Deisl: Doch, aber das funktionierte nur kurz. Dazu ein Beispiel: Im Zuge der 70er-Jahre kam die Idee der Wohngemeinschaften auf – zu Beginn eine subversive Sache, die oft an banalen, aber doch fundamentalen Dingen wie unterschiedlichen Hygienevorstellungen zerbrach. Trotzdem reichte der integrative Aspekt, der einem Kommunendenken entsprang, bald bis in die Mitte der Gesellschaft hinein.

Du meinst, es habe eine breite Basis für …

Heinrich Deisl: … alternative Lebensweisen gegeben, ja. Dabei ist es wichtig, dass sie aus subkulturellen Zirkeln kamen.

Die Hippie-Bewegung war in Österreich nie groß, der ideelle Nährboden aber vorhanden, nehme ich an.

Heinrich Deisl: Ja, deshalb war die Arena-Besetzung ein Kumulationspunkt, um sich mit dem auseinanderzusetzen, was man heute Popkultur nennt. Ich betone es deshalb, weil es sie damals nicht gab – die Popkultur steckte in ihren Kinderschuhen. Einer meiner wichtigsten Gedanken für meine Dissertation kam von Diedrich Diederichsen. Er fragte, wozu sich diese Orte und Locations überhaupt gegründet haben. Es ließe sich darauf eine banale Antwort finden. Die Menschen wollten, was sie in Berlin, London und Manchester gesehen haben: Orte für Kunst und Kultur, die mit einer Eigenermächtigung einhergingen.

Bedingte die Popkultur solche Orte wie die Arena?

Heinrich Deisl: Die Arena hat viel getriggert, aber erst durch das WUK, das U4 und die Gassergasse hat es sich in einen popkulturellen Mehrwert diffundieren können.

Was ich meine, ist: Brauchte es zuerst den Ort für die Popkultur oder viel eher die gesamtgesellschaftliche Dynamik, um popkulturelle Orte zu ermöglichen?

Heinrich Deisl: Eine Frage, die sich nicht einseitig beantworten lässt. In „Wiensounds“ geht es primär um Musikorte oder das, was ich Locations nenne. Schließlich muss man definieren, was eine Location zu einer Location macht –nicht nur um zu sagen, was eine Location ist, sondern um, anhand sozialer Interaktionen, Rückschlüsse auf die Verfasstheit der Stadt zu ziehen. In der theoretischen Auseinandersetzung mit Popkultur geht es nämlich immer um das, was man als ihr Zentrum festmacht. Normalerweise ist das der oder die Musiker*in. Diederichsen definiert das Zentrum der Popmusik zuerst im Produktionsstudio, legt sich aber später auf den oder die Rezipient*in fest. Popmusik gebe es also erst, nachdem sie von einer Person gehört und damit zusammengesetzt wird. Ich wollte das Zentrum nicht beim Musiker, im Produktionsstudio oder an der Rezipientin festmachen, sondern an einem manifesten Ort situieren.

Was bringt dieses Weiterdenken des Zentrums?

Heinrich Deisl: Es geht nicht mehr um Band oder Künstlerin, nicht um Produktionsstätte oder Hörer, sondern …

… um einen topografischen Ort.

Heinrich Deisl: Ja, ich verorte das Zentrum, indem ich ihm eine Adresse gebe, anhand derer sich Strukturen, Verhältnisse und Prozesse in einem historischen Kontext untersuchen lassen.

„ES GING MIR WENIGER UM DIE HEUTIGE PERSPEKTIVE AUF DIE DAMALIGE POPKULTUR, SONDERN UM IHRE VERORTUNG IN DER ZEIT.“

Der Ort lässt sich vermutlich stärker in die soziokulturellen Veränderungen der Zeit einbetten – Ende der 70er gab es schließlich einige gesamtgesellschaftliche Konfliktfelder …

Heinrich Deisl: Danke für das Stichwort! Locations haben im Lauf der Zeit Konfliktfelder evoziert.

Sie entstehen aus ihnen heraus, oder?

Heinrich Deisl: Es ist ein wechselwirkender Prozess, ja. Anhand von Orten lassen sich sozialgesellschaftliche Diskurse abbilden, die sich nicht nur auf die Popkultur beschränken. Ich wollte sie von Anfang an in historische und politische Veränderungen einbetten, auch weil ich mich in der Forschungsdisziplin der Cultural Studies verorte. Deshalb habe ich mich mit Literatur beschäftigt, die zur damaligen Zeit geschrieben wurde. Es ging mir also weniger um die heutige Perspektive auf die damalige Popkultur, sondern um ihre Verortung in der Zeit.

Eine aktualisierte Gegenwart in der Vergangenheit.

Heinrich Deisl: Ein Schritt zurück, ja. Die Stadtsoziologie steht heute naturgemäß woanders als in den späten 70er-Jahren, als Henri Lefebvre den Diskurs mit stadttheoretischen Überlegungen beherrschte. Genauso verhält es sich mit der Theorie zur sogenannten Soundscape, die von R. Murray Schafer entwickelt wurde. Allerdings handelt es sich dabei um die Grundlage der heutigen Sound Studies.

Du hast das gelesen, was man zur damaligen Zeit lesen konnte, und versucht, das Zukünftige zu vergessen.

Heinrich Deisl: Ich konnte mich nicht mit heutigen Theorien der soziopolitischen Gemengelage von damals annähern, weil es um den Wissensstand der jeweiligen Zeit geht. Was mir dabei auffiel: Die politische Debatte war Ende der 70er-Jahre weiter, als sie es heute ist. Eine Debatte, die später in Sub- und Popkultur als Arbeitsprozess übernommen wurde. Abgesehen davon habe ich mich viel mit Theorien der Situationisten auseinandergesetzt. Dabei ging es mir um die Frage, wie Stadt lesbar gemacht werden kann. Eine Frage, die auch mit dem Buch „Lipstick Traces“ von Greil Marcus zusammenhängt. Er fragte sich Ende der 80er, wie Popkultur und Kunsttheorie gelesen werden kann. Dabei schließt er von den Situationisten auf Strömungen des Punks. Dieser Ansatz – Kunst also in den Alltag zu implementieren – hat meine Dissertation begleitet.

Ist das ein Ansatz, der die Orte, an denen Popkultur passieren konnte, ermöglicht hat?

Heinrich Deisl: Da wird’s spannend! Schließlich beschäftigt sich ein Großteil der generellen Forschung nur mit der Frage, wie Popkultur auf Rezipient*innen wirkt. Wie geht man aber damit um, wenn man einen Ort hat, der Kulturindustrie per Definition ist? Ein Musikort, der über längere Zeit bestehen soll, muss sich irgendwann als Firma begreifen. Natürlich müssen sich seine Betreiber*innen deshalb mit Kommerzvorwürfen auseinandersetzen, allerdings: Die Transformation vom anfänglichen Off-Space hin zum fixen Ort, an dem sich Popkultur in einem marxistischen Sinn produzieren lässt, ist genau das, was Adorno und Horkheimer der Kulturindustrie vorwerfen: ein Betrieb. Schließlich geht es um eine Beziehung zwischen Ort und Rezipient. Als Betreiber*in einer Location will man, dass die Leute wiederkommen – nicht nur wegen der Musik, sondern aufgrund der Location.

Das wäre der Optimalfall. Mittlerweile sind Locations eher Dienstleistungsorte, in denen man Eintritt zahlt, sich aber wenig einbringt und eher etwas erwartet.

Heinrich Deisl: Es hat sich irgendwann ausdiversifiziert, ja.

Ist das in den Jahren der Zäsur, die du mit 1976 setzt, anders?

Heinrich Deisl: Ich hatte das Glück, dass in der Zeitspanne zwischen 1976 und 1995 zwei der größten popkulturellen Revolten stattfanden: Punk und Techno. Sie waren Zäsuren in ihrem eigenen Sinn, auch wenn sie sich in ihrer Beziehung zum Ort kaum miteinander vergleichen lassen. Für meine Arbeit habe ich sechs Locations untersucht. Eine Hälfte waren reine Musikclubs, die andere Kulturzentren. Ich wollte wissen, wie damit umgegangen wird, wenn Popkultur nur ein Teil des Gesamtdiskurses ist. Dafür habe ich acht Expert*inneninterviews geführt. Eine Erkenntnis: Es gab eine starke Identifikation mit Bands, Strukturen und Stilen. Leute haben sich auf die Goschen gehaut, wenn man die falsche Identifikation, zum Beispiel zu einer Band, geteilt hat. Das passiert heutzutage nicht mehr – man kann Fan von Green Day sein, aber gleichzeitig Black Metal hören.

Man könnte …

Heinrich Deisl: …Kulturkritisch sagen, dass heute nichts mehr zählt; dass es sich um eine Entwertung der Zeichen handelt.

Ich wollte eher sagen: Gut, dass sich niemand mehr auf die Goschen haut. Deine Auslegung ist eher kulturpessimistisch.

Heinrich Deisl: Das ist die landläufige Geschichte von alten Kulturpessimisten wie mir!

Oder eine Romantisierung des Vergangenen.

Heinrich Deisl: Für alle, die die Zeit bis in die frühen 90er-Jahre aktiv miterlebt haben, wäre ein Stil-Surfing wie heute undenkbar gewesen. Ob das gut oder schlecht ist, sei dahingestellt.

Ich muss meine Aussage von vorhin umdrehen: Die Orte waren viel konkreter mit gewissen Stilen und Identifikation verbunden als heute. Das weitläufige Fundament der Popkultur von heute gründet also auf dem damaligen Ausschluss auf Basis von Identifikation.

Heinrich Deisl: Du lieferst mir das nächste Stichwort! Popkultur war lange nicht so inklusiv, wie man glauben möchte, im Gegenteil: Sie lebte vom Ausschluss. Gerade in Wien musste ein eigener Diskurs gefunden werden. Die subkulturelle Popkultur von damals hat sich aber nicht dafür interessiert, sich im Lichte der Öffentlichkeit darzustellen. Es gab – zumindest anfänglich – neben Fanzines auch keine größeren Verbreitungsmedien. Erst Anfang der 90er kamen mit Chelsea Chronicle und skug dezidiert Magazine, die Popkultur diskutierten.

Das heißt: Der Ort war der Resonanzraum für …

Heinrich Deisl: …Die Auseinandersetzung und des Aufgehobenseins in der Gruppe! Das Schärfen von Distinktion und Stilen musste am Ort stattfinden. Schließlich gab es Ende der 70er-Jahre keine mediale Auseinandersetzung mit Popkultur.

Man musste wohin gehen, um dazuzugehören. Der manifeste Ort war viel wichtiger als heute, weil es der einzig denkbare Raum war, in der Kultur verhandelt werden konnte.

Heinrich Deisl: Ja, es war eine Zeit der Formation von Popkultur in unserem heutigen Verständnis. Ich habe Martin Biró, den Gründer des Labels Panza-Platte, gefragt welche Veränderungen er von Punk zu Techno wahrnahm. Er meinte, dass vor Techno keine Veranstaltung länger als zehn Uhr gegangen sei. Es gab also einen Abschluss im eigentlichen Sinn. Anfang der 90er-Jahre wurde es plötzlich möglich, dass eine popkulturelle Veranstaltung die ganze Nacht dauert. Das ist eine wichtige Veränderung, weil damit nicht nur eine neue Kultur, sondern auch eine neue Infrastruktur einhergeht, die sich mit der Nacht auseinandersetzt. In den 80er-Jahren wäre es undenkbar gewesen, bis um sechs Uhr auszugehen. Der gemeine Jugendliche hatte davor um zehn zu Hause zu sein, zu hackeln und später eine Familie zu gründen. Dass es in dieser Hinsicht zu neuen Vorstellungen kommen konnte, hat auch mit den Veränderungen in der Popkultur zu tun.

„VON GENTRIFIZIERUNG KONNTE MAN MITTE DER 80ER-JAHRE NOCH NICHT SPRECHEN.“

Man erkennt hier gut die Tragweite deines Projekts. Jede Veränderung zieht weitere nach sich.

Heinrich Deisl: Dazu kommt, dass die Orte, mit denen ich mich befasst habe, an der Stadtperipherie entstanden. Schließlich war Popkultur noch Noise und eine …

… Belästigung für die Gesellschaft.

Heinrich Deisl: Genau. Heute geht damit ein Eventcharakter und eine Wertschöpfungskette einher, die damals noch lange nicht erkannt wurde. Clubkultur war Störung. Über die Jahre hat sich das verändert – die Orte wurden in eine innerstädtische Infrastruktur eingebunden.

Um nicht zu sagen: gentrifiziert.

Heinrich Deisl: Ich muss dich bremsen: Mitte der 80er-Jahre war die Bevölkerungszahl in Wien am Tiefpunkt. Die Gegend rund um den Spittelberg im siebten Bezirk war verwahrlost. Vielleicht hat die Vorstufe der Arena gerade dort – im Amerlingsbeisl – ihren Ausgang gefunden. Es gab eine bürgerliche Grundstruktur, die in prekären Verhältnissen wohnte. Von Gentrifizierung konnte man zu diesem Zeitpunkt also noch nicht sprechen.

Mit welchem Zeitpunkt machst du sie fest?

Heinrich Deisl: Mit dem zweiten Flex am Donaukanal. Dadurch wurde Clubkultur in Wien legitimiert. Danach kam das fluc am Praterstern, später wurde der Gürtel revitalisiert.

Lass mich an dieser Stelle kurz zusammenfassen: Die Clubkultur ab den späten 90er-Jahre baut auf der popkulturellen Verhandlung ab 1976 auf.

Heinrich Deisl: Genau.

Es bräuchte also ein Nachfolgeprojekt, das sich mit der dritten Entwicklungsstufe, der Zeit ab 1995, auseinandersetzt.

Heinrich Deisl: Wenn ich mich von diesem Monsterprojekt erholt habe, werde ich mich damit auch auseinandersetzen. Davor erscheint die Dissertation auch als Buch.

Gut, dass du das ansprichst. Eine Doktorarbeit in ein Buch umzuarbeiten, klingt nicht einfach. Wie lässt sich das Thema für angehende Expert*innen erzählen?

Heinrich Deisl: Popkultur war immer ein Bereich, in dem Theorie gerne vermieden wurde, weil es einfach sein sollte. Für mich waren Bücher von Diedrich Diederichsen oder Lawrence Grossberg allerdings immer wichtig, weil ihr Zugang zur Popkultur sehr wohl mit Theorie einherging. Ich muss hier Frank Apunkt Schneider zitieren, der in Bezug auf das skug Magazin einmal sagte: „Über Popkultur muss man anders sprechen als über Kühlschränke oder Geschirrspüler.“ Das trifft es genau!

Du meinst, Popkultur muss anspruchsvoll sein?

Heinrich Deisl: So wie nicht jeder Experte für Zeitgeschichte sein kann, kann nicht jeder Experte für Popkultur sein. Im Umkehrschluss heißt das: Man müsste Popkultur genauso stringent und theoretisch verhandeln wie alles andere auch.

Soll heißen: Wer sich ans Buch zu deiner Dissertation herantraut, muss es sich erarbeiten wollen.

Heinrich Deisl: Ja, unbedingt! Es wird sich an ein informiertes Publikum richten. Ich versuche, meine jahrelange Theoriearbeit auf ein gewisses Maß hinuterzubrechen, aber: Das anything goes – wie es heutzutage heißt – sehe ich problematisch. Wenn jemand meint, dass sich eine politische Botschaft in einem 30-sekündigen TikTok-Video vermitteln lässt, entgegne ich: Nein, das geht nicht! Das bedeutet nicht, dass ich die gesammelten Werke von Foucault gelesen haben muss, um über Diskurse zu sprechen. Ich möchte aber, dass man sich mit Theorie auseinandersetzt – einfach weil sich daraus ein Wert ziehen lässt!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Christoph Benkeser

Links:
Download der Dissertation „Wiensounds“
Heinrich Deisl (Ö1)
Heinrich Deisl (Academia)