Demokratie und Kunst haben eines gemeinsam: Beide sind bedroht – doch wen kümmert’s? Diese Ausgangsfrage bildet den Kern des Projekts #multimedialerdemokratiechor von Klaus Karlbauer (Komponist und Multimediakünstler). Entstanden aus einem Kunstwettbewerb der Kärntner Kulturstiftung KKS, entwickelte sich daraus ein interdisziplinäres Experiment, das sich mit den Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Teilhabe durch Kunst auseinandersetzt. Junge Menschen, Künstler:innen und Vertreter:innen verschiedenster Subkulturen wurden eingeladen, ihre Perspektiven auf Demokratie in Form von Klang, Bild und Performance zu erarbeiten. Im Interview gibt Karlbauer detaillierte Einblicke in die Entstehung des Projekts, die Bedeutung von Dissonanz in Kunst und Gesellschaft sowie die Herausforderungen, eigene Bubbles zu verlassen. Es geht um Comfort Zones, die Bedrohung der Idyllen-Konstruktion und um das Kärntnerlied unter Dekonstruktion.
Wie kam es ganz ursprünglich zum Projekt #multimedialerdemokratiechor, in welchem Zeitbild entstand die Idee für das Vorhaben?
Klaus Karlbauer: Das Zeitbild, vor dem dieses Projekt zum Jahreswechsel 2022/23 gestartet wurde, hat sich in den vergangenen zwei Jahren dramatisch verschärft. Die Aufgabe, die Verpflichtung der Kunst in ihrem Verhältnis zur Demokratie ist es zuallererst, die richtigen Fragen zu stellen: Was kann Kunst überhaupt bewirken? Welche Möglichkeiten habe ich als Künstler:in, zu reagieren? Wo finde ich als Mensch, als Individuum, meinen Platz zwischen meinem Recht auf ein freies und selbstbestimmtes Leben und meiner Verantwortung der Gesellschaft, den „Anderen“ gegenüber?
Unsere aktuelle Lebenswirklichkeit ist vom neoliberalen Optimierungs-, Profilierungs- und Profitstreben dominiert, d.h., der Stärkere „besiegt“ den Schwächeren, „Deals“ kennen nur noch Gewinner oder Verlierer. Wir leben in permanenter Konkurrenz.
Eine Grundlage der Demokratie ist es, dass sich die Mehrheit, also der Stärkere, um die Minderheit, die Schwächeren, „kümmert“ – nicht nur im Rahmen des Minderheitenschutzes, sondern vielmehr aus dem Bedürfnis heraus, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen den unzähligen Lebensformen und Geisteshaltungen, um die kontrastreiche und daher spannungsvolle Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit am Leben zu erhalten. Das Verständnis dafür, die Ambiguitätstoleranz, muss gefördert werden – und dafür ist die Kunst besser geeignet als jede andere Disziplin.
„Es muss diesen Kontrast aushalten. Es wird erst ab einer gewissen Ambiguität künstlerisch interessant. Alles, was eindeutig ist, interessiert mich überhaupt nicht.“
In deinem Projekt wird der Chor als eine Form genommen, um verschiedene, voneinander abweichende Stimmen und Projekte nebeneinander und miteinander in Interaktion zu bringen. Was sind deine Gedanken zu dieser Form, welche Möglichkeiten resultieren daraus?
Klaus Karlbauer: Nicht nur vor dem Hintergrund der Kärntner Tradition des Chorgesangs ist der Chor ein probates Mittel, um die Balance zwischen individuellem Freiheitsdrang und Gesamtverantwortung für das Ensemble und das Werk zu schulen. Gemeint ist hier eine über das gemeinsame Singen hinaus ins Multimediale erweiterte Deutung des Zusammenwirkens.
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Wie viel Kärntnerlied braucht die Gegenwart eigentlich noch?
Klaus Karlbauer: „Das Leben ist kein Kärntnerlied“ oder „Irgendwo anders brechen die Häuser, die Körper, die Träume. Hier bricht nur das Kärntnerlied.“ Mit Harmonie-Seligkeit und Idyllen-Konstruktion ist, verschärft durch die aktuelle geopolitische Situation, niemandem geholfen. Es stellt sich vielmehr die Frage, wie weit wir in der Lage sind, aufeinander zuzugehen, Kommunikationskanäle aufrechtzuerhalten, wenn die Comfort Zone infrage gestellt wird, wenn die Dissonanz ihren Auftritt hat.
Kein Musikstück ohne Dissonanz, kein Film, kein Bühnendrama, keine Biografie, kein Leben. Wir wären gut beraten, uns mit der Dissonanz anzufreunden, aber auch das Verbindende über das Trennende zu stellen.
Am Anfang standen verschiedene Workshops unter dem Titel „Raus aus den Bubbles!“ mit Vertreter:innen aus verschiedensten Subkulturen, Minderheiten und Künstler:innen aus Kärnten und Wien. Ein offener Prozess, ohne zu wissen welche Ergebnisse am Ende resultieren werden. Wie kann man sich diese erste Themenfindung vorstellen?
Klaus Karlbauer: Die Zielgruppe waren junge Menschen. Ich suchte Institutionen wie Universitäten, Schulen, Flüchtlingseinrichtungen aber auch Einzelpersonen auf und lud im Rahmen von Gesprächen und Workshops die Teilnehmer:innen ein, mit multimedialen Gestaltungsmitteln gemeinsam zum Thema Demokratie zu arbeiten. Sie durften mit den Medien, die ihren Alltag bestimmen, Sound, Video, Text kreativ gestalten.
In meiner Arbeit mit 13-Jährigen in der 3. Klasse einer sogenannten „Brennpunkt-Schule“ mit Schüler:innen unterschiedlichster Nationen gelang es mithilfe von TikTok, die anfängliche Kommunikationsbarriere zu überwinden. Nach diesen Startschwierigkeiten wurden mit großer Begeisterung Videos produziert und den überraschten Lehrer:innen und Eltern präsentiert. Hier wurde beispielsweise ein Publikum erreicht, das im traditionellen Kunst- und Kulturbetrieb unterrepräsentiert ist.
Wie schwer ist es in diesem Zusammenhang, die Grenzen der eigenen Bubbles hinter sich zu lassen?
Klaus Karlbauer: Viele sind dem Aufruf „Raus aus den Bubbles!“ gefolgt, manche haben ihre Blase hinter sich gelassen und sich auf den Weg gemacht, das Abenteuer einer Expedition ins Unbekannte, Ungewisse gestartet. Andere sind in ihre Komfortzone zurückgekehrt, weil sie sich dort sicher fühlten – scheinbar beschützt, geschützt wie in dem von vielen als Lebenstraum bezeichneten Einfamilienhaus. Wieder andere haben neue Blasen gegründet, mit strengen Regeln, die bestimmen, was richtig und was falsch ist, wer dazugehört und wer nicht.
Ich bin mir nicht sicher, wer die Bubbles tatsächlich nachhaltig überwinden konnte – die Mitwirkenden oder nur ich selbst als Projektleiter? Für die Dauer des Projekts hatte ich zumindest den Eindruck, dass sich alle Beteiligten darum bemühten. In jedem Fall wurde durch das Projekt ein Impuls gesetzt; es bleibt jeder/jedem selbst überlassen, wie damit umgegangen wird.
In der Arbeit an einem gemeinsamen Kunst-&-Demokratie-Status mit den verschiedenen Protagonist:innen des Projekts ging es auch stark um Fragen der Diversität und Vielstimmigkeit – genauso wie um Kontraste und Widersprüchlichkeiten.
Klaus Karlbauer: Definiert man Harmonie oder auch Konsonanz als einen spannungslosen Zustand, dann wird das Erreichen und Aufrechterhalten dieses Zustands als ideal und somit als erstrebenswert angesehen. Comfort Zone wäre eine alternative Bezeichnung. Man fühlt sich wohl, solange nichts diese Idylle stört, infrage stellt oder herausfordert.
Und damit kommen wir zur elementaren Bedrohung von Idyllen-Konstruktionen aller Art: der Dissonanz. Die grundlegende Frage ist: Wie werden Comfort Zones hergestellt – unter Ausschluss oder unter Integration der Dissonanz? Funktionieren sie als Bubbles, die alles fernhalten, was nicht der Ideologie der jeweiligen Blase entspricht? Widerspruch raus, Kommunikation raus, Frauen raus, alte weiße Männer raus, Ausländer raus … Oder sind sie bereit, den Widerspruch als integralen Bestandteil eines Systems zu akzeptieren? Damit wären wir beim Wesen der Demokratie gelandet – einem Kompromiss zwischen Konsonanz und Dissonanz, einem permanenten Balanceakt.
Spielt dabei auch die Improvisation eine Rolle?
Klaus Karlbauer: Die Improvisation ist ein geeignetes Modell, um demokratisches Verhalten zu praktizieren, um Demokratie in Klang zu übersetzen. Wie geht man miteinander um, und wie findet man seinen eigenen Standpunkt als Teil eines Kollektivs, ohne dass man einem strengen, normativen Regelwerk folgt, wie einer Partitur oder den Anweisungen einer Dirigent:in? Wo beginnt und endet Selbstbehauptung, wo beginnt und endet Solidarität in und mit der Gruppe?
Wie viel an „Anderem“, an „Fremdem“, an Widersprüchen und an Kontrasten ist notwendig, wie viel „hält es aus“? Das sind Fragen, die, auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen, enorme politische Bedeutung haben. Junge Menschen sollten sich damit auseinandersetzen, um die Funktionsweisen demokratischer Verhältnisse kennenzulernen. Die musikalische Improvisation bietet einen spielerisch-kreativen Zugang.
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Auch der Dialog mit Jugendlichen und deren Verständnis von Kunst unter Einbeziehung verschiedener Subkulturen aus Kärnten war wesentlich. Welche Perspektiven ergaben sich durch diese Zusammenarbeit der Generationen, die sonst weitgehend isoliert existieren?
Klaus Karlbauer: Es fanden Begegnungen statt, die sonst niemals möglich gewesen wären. Im Rahmen dieses Projektes formierten sich auch Künstlerkollektive, die mittlerweile autonom weiterarbeiten und die auch schon Kunstpreise gewonnen haben.
„Kunst wächst nicht auf Bäumen“ hieß eines der Resultate. Möchtest du einen Einblick in das Projekt geben?
Klaus Karlbauer:Das Konzept des Kollektivs lautet: „Die Kunst der Jugend bekommt viel zu selten eine Bühne. Aber wofür benötigt man eine Bühne oder Galerie, wenn die Kunst ausnahmsweise doch einmal auf Bäumen wachsen kann?“ Konsequenterweise wurden die Arbeiten im Rahmen einer öffentlichen Performance auf Bäume in der Stadt gehängt und für jegliche weitere (Be-) Nutzung freigegeben: Wenn Kunst schon mal auf Bäumen wächst, soll diese auch zur freien Entnahme sein. Deshalb hatten wir den Gedanken, eine Schere an jeden Baum zu hängen, damit jeder, der möchte, ein Stück des Projekts mitnehmen kann.
Ein anderes Resultat war die Solo-Ausstellung unter dem Titel „A Sight Through the Window“ von Kesha Bain zum Krieg in seinem Herkunftsland, der Ukraine. Wie kam es zu diesem Beitrag?
Klaus Karlbauer: Der Kontakt zur ukrainischen Community wurde über Martin Häusl, Leiter des Österreichischen Integrationsfonds Kärnten, und Oleksandr Sydorenko, Caritas, der alle Ukrainer:innen in Kärnten betreut, hergestellt. Daniel Russegger, Kunstverein Kärnten, stellte uns das leerstehende „Gert-Jonke-Haus“ als Produktionsstätte zur Verfügung. In diesem Haus entstand Kesha Bains installative Arbeit „A Sight Through the Window“. Der junge Künstler erlebte selbst beide Wellen des Krieges, 2014 und 2022, und musste mehrmals fliehen. Er verhandelt persönliche Erinnerungen an den Ukraine-Krieg. In den bombardierten Städten wurden die Fenster mit Krepp-Klebeband vor den Druckwellen geschützt, andere formten daraus orthodoxe Kreuze auf den Scheiben als Zeichen der Hoffnung. In seiner Arbeit interpretierte er dies in Form einer „Krepp-Madonna“ auf der Scheibe eines Fensterflügels, auf den wiederum Videos der Kriegsschäden in der Ukraine projiziert wurden. Die Installation liest sich als Anlehnung an kleine Rituale der Hoffnung inmitten von Umbrüchen und Katastrophen. Das Fenster dient dabei als Symbol der Aufgeschlossenheit, des Weitblicks, der Möglichkeiten.
Im Rahmen des Klagenfurt Festivals 2023 wurden die verschiedenen Resultate in einer interdisziplinären Bühnenshow zwischen Rede, Lesung, Tanz, Chor und Intervention unter dem Titel „Diesen Kontrast muss es aushalten“ gezeigt.
Klaus Karlbauer: Im Verlauf dieses Projektes wurden die Ergebnisse der einzelnen, sehr unterschiedlichen Arbeitsgruppen miteinander verknüpft. Aus Sound, Videos, Bildern, Texten, performativen Elementen entstand sukzessive ein kontrastreiches, multimediales Werk. Hauptanliegen war es, Verbindungen zwischen scheinbar getrennten Elementen/Sphären herzustellen, das Gemeinsame zu erkennen und damit zu arbeiten.
Wie wurde das Resultat von den Kärntner:innen aufgenommen?
Klaus Karlbauer: Die Live-Performance beim Klagenfurt Festival im Burghof wurde zu einem ersten Höhepunkt. Die Reaktionen waren durchwegs positiv bis enthusiastisch, es war von einem „formidablen Kunstwerk“, einer „fulminanten Show“ die Rede, vorherrschend war vor allem jedoch die Überraschung darüber, wozu junge Menschen in der Lage sind, wenn ihnen die Möglichkeiten geboten werden, ihre Ideen umzusetzen.
Die verschiedenen Projekte wurden am Ende zu einem Film zusammengefasst, der im Landesmuseum Kärnten im Rahmen der Ausstellung „Man will uns ans Leben. Bomben gegen Minderheiten 1993–1996“ gezeigt wurde.
Klaus Karlbauer: Der gleichnamige Film mit begleitendem Katalog dokumentiert dieses Projekt über die Flüchtigkeit der Performances und Ausstellungen hinaus und reflektiert, was im Rahmen des Projektes #multimedialerdemokratiechor entstanden ist, die Prozesse wie die Resultate. Hier trat ich als Komponist in Erscheinung, der die losen Enden der Einzelteile zu einer größeren Komposition zusammenführte und verknüpfte. Für den Soundtrack dieses Filmes improvisierten Sebastian Haidutschek (Ethno-Drums) und ich (Elektro Zither und Bassklarinette) in mehreren Recording Sessions zusätzliche Tracks zu den live aufgenommenen musikalischen Beiträgen, die von dekonstruierten Kärntner Chorgesängen, Klassik-Elementen über Hip-Hop Tracks hin zu Elektronik reichen.
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Ist #multimedialerdemokratiechor eine abgeschlossene Form oder werden weitere Projekte stattfinden?
Klaus Karlbauer: Es ist ein Modell, ein Instrument oder auch eine Arbeitsmethode, die an verschiedenste Umstände angepasst und weitergeführt werden kann. Es gab in den Jahren davor bereits mehrere Realisierungen, u. a. an der Akademie der bildenden Künste Wien, am TFM der Universität Wien und an der Escola dos Artes Maumaus in Lissabon. Ein Folgeprojekt fand unlängst in Groningen/NL statt, und ein weiteres internationales Projekt wurde fertig konzipiert. Ob es stattfinden kann, wird sich in naher Zukunft entscheiden.
„Demokratie ist keine Konstante, sie ist eine Variable.“
Wie klingt Demokratie aus aktueller Perspektive?
Klaus Karlbauer: Demokratie ist keine Konstante, sie ist eine Variable. Sie ist fluide, veränderlich, abschaffbar, was wir in Österreich in der Vergangenheit mehrmals bewiesen haben. Und heute? Heute werden die liberalen Elemente in der Demokratie zu Grabe getragen, oder um diese Frage mit einem Bild zu beantworten: Man stelle sich die Demokratie als Sängerin vor, der während des Singens der Hals zugeschnürt wird.
Danke für den Einblick!
Ada Karlbauer
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Zeitgleich mit der Veröffentlichung dieses Interviews wurde der Film #multimedialerdemokratiechor – Wie klingt Demokratie? (33 min) hier veröffentlicht:
Hier finden sich auch der Link zum Katalog sowie weiterführende Informationen zum Projekt