„Was ich wusste, war: Ich will in die Sonne!” – MURIEL GROSSMANN im mica-Interview

In London, dem Epizentrum des Spiritual-Jazz-Booms, gilt die Wiener Saxofonistin und Komponistin MURIEL GROSSMANN als heiße Aktie. Sie veröffentlicht auf dem renommierten Londoner Indie-Label „Jazzman“ und GILES PETERSON ist ihr Fan. Dass sie hierzulande noch nicht so wahrgenommen wird, wie es ihr aufgrund ihrer herausragenden Arbeiten gebührt, könnte daran liegen, dass sie mittlerweile zurückgezogen auf Ibiza lebt und den Rummel, den ihre letzten Alben ausgelöst haben, nicht gerade sucht. Mit Markus Deisenberger sprach GROSSMANN über das „Drone Orchestra“, Burning Sessions mit JOACHIM KÜHN und ihr persönliches Ibiza.

Lassen Sie uns zunächst über den in der Presse immer wieder bemühten John- Coltrane-Vergleich sprechen: Schmeichelt er Ihnen oder nervt er Sie? 

Muriel Grossmann: Na ja, grundsätzlich bin ich froh, wenn Leute, die unsere Musik hören, an John Coltrane erinnert werden. Persönlich teile ich die Meinung aber gar nicht, denn es gibt nur einen John Coltrane und das, was er geleistet hat, lässt sich nicht übertreffen. Aber jede Musikerin und jeder Musiker liebt Coltrane und ist von seinem Werk inspiriert. Es liegt offen da. Wie man das in die eigene Erfahrung integriert, in Musik übersetzt und daraus etwas Persönliches macht, das, in der Art wie deine Musik klingt und wie du dein Instrument spielst, ist die Herausforderung. Aber wie gesagt: Wenn das, was wir machen, an Coltrane erinnert, ist das schon schön.

Aber finden Sie den Vergleich – ganz abgesehen vom Geschmeicheltsein – zutreffend, was den Sound und die musikalische Richtung betrifft?

Muriel Grossmann: Nein, ich finde es eigentlich sehr unterschiedlich. Wenn man Coltrane und meine letzten Platten nebeneinander hört, kann man das gar nicht vergleichen. Vom Klang her gibt es also einen großen Unterschied. Aber das Gefühl, das ich selber habe, wenn ich Coltranes Musik höre, teile ich, wenn ich meine Musik mache. Ich finde mich in meiner Musik genauso wie in Coltranes Musik wieder.

Und was die Spiritualität angeht?

Muriel Grossmann: Wenn ich seine Musik höre, fühle ich mich gleich wohl. Und die Energie, die er mit seinem Quartett rüberbringt, ist die, die auch ich in meiner Musik suche. Aber wie gesagt: Wie er spielt, kann man mit der Art, wie ich spiele, nicht vergleichen.

Um diese besondere Energie zu entfalten, braucht man als Solistin bzw. Solist eine gute Band. Ihre letzten Platten haben diesen wunderbaren Groove, der an „Bitches Brew“ oder „In a Silent Way“ von Miles Davis erinnert. Sie haben mehrfach von einem „Drone Orchestra“ gesprochen. Was ist damit gemeint? Dass man sich als Solistin bzw. Solist mit solch einer Band und deren Drones wie von einer Wolke getragen fühlt?

Muriel Grossmann: Da muss man unterscheiden: Das eine ist die hervorragende Band, das andere ist das „Drone Orchestra“, das ich selber auf die Platte spiele. Das „Drone Orchestra“ habe ich kreiert, um eine Basis zu haben, über die unsere Band drüberspielt. Das ist etwas sehr Persönliches, das sich in der Zeit entwickelt hat, als ich viel Alice Coltrane hörte, die ihren Sound immer durch exotische Instrumente erweitert hat, um den Tambur etwa und um andere Sachen, die im Hintergrund liefen. Aus dem endlosen Hören dieser Musik und dem intensiven Wunsch, mehrere Instrumente zu spielen, hat sich das dann ergeben. Auf meiner ersten Platte mit „Drone Orchestra“, „Earthtones“, habe ich die Instrumente wie Kalimba, Ngoni, Krakebs, Balafon, Sarangi und Tambur vorher draufgespielt. Heute läuft es genau umgekehrt: Ich spiele das „Drone Orchestra“ im Nachhinein für die Band ein. Das, was man hört, ist also abgestimmt auf die Musik.

Und wenn Sie live spielen?

Muriel Grossmann: Habe ich keine Musikerinnen und Musiker, die das spielen. Aber das wäre ein weiterer Schritt. Das „Drone Orchestra“ lässt die Musik jedenfalls persönlich und in eine gewisse Richtung klingen, die man als spirituellen Jazz bezeichnen könnte.

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Wie sind Sie zur Band gekommen? Ich nehme mal an, Gina Schwarz kennen Sie aus Ihrer Wiener Zeit?

Muriel Grossmann: Ich habe früher mit anderen Leuten gespielt. Zu der Zeit, als ich an den Kompositionen von „Natural Time“ arbeitete, wollte ich mehr Rhythmik in meine Musik bringen, einen steten Groove. Vorher spielte ich Avantgarde, die mehr an Ornette Coleman angelehnt war, hatte eine Band mit Christian Lillinger und Robert Landferman. Da kam „Awakening“ heraus, danach kam „Earthtones“, das ich auch noch mit ihnen machte – das war das Album, das einen Übergang zum Spirituellen vollzog. Ich schrieb eigentlich immer schon spirituelle Songs, aber wie wir sie aufführten, war Avantgarde. Irgendwann wollte ich dann einfach mehr Drive. Mit dem Gitarristen Radomir Milojkovic arbeitete ich schon zwanzig Jahre, und wir sprachen darüber, wer ein guter Schlagzeuger sei. Er brachte Uros Stamenkovic ins Spiel, den er schon seit seiner Kindheit kennt. Ich kannte ihn auch aus meiner Zeit in Barcelona. Und dann schlug ich Gina vor, weil ich sie schätze und aus meiner Zeit in Wien kenne. Sie ist sehr energetisch, und obwohl sie ihre eigenen Sachen macht, bringt sie sich immer, zu 100 Prozent ein, was ich sehr schätze. So kam es zum Quartett, mit dem wir „Natural Time”, „Momentum“, „Golden Rule“, „Reverence“ und „Quiet Earth“ rausbrachten und jetzt im Juni „Union“ rausbringen. Seit „Reverence“ sind wir zum Quintett gewachsen, weil ich einen Hammondspieler einlud, der auf Mallorca lebt und mit dem ich schon andere Sachen spielte: Llorenç Barceló. Der Sound unsere Musik wurde mit ihm noch breit gefächerter und authentischer.

Ihr Album „Golden Rule“ wurde vom britischen Magazin UK VIBE zur „Platte des Jahres 2018“ gekürt und von den angesehenen Gilles Petersons Worldwide Awards nominiert. War das ein erhebender Moment?

Muriel Grossmann: Das hat vor allem der Vinyl-Release bewirkt. Ich habe vorher schon so viele Platten gemacht, aber immer nur auf CD, auf meinem eigenen Label Dreamlandrecords. Im Jahr 2017 dann sprachen mich die Leute von RR Gems an. Mit ihnen machte ich die „Golden Rule“-LP. Durch die LP stieß meine Musik dann auf eine wirklich breite Hörerinnen- und Hörerschaft. Das heißt in dem Moment, als meine Musik auf Vinyl rauskam und auch das Label eine wirklich tolle Promo-Arbeit leistete, schlug das Wellen und traf auf eine breite Hörerinnen- und Hörerschaft. Ich gewann audiophile Leute, treue und herzliche Hörerinnen und Hörer, die bei einem bleiben, wenn sie einen gefunden haben. Mir war nicht klar, wie viele es gibt, die das schätzen. Das wurde mir erst vor Augen geführt, als das Vinyl rauskam. Ich dachte schon immer, dass meine Musik besser auf Vinyl passt, aber im Alleingang schaffte ich das nicht. Gigs gespielt, Platten gemacht und komponiert habe ich schon immer. Aber wenn plötzlich Magazine wie UK Vibe oder Leute wie Giles Peterson deine Arbeit würdigen, ist das toll, denn es eröffnet die Möglichkeit, dass deine Musik von mehr Menschen wahrgenommen wird, mehr Menschen erreicht. Jede Musikerin und jeder Musiker hat es gerne, wenn ihre bzw. seine Musik gehört wird. Das Revival des Spiritual Jazz hat sicher auch geholfen.

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Wie kam es zu „Elevation“, einer auf „Jazzman“ erschienenen Compilation?

Muriel Grossmann: Bei „Jazzman“ wurde man durch RR Gems auf mich aufmerksam. Sie haben „Golden Rule” über ihre Website vertrieben und mich dann irgendwann kontaktiert. Zuerst haben wir eine Single mit zwei Songs rausgebracht, eine Live-Version und einer vom Album. Danach schlugen sie vor, noch etwas gemeinsam rauszubringen. Ich habe ihnen alles Mögliche vorgestellt. Es ging nur Altes, weil die neuen Titel ja bei RR Gems unter Vertrag waren. Sie haben sich für Titel von „Momentum“ und „Natural Time“ entschieden, ich habe die Reihenfolge ein wenig verändert, und wir waren schließlich beide zufrieden. Ich glaube, wir werden in Zukunft wieder etwas gemeinsam machen, weil es eine sehr schöne Zusammenarbeit war.

Sie haben lang in Wien gelebt, dann aber Wien den Rücken gekehrt, um über Barcelona nach Ibiza auszuwandern. Was genau hat Sie nach Ibiza verschlagen?

Muriel Grossmann: Ich bin jemand, der gerne reist. Ich liebe die Sonne und hatte damals in Wien schon länger davon geträumt, in den Süden ans Meer zu ziehen. Von Wien ging ich ohne konkreten Plan, wo es hingehen soll, weg. Was ich allerdings wusste, war: Ich will in die Sonne. Und ich ging weg, um mich voll auf die Musik zu konzentrieren und meine eigene Band zu finden. Gelandet bin ich zunächst in Barcelona, blieb dort eineinhalb Jahre. Im Sommer fuhr ich dann mit dem Boot nach Ibiza, stieg in einem Live-Club ein und wurde gleich für die ganze kommende Saison engagiert. Das Angebot galt für fünf Monate jeden Abend. In dieser Zeit entdeckte ich die Insel für mich und ich entschied mich zu bleiben.

Dem Klischee nach ist Ibiza für seine ausufernden Partys und die Lounge-Musik auf den Afterhours bekannt. Wie sieht Ihr Ibiza aus?

Muriel Grossmann: Mein Ibiza hat mit dem, worüber die Leute in Zusammenhang mit Ibiza meistens sprechen, gar nichts zu tun. Bei mir geht es um Natur, Meer, Gerüche, Ruhe, Frieden, Schönheit und natürlich die Sonne, die ständig da ist. Das ist mein Ibiza.

Brauchen Sie den Rückzug, um kreativ zu sein?

Muriel Grossmann: Wenn man so einen Rückzugsort hat, ist das der beste Ort, um zu komponieren. Da habe ich die Saxofone, das Klavier, den Kontrabass, das Schlagzeug, viele, viele Instrumente, Schallplatten, ein kleines Studio. Aber wenn ich Melodien, Akkorde oder Basslinien in meinem Kopf höre, muss das nicht unbedingt in meinem Haus sein, das kann auch auf einem Gig in Helsinki sein, wo ich eine neue Komposition notiere, im Auto, im Hotelzimmer oder beim Soundcheck. Um es dann richtig auszuarbeiten, brauche ich dann aber den Rückzug. Dazu hat die Insel viel beigetragen.

Der mit Ihnen befreundete und ebenfalls auf der Insel lebende Pianist und Komponist Joachim Kühn hat einmal gesagt, Ibiza sei „die absolute Anti-Jazz-Insel“. Wenn man sich einmal ihren Gig-Plan vergegenwärtigt, klingt das erst mal gar nicht nach „Anti-Jazz“. Sie spielen bis zu zwanzig Gigs im Monat, wohl an die 150 Konzerte pro Jahr …

Muriel Grossmann: Joachim hat sich da genau wie Sie vorhin auf ein Bild bezogen, das Ibiza nach außen projiziert. Das Bild, das die Menschen mit der Insel gemeinhin in Verbindung bringen. Ibiza ist eine touristische Insel. In einem normalen Jahr ist die Insel sechs Monate lang voll. Da spielen wir jeden Abend und arbeiten hart. Für uns als Jazz-Live-Musikerinnen und -Musiker ist das das Wichtigste: jeden Abend live zu spielen. Und das geht hier. Durch diese starke Saison ist das möglich. Ich habe auf Ibiza natürlich nur wenig Möglichkeit, meine eigene Musik zu spielen. Das, was ich hier spiele, ist aber trotzdem Jazz. Es gibt sehr viele Clubs und Restaurants, Hotelbars, private Veranstaltungen und Vernissagen, wo wir mitunter auch unsere eigene Musik spielen. Das, was wir meistens spielen, ist aber klassischer Jazz.

Standards?

Muriel Grossmann: Ja. Musik von Lester Young, Count Basie, Coleman Hawkins, Duke Ellington, Illinois Jacquet. Musik, die auch in den Soul-Jazz hineinreicht. Wir versuchen, die Grenzen des Stils und die Leistungen, die man erbringen muss, um diese Musik zu spielen, zu respektieren. Aber die Insel ist so „anti-jazzig“ auch nicht. Zu der Zeit, als ich Joachim kennenlernte, war er jede Woche in Sessions. Burning Sessions von zwanzig Perkussionisten und Schlagzeugern, er und ich. Das war der reinste Free-Jazz-Kessel. Es gab kleine Jazzbars, in denen er und auch ich spielten. Er gab hier auch seine eigenen Konzerte. Erst letztes Jahr spielte er in einem schönen, großen Saal. Elvin Jones und McCoy Tyner haben hier auf dem bekannten Jazzfestival, das dieses Jahr seine 33ste Edition feiert, gespielt. Es gibt ein zweites Festival, an dem ich auch mitwirke, um Leute wie Nasheet Waits und Joe Sanders hier herzubekommen. Auch die haben schon hier gespielt. Viele Musikerinnen und Musiker besuchen die Insel jedes Jahr.

Man kann man sich Ihr Leben also streng zweigeteilt vorstellen? Sechs Monate harte Arbeit mit nahezu einem Gig pro Abend mit klassischem Jazz, die restliche Zeit zurückgezogen, um in Ruhe zu komponieren und die eigene Musik vor- bzw. aufzubereiten?

Muriel Grossmann: Normalerweise ist es so getrennt, ja: Zwischen Mai und November spielen wir jeden Tag, den Rest des Jahres gibt es sehr viel Ruhe. Im Winter habe ich Zeit, mich mit den Drones in die Nachbearbeitung eines im Sommer aufgenommenen Albums zu begeben, kann Stücke auswählen oder komponieren, die Drones aufnehmen, Alben so weit bearbeiten, dass sie erscheinen können. Aber im letzten Jahr sind die Grenzen natürlich verschwommen …

Wohin muss ich fahren, um Muriel Grossmann so zu erleben, wie sie auf ihren Alben spielt?

Bild Muriel Grossmann
Muriel Grossmann (c) Erich Reismann

Muriel Grossmann: Auf die Nachbarinseln und aufs Festland, wo ich eingeladen werde. In die normalen Orte und zu den Festivals, wo auch andere spielen bzw. vor Corona gespielt haben, wie in Helsinki, Tallin, Kopenhagen… Ich wurde auch nach England eingeladen und eine große Tour war geplant, die dann leider – wie so vieles andere auch – nicht stattgefunden hat. Während Corona wurde ich auch nach Paris eingeladen. Die normalen internationalen Orte also, wo andere auch spielen. Ein Jazzfest, das für Februar in Mallorca geplant war, ist jetzt auf den Juli verschoben. Das ist das nächste Konzert mit meiner Musik. Dieses Mal wird es, glaube und hoffe ich, nicht verschoben. Einfach zumachen geht nicht mehr. Mallorca braucht den Tourismus, wir brauchen den Tourismus.

Wie kann man sich Ihre Begegnungen mit Joachim Kühn auf der Insel vorstellen? Man trinkt gemeinsam Tee und hört Ornette-Coleman-Platten?

Muriel Grossmann [lacht]: Genau so. Früher war es so, dass ich ihn in einer Session traf und wir gemeinsam „burnten“, dann wurden wir Freunde und ich kam zu ihm auf einen Tee, brachte Kekse mit, er spielte mir sein neues Album vor, ich ihm meines. Oder ich frage ihn, ob ich etwas aus seiner alten Zeit mit Jenny-Clarke oder mit Coleman hören darf. Dann spielt er mir das vor und auch anderes, das noch nicht rausgekommen ist und vielleicht einmal rauskommt, darunter auch sehr alte Sachen mit seinem Bruder Rolf. Das ist ein extrem lässiger Austausch, der mich nach wie vor sehr inspiriert. Allein an ihn zu denken, inspiriert mich, weil er ein so enorm guter Künstler ist. Ihn persönlich zu sehen, ist noch einmal intensiver, weil er eine unheimlich vielfältige Plattensammlung hat. Wir hören viel gemeinsam. Er hat ja mit allen – sogar mit Stan Getz – aufgenommen. Die Themen sind endlos. Er ist immer noch extrem kreativ, komponiert und übt jeden Tag, hat seine Routine.

Habt ihr jemals überlegt, etwas gemeinsam zu machen?

Muriel Grossmann: Ich möchte ihn zu einer meiner Platten als Gastmusiker einladen. Sonst eigentlich nicht. Er hat viele Projekte und hat einen aufrechten Vertrag mit Act, der genau bestimmt, was er wann und wie rausbringt.

Sie haben das Revival des Spiritual Jazz angesprochen. Vieles davon kommt aus England. Ihre Musik klingt im Vergleich dazu entspannter und weniger opulent als z. B. diejenige von Kamasi Washington. In sich ruhender. Macht das die Insel?

Muriel Grossmann: Ja, sicher. Meine Musik ist keine Großstadtmusik. Ich habe aber auch das besondere Glück, Musikerinnen und Musiker gefunden zu haben, mit denen ich mich gut verstehe, die sich untereinander gut verstehen und die auf sehr innige Weise zur Gesamtheit, zur Vision beitragen, wie es für mich klingen soll, was mich sehr glücklich macht. Die Kommunikation stimmt.

Passt das Label „Spiritual Jazz“ überhaupt?

Muriel Grossmann: Sagen wir so: Wenn kein Label notwendig wäre, wäre es mir lieber, weil es einfach Musik ist. Die Label sollen andere draufkleben. Spiritual Jazz ist ein Sub-Genre, das ich viel gehört habe, viel höre und auch liebe. Auf diesen Stil habe ich mich schon sehr früh eingelassen und er war schon sehr früh auf meinen Alben vorhanden, egal ob ich noch Avantgarde spielte oder nicht. Alice Coltrane, John Coltrane, Pharoah Sanders, ich habe selbst viele Musikerinnen und Musiker gehört, die in diesen Stil einzuordnen sind, wenn man so will. Aber erst 2012 habe ich angefangen, Musik zu schreiben, die mehr von Alice und John Coltrane inspiriert war. Ich holte tranceartige Wiederholungen, Pentatonik und die ethnischen Einflüsse verschiedener Kulturen in die Musik rein.

Der weltmusikalische Entwurf war auch Plan?

Muriel Grossmann: Das war schon auch Plan, weil ich selbst Musik aus aller Welt höre, aus Afrika, Indien, Obertonmusik, bulgarische Chöre, japanische Musik. Ich höre eine große Bandbreite an Musik und wollte dem auch in meiner Musik mehr Rechnung tragen. Dazu kam, dass ich eine Liebe zu Instrumenten habe. Ich besitze viele.

Wie viele sind viele?

Muriel Grossmann [lacht]: Sehr viele. Trommeln, Percussion. Flöten aller Art, Bambusflöten oder Querflöten, Obertonflöten. verschiedene Bässe, Gembri, einen Kontrabass, Tablas, eine Tambura, eine Sarangi. Ich weiß nicht, wo ich aufhören soll. Ich mag den Klang jedes einzelnen dieser Instrumente. Deshalb habe ich mit den Instrumenten ein Album angefangen: „Earthtones“. Das habe ich dann in den folgenden Alben als Element behalten und weiterentwickelt.  Alles kam dann in der Platte „Natural Time“ zusammen. Ich würde sagen, dass bei “Reverence” die gesamte Fächerbreite des Drone-Orchesters entwickelt war.

Würden Sie sich selbst als spirituellen Menschen beschreiben?

Muriel Grossmann: Jeder Mensch ist spirituell, weil das unsere Natur ist. Wir alle, auch die, die gar nicht in diesen Begriffen denken, sind spirituelle Wesen. Wir tragen den Wunsch in uns, gute Dinge zu tun. Wir alle wollen glücklich sein. Wir wollen die richtigen Dinge tun, anderen helfen, streben nach höheren Zielen und nach der Weiterentwicklung unserer höheren Werte und Ideen, die uns eigen sind. Das ist die Natur, die wir versuchen umzusetzen.

Sie sind Fotografin, haben als solche in Wien u. a. für den Wiener gearbeitet, Sie malen – z. B. die Covers der meisten ihrer Alben –, Sie sind also eine Künstlerin mit einer großen Bandbreite verschiedener Kunstformen. Ist die Musik das Amalgam, das alle anderen kreativen Tätigkeiten zusammenhält?

Muriel Grossmann: Ein interessanter Gedanke. Für mich ist Musik der Faden, der nie riss in meinem Leben. Auch wenn ich zwischendurch als Fotografin arbeitete: Die Musik blieb. Ich selbst aber denke nicht in den Begriffen. Ich mache einfach. Das Schöne an Musik ist ja: Man kann sie konzeptualisieren, darüber reden. Man kann aber auch einfach nur zuhören, im Moment sein.

Zum Schluss noch ein paar Worte zum Album „Union”, dessen Release auf RR Gems vor der Tür steht?

Muriel Grossmann: „Union“ entstand aus einer Tour vor Corona auf Mallorca. Auf den Konzerten wollte ich die Band live aufnehmen, aber es hat aus logistischen Gründen nicht geklappt. Ich entschied mich dann, spontan ins Studio zu gehen und ein paar Tage zu reservieren, als wir frei waren. Es war eine Aufnahmesession unseres damaligen Live-Sets, mehr fürs Archiv gedacht, aber mit all dem, was danach begann, habe ich beschlossen, es herauszubringen, da ich nicht in der Lage war, eine Fortsetzung des Albums „Reverence” aufzunehmen und herauszubringen. Somit sind also die zwei Alben „Quiet Earth” und die bevorstehende Platte „Union” großartige Ergänzungen zu meinem Katalog. Ich bin sehr glücklich, wie sich das entwickelt hat.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Markus Deisenberger

 

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