Völlige Hingabe ist ein flüchtiger Zustand. Die vielen Facetten der Musik von GERALD FUTSCHER

„Ich mag keine Musik, deshalb schreibe ich Töne“, sagt Gerald Futscher von sich selbst. Auf den ersten Blick klingt diese Aussage aus dem Mund eines Komponisten vielleicht befremdlich. Im Gespräch wird jedoch rasch klar, dass sich der in Götzis lebende Musiker einen lustvoll ausgefüllten, musikalischen Kosmos geschaffen hat und darin gut und gerne viel Zeit verbringt. Unbeirrbar taucht er neben seinem Beruf als Musikschullehrer in seine eigene Welt der Töne ein, immer auf der Suche nach neuen Klängen und musikalischen Sinnzusammenhängen.

In den kommenden Monaten war und ist Gerald Futscher mit ganz unterschiedlichen Arbeiten bei Festivals in Vorarlberg präsent. Im Rahmen eines Konzertes im Kunstforum Montafon wurde im Mai 2018 sein neuestes Kammermusikwerk mit dem vielsagenden Titel  „Il y a une autre vie qui traverse le monde“ (Es gibt ein anderes Leben, das die Welt durchzieht) erstmals erklingen. Bei den Montforter Zwischentönen wirkten Gerald Futscher und sein Bruder Christian Futscher zusammen. Eingeladen wurde zu einem Spaziergang zu drei Orten in Altenstadt, wo Texte und Musik ein ganz eigenes Verhältnis zueinander eingegangen sind. Einen Workshop gestaltet Gerald Futscher mit Jugendlichen beim poolbar Festival. Das „stabat mater“ von Giovanni Pergolesi dient als Ausgangspunkt für eine Performance, die auch das – so wie es scheint – zum Alltag gewordene Grauen am Mittelmeer thematisiert.

Der russische Komponist und DJ Gabriel Prokofiev bringt mit seinen „Nonclassical Clubbings“ in London sehr erfolgreich die zeitgenössische Musik in den Verbindung mit DJ-Sounds. Beim Internationalen Bodenseefestival gingen der Bratschist Andreas Ticozzi und sein ensemble plus unter anderem mit Bratschenstücken von Gerald Futscher auf Tuchfühlung mit der Musik des DJs Gabriel Prokofiev und schufen damit neue Erlebniszusammenhänge.

Das Skelett mit Fleisch ummanteln

Gerald Futschers Musik polarisiert, doch nicht wenige Musikerinnen und Musiker in Vorarlberg erkennen die Qualitäten seiner Kompositionen und setzen sich für diese ein. Einer davon ist der Bratschist Guy Speyers. Nachdem er Gerald Futschers „Houllebecq Lieder“ sowie andere Kompositionen gespielt hatte, beauftragte er den Komponisten mit einem neuen Werk. Entstanden ist das Sextett „Il y a une autre vie qui traverse le monde“ für Klarinette, Horn, Fagott, Viola, Violoncello und Kontrabass.

Anhand dieses Stückes lässt sich Gerald Futschers kompositorische Welt gut beschreiben. Eine durchdachte und genaue innere Ordnung verleiht der kontrapunktisch organisierten Musik eine große innere Kraft. Meistens beruht das zugrundeliegende Konzept auf Primzahlenverhältnissen. Sobald dieses Skelett fertig gestellt ist, wird es belebt. „Dann kommt das Fleisch dran mit Motiven und Farben“, so Gerald Futscher. „Denn den ursprünglichen Bauplan soll man am Schluss nicht mehr hören.“ Seit gut zehn Jahren komponiert er auch mit Vierteltönen und erreicht damit fein nuancierte Abstufungen in den melodischen Linien.

Bach ist wie Yoga

Sein Interesse für Mikrointervalle führt der Komponist auch auf Arbeiten mit selbst gebauten Tonerzeugern und Klangexperimenten zurück. Nicht wenige Zuhörende, die Gerald Futschers Musik hören, meinen, sie habe einen aktionistischen Charakter. Doch das ist keine primäre Absicht. Viel mehr liegt die Vorliebe für die Kontrapunktik und für kleinräumig ausgefüllte musikalische Räume in einer großen Liebe zur Barockmusik begründet, vor allem zu Johann Sebastian Bach. Das umfassende Musikverständnis, das Bach seinen Kindern und Schülern mitgegeben hat, ist auch dem Lehrer Gerald Futscher ein Vorbild. Bach habe die Musik nie als Kunst gesehen, sondern immer als Handwerk betrachtet und seinen Schülern zugleich mit dem Erlernen des Instruments auch den Tonsatz vermittelt, erläutert Gerald Futscher. „Bach ist für mich das, was für andere Leute Yoga ist. Diese Klarheit und die Logik der Stimmeneinsätze ist faszinierend.“

Weil Gerald Futscher ein akribischer Arbeiter mit Tönen ist, steht er manchen Tendenzen in der Szene der zeitgenössischen Musik skeptisch gegenüber. So wirken auch jene Komponisten auf ihn unglaubwürdig, die erklären, ihre Musik entwickle sich aus der Improvisation heraus. Daraus entstehe nichts Neues, merkt er an, höchstens eine neue Anordnung von Tönen und diese interessiere ihn nicht.

Der schönste Nabel der Welt

Texte und Töne haben Gerald Futscher und sein Bruder Christian bei einer sogenannten „ambulanten“ Lesung in Altenstadt verbunden, die im Rahmen der Montforter Zwischentöne stattfand. In der Werkstatt des Autohauses Niederhofer beginnend über das Dachgeschoss der Volksschule bis zum Feuerwehrhaus nahm Christian Futscher literarisch Bezug zu diesen Orten. Seitens der Musik hat sich Gerald Futscher sehr genaue Gedanken darüber gemacht, welche Rolle seine Musik in Beziehung zu einer Lesung einnehmen kann und will. „Ich habe mir überlegt wie das sprachliche Schriftbild im Verhältnis zum gesprochenen Wort funktioniert“, erklärt Gerald Futscher. „Was ist ähnlich und was ist anders? Die größte Differenz besteht darin, dass in der Sprache kein Rhythmus fixiert ist. Jeder kann in einem anderen Rhythmus sprechen und damit sogar den Sinn verändern. Ein sprachlicher Text verweist immer auf einen Sinnzusammenhang, ein musikalischer Text hat eine andere Semantik. Das ist der Reibungspunkt.“

Singen im Aquarium

Beim diesjährigen poolbar-Festival wirkt Gerald Futscher – nach 22 Jahren – wieder einmal mit. Gemeinsam mit Jugendlichen wird er ein ganz besonderes Projekt realisieren. Den Ausgangspunkt bildet das berühmte „Stabat mater“ von Giovanni Pergolesi, das auf kreative Art „übermalt“ wird. Für jede Nummer wird ein neues und eigenes Sounddesign geschaffen. Zwei Sängerinnen singen Teile des Werkes mit dem Kopf unter Wasser in ein Mikrofon, die Aktion wird gefilmt und live auf Leinwand projiziert. Begleitet werden sie vom ensemble plus rund um Andras Ticozzi und einem Chor, bestehend aus Stimmgeräuschen, selbst gebauten Instrumenten aus Plastikmüll sowie Klaviertorso.

Silvia Thurner

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft im Mai 2018 erschienen.

Live:

Montag, 16. Juli 2018, poolbar-Festival, Altes Hallenbad Feldkirch, 19:30 Uhr
„stabat mater“, Performance zum Abschluss des workshops

Jugendliche können mitwirken:

Für Jugendliche besteht noch die Möglichkeit, beim poolbar-workshop „stabat mater“ mitzuwirken. (Notenlesen oder andere musikalische Vorkenntnisse sind nicht erforderlich). Proben finden zwischen dem 9. Juli und dem 16. Juli statt, gemeinsam mit Gerald Futscher werden auch Instrumente gebaut.
Information und Anmeldung: ahoi@poolbar.at

Links:
Gerald Futscher
Gerald Futscher (Musikdokumentationsstelle Vorarlberg)
Gerald Futscher (music austria Datenbank)