Die 32. Ausgabe von WIEN MODERN 2019 präsentiert zwischen 28.10. und 30.11.2019 unter dem Titel „Wachstum“ 100 Veranstaltungen an 24 Spielstätten in 12 Wiener Gemeindebezirken. Auf dem Programm stehen rekordverdächtige 110 Ur- und Erstaufführungen.
Die Stadt wächst. Die Bevölkerung wächst. Die Wirtschaft wächst. Auch das Festival Wien Modern wächst, ganz besonders sein Publikum (das hat sich im Lauf der letzten drei Jahre verdreifacht). Wachstum ist überall, und es scheint sich dabei um eine Art geheimnisvoller, unausweichlicher, höherer Gewalt zu handeln. In Wirtschaft und Politik ist die tägliche Rede von Nutzen und Notwendigkeit des Wachstums zum Mantra geworden.
In der Musik fühlt sich die Sache sofort deutlich anders an: Prozesse der Veränderung gehen zum Glück nicht ewig in die gleiche Richtung. Entwicklung jeder Art braucht immer Fingerspitzengefühl. Steigerungen sind starke Zeichen, die es gezielt zu setzen gilt. Das richtige Maß und Tempo zu finden ist eine hohe Kunst, Gespür für Reduktion ist ganz entscheidend. Inmitten einer rauschenden Überbietungslogik, bröckelnder Wachstumsversprechungen und zunehmender vielkanaliger Überforderung im Leben entstehen in der Kunstwelt der Musik vermehrt sehr lange und sehr dichte Hörerfahrungen – ebenso wie winzige, zarte, ephemere, fast verschwindende neue Klangwelten. Jenseits des Gewohnten eröffnen sich unendliche Längen und winzige Augenblicke, eruptive Steigerungen, abstrakte Flächen, steter Wandel und feinfühlige Annäherungen an das Nichts. Wien Modern macht die ewige Suche nach der perfekten Balance zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig diesmal ganz bewusst zum Thema.
Opus Magnum + Hochgebirge
Als Einstieg ins Festivalthema Wachstum kommt im Rahmen des Eröffnungskonzerts am 31.10. ein Vulkanausbruch gerade recht: Die gewaltige Eruption des Vulkans Hekla 1947/1948 verarbeitete der Augenzeuge Jón Leifs zu einem der lautesten Orchesterstücke aller Zeiten. Im selben Konzert steht auch noch Lucianio Berios überbordende „Sinfonia“ mit den Swingle Singers auf dem Programm. Das Eröffnungskonzert wird zum Ausgangspunkt einer Gipfeltour – über Alberto Posadas’ „Poética del espacio“, Michael Herschs „sew me into a shroud of leaves“, Dieter Schnebels weltumspannende „Sinfonie X“, Pierluigi Billones „FACE Dia.De“, Lera Auerbachs dreistündige „Demons and Angels“ und Frederic Rzewskis unspielbaren Variationenzyklus „The People United“ bis hin zu Peter Eötvös im Abschlusskonzert.
Entdeckungsreisen zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig
Das kürzeste Konzert, am 23.11. im Studio Molière, dauert gerade einmal 20 Minuten. Das längste Konzert beginnt vor Sonnenaufgang und endet nach Sonnenuntergang, zu erleben am 09.11. im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek. Auch wenn künstlerische Grenzerfahrungen wie diese 15 Stunden lange, atemberaubend virtuose Kammermusik-Trilogie des Komponisten Michael Hersch durch Liegen, Decken, Pausen, Speisen und Getränke bei Wien Modern liebevoll in den Bereich des Möglichen gerückt werden – spürbar wird: Das Austasten der Extreme, die Suche nach dem richtigen Maß abseits der brüchig werdenden Gewohnheiten haben in der Kunst in den letzten Jahren enorm an Präsenz gewonnen.
Minimal + Reduktion
Was dabei klein und was groß ist, ist keineswegs ausgemacht: Mit Peter Ablinger und Clara Iannotta beginnt im Eröffnungskonzert ein Weg entlang reduzierter Linien und Flächen, der über Klaus Lang, Josef Matthias Hauer und 21 Uraufführungen im Inneren des Klaviers bis ins Abschlusskonzert führt: Auf „der letzten Stufe vor dem Verklingen“ eröffnet der Komponist Mark Andre in den letzten Festivaltagen ungeahnte Räume, die zu einer Entdeckungsreise in spektakuläre mikroskopische Landschaften. Die Reihe „Minimal Night Music“ widmet sich an zehn Abenden ganz der Reduktion in unterschiedlichsten Spielarten, von still bis laut. Und im Dschungel Wien kann man buchstäblich lernen, das Gras wachsen zu hören.
Überdruck + Unterdruck
Beginnend bei der diesjährigen Erste Bank Kompositionspreisträgerin Mirela Ivičević über weiße und schwarze Klangflächen bei Peter Ablinger bis hin zu Bernhard Langs Oper „Der Reigen“ nach Schnitzler werden die Regler gerne einmal in extreme Bereiche von Dichte, Sättigung oder Lautstärke gedreht. Für junge Ensembles wie das Black Page Orchestra oder die Experimentalband schtum kann das fast schon als Erkennungszeichen dienen. Doch auch das RSO Wien und die Wiener Symphoniker gehen für Wien Modern 2019 in die Vollen.
Generationen + Vielfalt
Mit Marin Alsop steht erstmals eine Frau an der Spitze eines österreichischen Orchesters. Aus diesem Anlass finden Lectures mit Komponistinnen, eine Masterclass mit Marin Alsop für Dirigentinnen und eine Podiumsdiskussion über Gleichstellung in der Musik statt. Das dienstälteste Ensemble des Landes, die reihe, verabschiedet sich. Ein zweites Ensemble aus Pioniertagen, Kontrapunkte, tut sich erstmals wagemutig zusammen mit dem erfrischend unberechenbaren Salon Souterrain. Neue Ensembles wie Schallfeld, Black Page Orchestra und Platypus treten auf den Plan. Die freie Szene in Wien macht zunehmend von sich reden. Nachwuchsprojekte entwickeln Ideen von erfreulicher Vielfalt und Qualität. Es tut sich etwas in der Musikwelt. Mit zahlreichen Begegnungen über Generationsgrenzen hinweg und verstärktem Einsatz für die nächste Generation gibt Wien Modern der wachsenden Dynamik Raum. In einem Generationen übergreifenden Klavierabend spielt der 81-Jährige Frederic Rzewski sein unspielbares, „passagenweise halsbrecherisches Werk“ (Die Zeit) „The People United“ und Ingrid Schmoliner ihre für diesen Anlass entwickelte Klavieruraufführung.
Stadt + Wachstum
Mit Ausflügen des Salon Souterrain in die Seestadt Aspern und das Sonnwendviertel beim Hauptbahnhof wächst das Spielfeld um zwei rapide Wachstumsgebiete der Stadt Wien. Die Ringstraßenbahn fährt im Rahmen des „Circle Line Projects“ in einer klingenden Endlosrille um die Innenstadt, und das Klang-Forschungs-Projekt „Concrete Voids“ blickt aus dem luftigen Inneren der Brigittenauer Brücke auf die menschengemachten Veränderungen des Planeten.
Tanz + Performance
Mit Doris Uhlich, DD Dorvillier, Philippe Riéra, Bojana Kunst, Ula Sickle, Rose Breuss, Brigitte Wilfing und dem Kollektiv Mycelium ist an der 32. Festivalausgabe ein ungewöhnlich dichtes Feld an ChoreografInnen und PerformerInnen beteiligt. Kleine wie große Bewegungen rücken besonders an den letzten Festivaltagen mit vier choreografisch-musikalischen Produktionen im Tanzquartier Wien, im Kunsthistorischen Museum, im Studio Molière und im Reaktor ins Blickfeld.