Ein Zwischenbericht zur 35. Ausgabe von Wien Modern mit dem Titel „Wenn alles so einfach wäre“ von Marie-Therese Rudolph.
Nach zwei Jahren kann Wien Modern, Österreichs größtes Festival für zeitgenössische Musik, wieder mit einer Vielzahl an Live-Konzerten stattfinden. Und das mit einem besonders üppigen Programm, was wohl den vorangegangenen pandemiebedingten Abbrüchen geschuldet ist, aus denen nun das ein oder andere Projekt nachgeholt wurde und wird. „Wenn alles so einfach wäre“, hat der künstlerische Leiter Bernhard Günter über die vier Wochen der 35. Ausgabe von Wien Modern als launiges Motto gestellt, das in vielerlei Hinsicht ausgelegt werden kann. So manche Produktion war durchaus aufwändig, so manche Komposition durchaus komplex. Was weder Voraussetzung, noch Garantie für den Publikumserfolg eines Stückes ist. Es wurde an vielen unterschiedlichen Spielstätten veranstaltet, einige spannende und ungewöhnliche Orte folgen in der zweiten Festivalhälfte.
Eröffnung mit den Wiener Symphonikern und Matthias Pintscher
Die Wiener Symphoniker eröffneten das Festival vor zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörern im Wiener Konzerthaus mit vier Werken aus den vergangenen dreißig Jahren, die, so unterschiedlich sie waren, zu berühren wussten. Matthias Pintscher feierte Premiere als akkurater Dirigent bei den Symphonikern. Er brachte auch sein eigenes Violinkonzert „Assonanza“ mit der Solistin Leila Josefowicz erstmals in Österreich zur Aufführung. Geschmeidig führte die Geigerin vor, welche klanglichen Facetten ihr Instrument zu bieten hat, nicht verwunderlich, da der Komponist dafür aus einem Solostück, auf ihre Initiative hin und in engem Austausch, eine Fassung mit Kammerorchester umgesetzt hat. Die Tutti-Instrumente imitieren, zeigen Temperament in rhythmischen Ausbrüchen, ihre Stimmen verschmelzen im „Gleichklang“ wie der Titel „Assonanza“ verspricht.
Mit „Der Zorn Gottes“ der über 90-jährigen Sofia Gubaidulina endete der Festival-Auftakt fulminant und eindringlich mit Bläserkaskaden und zwingenden Rhythmen – ein orchestraler Klang-Tsunami. Die Grand Dame der neuen Musik, aus Russland gebürtig und seit den 1990er-Jahren bei Hamburg lebend, erschuf eine Komposition, die in enger Verbindung mit einem Friedensgebet in mehreren Sprachen steht. Deren Uraufführung musste mehrmals verschoben werden und fand vor zwei Jahren, nur wenige Tage nach dem Attentat in Wien statt. Ein weiterer Lockdown hatte damals begonnen, daher konnte das Publikum nur per Stream beim Konzert des RSO und der Dirigentin Oksana Lyniv dabei sein. Eine denkwürdige Ausnahmesituation, die zur Festivaleröffnung glücklicherweise nicht gegeben war.
Im Reaktor
Mehrere Male bespielt Wien Modern heuer den Reaktor, ein ehemaliges Etablissement im 17. Bezirk. Die Räumlichkeiten im shabby chic haben sich innerhalb kürzester Zeit etabliert und eignen sich für installative Projekte besonders gut. Wobei das Konzert des Mondrian Ensembles eine etwas weniger tragende Akustik gutgetan hätte. Die Artikulationen der kleinbesetzten Stücke des Schweizers Martin Jaggi und des Wieners Thomas Wally verschwammen in der halligen Akustik des hohen Raumes, was der Wirkung allerdings keinen Abbruch tat. Jaggi beschwört in seinen drei „Kôrd“-Kompositionen, deren Titel auf das englische Wort für „Saite“ anspielt, die spieltechnischen Eigenheiten außereuropäischer Instrumente und deren spezifische Klänge herauf. Im Anschluss wurde Thomas Wallys CD, auf der u. a. das Streichtrio „Caprice“ und das Klavierquartett Nr. 1 „… jusqu’à l’aurore … Caprice (IV) bleu“ in der hervorragenden Interpretation des Mondrian Ensembles zu finden sind, präsentiert. Musik, die alle Facetten von zart bis energisch packend ausreizt und Wallys kompositorisches Gespür für zeitliche und formale Strukturen bestens belegt.
An szenischen Produktionen gab es bisher einige: Im Reaktor etwa „Brauchen“ mit neuen, durchaus ansprechenden Kompositionen von Marco Döttlinger, Peter Jakober und Alexander Martinz sowie „Polizeitrieb“ für zwei Perkussionisten (1985/86), mit viel Situationskomik interpretiert auf einem Stapel Zeitungen mit Fliegenklatschen von Carola Bauckholt. Das Konzept des Abends geht dem „Verlangen nach gemeinschaftlichen Hörerfahrungen“ nach. Gleichzeitig sollten die tradierten Abläufe des Konzertrituals gebrochen werden – mit Akteurinnen und Akteuren, die das Publikum anleiteten, die Räume zu wechseln, Süßigkeiten austeilten und als in ein papierenes Ballkleid gewandete Dame, als sentimentale Clowns und latextragende Lustknaben ständig in Bewegung waren. Die Gewohnheiten durchbrechende Details wie einzelne gegenübergestellte Stühle in den Sitzreihen, ein Bogen mit Vorhang beim Eingang oder körperliche Berührungen durch die Darstellenden hatten unterschiedliche Publikumsreaktionen zur Folge, je nachdem, wo der Fokus des Interesses liegt. Das ensemble]h[iatus spielte an unterschiedlichen Plätzen; Peter Jakobers sich ganz langsam verändernden Akkorden erhielt ein eigens für „Brauchen“ kreiertes Video, in dem die Akteure des Abends ebenfalls – originell montiert – vorkamen.
Claudio Abbado Konzert mit Bespielung des Musikverein-Foyers
Ebenfalls mit einem auf mehrere Räume verteilten Szenario hat das jährliche „Claudio Abbado Konzert“ im Foyer des Musikvereins begonnen. Das Publikum sollte sich quer durch die Halle, vorbei an den Garderoben, bis in die Durchfahrt frei bewegen. Dort waren zehn Streicher und zwei Schlagwerker des Hamburger Ensemble Resonanz verteilt, ohne Sichtkontakt, verbunden durch einen kleinen Funkknopf im Ohr, und die digitale Partitur von „Open Spaces II“ auf dem Notenständer. Georg Friedrich Haas hat mit mikrotonal umgestimmten Instrumenten irisierende Klänge komponiert, die das Erdgeschoss des ehrwürdigen Gebäudes vibrieren ließen.
Im „Goldenen Saal“ führte dann Isabel Mundry mit ihrer neuen Komposition „Signaturen“ eindrücklich vor, dass Klaviere sowohl Saiten- als auch Tasteninstrumente sind. Ganz organisch resonierten die Klänge der im Flügelkorpus gezupften Saiten in den Glissandi der Streicher. Ihre Akkorde schienen ohne Halt, suchend nach Verankerung, den sie in stehenden Tönen fanden. Als das konzentrierte GrauSchumacher Piano Duo schließlich in die Tasten griff, erzeugte das einen doppelten Effekt: vertraute Klangfarben im vertrauten harmonischen System. Dirigent Enno Poppe leitete auch sein eigenes Stück „Wald“ für vier Streichquartette: kommunizierende Einheiten, die erst am Ende zueinander stießen, um in lichten Höhen gemeinsam zu entschwinden. Fulminanter Höhepunkt der Matinee war die Uraufführung von Milica Djordjevics „Jadarit“! Ein anfangs desorientiert im Parkett herumirrender Gast mit schepperndem Köfferchen entpuppte sich rasch als genialer Solist des Konzerts: der Schlagwerker Dirk Rothbrust. Warme Klänge, wie aufeinander reibende Steine standen in starkem Kontrast zum diffusen Streicherklang. Nach einem grandiosen Schlagwerk-Solo prasselte ein Pizzicato-Regen der Streicher hernieder, der direkt in den Schluss führte.
Neue Spielorte: Planetarium und Schauspielhaus
Wien Modern hat sich in den ersten beiden Wochen wie ein Netz über die Stadt und als Bindeglied zu zahlreichen Kooperationsveranstaltern gelegt. Einer davon war das sirene Operntheater, das im Planetarium im Prater die Komposition „Kabbala“ des heuer im Frühjahr verstorbenen Alte-Musik-Spezialisten René Clemencic zur Aufführung brachte. Unter der musikalischen Leitung von François-Pierre Descamps setzte das Team in der für Live-Musik undankbaren Akustik ganz auf die eindrücklichen Visualisierungen, die dem in den gepolsterte Liegestühlen Lauschenden entgegenrasten. Nichts für schwache Mägen, wenn sich Feuerkreise drehen, Sternennebel verdichten und diverse Planeten mit Anhang näherkommen und entschwinden. Clemencics Musik gerät dabei zur Nebensache, wobei sie in ihrer komplexen Anlage, der Verwendung des hebräischen Alphabets als Textvorlage und dominantem archaischen Schlagwerk etwas sperrig wirkt.
Ganz und gar nicht einfach macht es Angélica Castellò dem Publikum mit ihrem neuen Musiktheater „Red Rooms“, uraufgeführt im Schauspielhaus. Aus der jahrelangen Auseinandersetzung mit dem „Rotkäppchen“-Stoff auf unterschiedlichen Ebenen ist eine facettenreiche, mitunter hart an der Schmerzgrenze klingende Traum-/Wirklichkeitsszenerie mit drei Käfigen auf der Bühne hervorgegangen. Die Figuren sind jeweils mehrfach besetzt, Rotkäppchen wird kongenial verkörpert durch die Stimmperformerin Isabelle Duthoit und die Sängerin Theresa Dlouhy – mit klassischem Gesang, herzzerreißendem Schluchzen bis hin zu martialischem Schreien, ein Aufwachen aus dem Albtraum, der nie zu Ende geht. Großmutter ist eine Flöte spielende, Steine klopfende und singende Trias und der (Wer-)Wolf (Romain Bischoff) ein heulendes, gefährliches, instinktgetriebenes Tier; als Gäste einer Radio-Talkshow lassen sie tief in ihre psychische Konstellation blicken. Die mehrsprachige Beschallung, das Radio-Hörspiel und die zwischen atmosphärischen Sounds und brutalem Ratschengewitter angelegte Klangkulisse durch das Ensemble Phace kommen vom Balkon direkt über der Bühne.
Komponistinnen prägen das Programm
Komponistinnen sind im diesjährigen Festival zahlreich vertreten, ein Umstand, der in naher Zukunft hoffentlich keiner Erwähnung mehr bedarf. Einen dreiteiligen Abend vorwiegend aus dem Pool der Beteiligten der mittlerweile drei vorliegenden Compilations gestaltete die Plattform für Musikerinnen Fraufeld. Verspielt Improvisiertes etwa von Elisabeth Harnik am Klavier gemeinsam mit der Saxofonistin Viola Falb, Neues von der beeindruckend virtuos mit der Elektronik hantierenden Isabella Forciniti mit der aktionistisch am Flügel agierenden Stimmperformerin Alexandra Bajde, der auf einem ausgelösten Klavierinnenteil, Pianoguts genannt, spielenden Juun gemeinsam mit Lale Rodgarkia-Dara an der Elektronik und rezitierend (mit anfänglichen Technikproblemen, die während eines vorgezogenen Kuratorinnengesprächs gelöst werden konnten) sowie eher einfach gehaltenen Klaviersoli von Ursula Reicher (die selbst auch gesungen hat) und Viola Hammer.
Zu einem konzertanten Höhepunkt mit Werken quer durch die Generationen geriet der Abend mit dem fabelhaften Freiburger ensemble recherche: Kristine Tjøgersen, die zwischen luftigen Geräuschen aus Mundstücken und irisierendem Schwirren von Schläuchen den reinen, schönen Ton beschwört, oder Annesley Black, die schnarrende, animalisch anmutende Laute im elektronisch verstärkten Raum zu instrumentalen Schreien mutiert.
Unglaubliche 56 Jahre liegen zwischen dem ersten und dem letzten Stück des Abends, beide von Helmut Lachenmann, der mit seiner offenen und stets klaren Haltung, seinen strukturierten und gleichzeitig sinnlich ansprechenden Kompositionen die Musik der Gegenwart geprägt hat. Im „Trio fluido“ (1966) geben die warmen Klänge des Marimbafons, der Bongos und Glocken den variantenreichen Rahmen für fein gezeichnete Artikulationen von Klarinette und Viola. Lachenmanns neues Streichtrio „Mes Adieux“ hat mit der kurzfristig eingesprungenen Geigerin Nurit Stark die ideale Interpretin gefunden. „Meine Abschiede“, etwas sentimental zielt der Titel auf alles, was an Musik bisher geschaffen wurde, es ist der Fundus, aus dem sich Lachenmann mit der Souveränität des Alters bedient. Rhythmisiertes Atmen, stimmloses Pfeifen bildet die Basis. Darüber ereignen sich lange Töne, Pizzicati, zartes Flageolett, alles, was das Repertoire zu bieten hat, kurzweilig und organisch. Ein Meisterstück, das mit seiner Selbstverständlichkeit, seiner unprätentiösen Art fesselt, ohne sich dabei allzu ernst zu nehmen. Und schließlich das dem Andenken an Lothar Knessl (1927–2022) gewidmete Konzert mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung seiner Chefdirigentin Marin Alsop. Elegant moderiert von Ö1-Zeit-Ton-Producer Rainer Elstner, der zur Person Lothar Knessl dessen Weggefährten und Nachfolger:innen live auf der Bühne zu Wort kommen ließ. Knessl war Gründer der ersten Radioschiene für zeitgenössische Musik in Ö1 und gestaltete dafür unzählige informativer Stunden, er unterrichtete an der Universität Wien, war Mitgründer von mica – music austria, publizierte, kuratierte und beeindruckte mit seinem lückenlosen Gedächtnis und seiner Kenntnis. Die fünf Orchesterwerke wären wahrscheinlich ganz in seinem Sinne gewesen: Von jungen, vielversprechenden Komponist:innen, darunter auch zwei Erste-Bank-Kompositionspreisträger:innen, Matthias Kranebitter und Mirela Ivičević. Viele Jahre war Knessl alleiniger Kurator dieser prestigeträchtigen Auszeichnung. Für „60 Auditory Scenes for Investigating Cocktail Party Deafness“ hat Kranebitter zwei Ensembles am Balkon platziert, zwischen den kurzen, effektvoll im Temperament wechselnden Passagen schaltete sich eine Kommentatorenstimme ein, dazwischen allerlei Alltagsgeräusche und musikalische Versatzstücke. Milica Djordjevićs „Von Bäumen, Zärtlichkeit, Mond …“ beschreibt gut nachvollziehbar nächtliche Waldgeräusche, Sara Glojnarić hat in „sugarcoating #4“ aus den Metadaten einer Million zeitgenössischer Musikstücke ein neues Stück erschaffen. Mit „Black Moon Lilith“ zeigt Mirela Ivičević energisch und mit dem ihr eigenen Witz auf, was im Schlagwerk, den Bläsern und dem solistisch eingesetzten Trompeter stecken.
In der restlichen Spielzeit kann man mit Spielstätten wie dem Jugendstiltheater, dem Gartenbaukino, dem Odeon wieder an diversen Orten mit von Forderndem und hoffentlich auch wieder von Gelungenem überraschen lassen.
Marie-Therese Rudolph
Link:
Wien Modern