Utopien zur „Zukunft der Musik“: Thomas Mießgang

Anlässlich seines 20-jährigen Jubiläums hat mica – music austria langjährige Kenner der österreichischen Musikszene gebeten, sich in Form polemischer Utopien mit dem Thema „Zukunft der Musik“ auseinanderzusetzen. Die von Thomas Mießgang gibt es nun auch zu lesen.

Hat die Musik Zukunft?

Nie gab es soviel Musik wie heute. In der Früh dudelt das Radio, und wenn nicht in der eigenen Wohnung, dann nebenan. Auf dem Weg zum Arbeitsplatz, sofern man noch über einen verfügt, wird man mit Klängen aus den Subwoofern der vorbeifahrenden Cabrios beschossen. Beim Bäcker und im Supermarkt läuft Ö 3, unterbrochen von Werbejingles, im Antiquitätenladen Ö 1 oder Radio Stephansdom. Wenn man noch schnell einen Capuccino zwitschern möchte, wird man im Bistro mit Superfly oder gehobenen Loungeklängen in Stimmung geschunkelt. Und wenn auf der Baustelle die Presslufthämmer knattern, könnte man das für eine ältere Platte der Einstürzenden Neubauten halten.
Klang ist also semper et ubique. Aber ist er auch Musik? Musik verstanden als künstlerische Form, als autonome Klanggestalt die in ihrer Eigenart und ästhetischen Zurichtung wahrgenommen werden möchte? Wohl eher nicht. Das, was dem Stadtbenutzer – auf dem Land ist es dann doch noch ein wenig anders – Tag für Tag an Klängen um die Ohren geschlagen wird, ist eher Behauptung von Musik als tatsächliche idiosynkratische Formung von Klang.

Oder, um es mit einem Begriff von Erik Satie präziser auszudrücken: musiqe d` ameublement – Musik als akustische Möblierung von Außen- und Innenräumen. „Die Musique d’ameublement erzeugt Vibrationen, ohne einen andern Zweck zu haben.“ erläuterte Satie 1920 in einem Schreiben an Jean Cocteau. „Sie erfüllt dieselbe Rolle wie das Licht, die Wärme und der Komfort in allen Varianten.“ Das mag damals so gewesen sein – sicher wissen wir das auch nicht – heute jedenfalls ist die Beschallung von Räumen, vor allem von solchen, in denen Geld umgesetzt wird, ein ganzer Wissenschaftszweig geworden. Psychoakustiker ermitteln präzise, welche Frequenzen ein angenehmes Konsumklima zu schaffen und welche Störsignale herausgefiltert werden müssen, um den überstürzten Abgang potentiellen Kundschaft aus den Tempeln kapitalistischer Kaufexzesse zu verhindern. Umgekehrt kann man durch sogenannte ´piped music`, also Klänge, die an bestimmten Stadtarealen durch strategisch positionierte Lautsprecher den öffentlichen Raum beschallen, konsumunwillige oder, mangels Bargeld, konsumunfähige Jugendliche, die durch ihre auffällige Präsenz nur Störfaktoren wären, fernhalten. Bestimmte Gassenhauer aus dem Klassikrepertoire haben sich als gute Teenage-Blocker erwiesen, erstaunlicherweise aber auch einige Songs, von denen man annehmen würde, dass sie jeder Heranwachsende locker wegstecken kann, ohne dass sein Zentralnervensystem Schaden leidet. In Australien wurde ein Pilotversuch durchgeführt, danach berichtete ein Lokalpolitiker der Presse: „Lieder wie “Mandy” oder “Copa Cabana” von Barry Manilow sind so uncool, dass sie Jugendliche möglicherweise dazu bringen, Gegenden zu meiden, in denen diese Songs über Lautsprecher transmittiert werden.“

Wir sprechen hier von einer Form von Musik, die es immer gegeben hat und immer geben wird. Gebrauchsmusik, die früher gesungen oder gepfiffen wurde und die unter den Bedingungen der Schallaufzeichnung und der technischen Reproduktion immer größere Sektoren des öffentlichen und privaten Lebens kolonisiert hat: Musik für den schnellen Gebrauch, Musik als Stimmungaufheller, als Kaufimpulsauslöser. Für so jemanden wie Hansi Hinterseer oder einen beliebigen Soundalike wird es immer ein Publikum geben. Und die Leute aus den gehobenen Milieus, die darüber die Nase rümpfen, merken gar nicht, dass sie in ihrer Ö 1- Bach, Brahms, Beethoven-Wiederholungschleife mindestens genauso feststecken wie die Biertrinker aus dem Musikantenstadel in ihrem feuchtfröhlichen Zeltgottesdienst.
Was aber wurde aus der Musik, die nicht durch die Reproduktion des Immergleichen die Seele massieren möchte, sondern die mit Vehemenz einen Avantgardeanspruch vertritt? Die den Entwicklungsteleologien, denen die Gesellschaft im technisch-wissenschaftlichen Bereich unterliegt, ihr aus der eigenen Geschichte hergeleitetes ästhetisches Korrelat entgegenstellen will?

Sie hat es, so wie alle anderen Kunstformen schwer. Nicht dass die Geschichte vom Ende der Avantgarde neu wäre. Roland Barthes hat schon 1954 vom Nullpunkt der Literatur gesprochen, Peter Bürger 1974 vom Scheitern der Avantgarden. Immer schon schien das Projekt der Moderne gefährdet, die Lebensentwürfe und künstlerischen Umschichtungsprozesse von ihrer eigenen Hybris, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, den konservativen Blockademilieus etc. bedroht.
Trotzdem gibt es seit einiger Zeit etwas Neues, das die Propheten des Scheiterns aus den Sechziger- und Siebzigerjahren noch nicht kennen konnten. Denn unterderhand ist der Gesellschaft ihr dialektisches Korrektiv abhanden gekommen, das immer auch ein Motor der jeweiligen Kunstmodernisierungsversuche war. Was immer wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten an gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen erleben werden, sie werden sich unter den Bedingungen des Kapitals und der Wertschöpfung vollziehen und nicht unter den Konditionen des Kollektivismus und der gerechten Güterverteilung. Die gesellschaftliche Formation, die einst euphemistische als Spätkapitalismus bezeichnet wurde, ist jetzt einfach der alternativlose Zustand, unter dem gelebt und gewirtschaftet wird. Dies hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die entelechetische Kraft, von der die Avantgarden angetrieben werden. Wenn wir auf die Sechzigerjahre zurückblicken, so läßt sich mit heutigem Wissensstand relativ risikolos behaupten, dass es sich um das avantgardeversessenste Jahrzehnt handelte.

Auf die Musik bezogen heißt das: John Coltrane, Ornette Coleman, Free Jazz, Jimi Hendrix, Feedbackexzesse, Wha Wha-Pedal, Morton Subotnick, Synthesizer, Elektronik, Stockhausen: Hymnen, Kontakte, Aus den sieben Tagen – akusmatische Grenzüberschreitungen, aber auch etwa Captain Beefheart – psychoakustisch-kubistischer Meta-Blues, der eine rurale Ausdrucksform zur avantgardistischen Widerstandsgeste hyperstilisierte. Die Sechzigerjahre, das war ein Epoche, die besessen war vom Neuen, vom Niegehörten. Was Martin Heidegger über sein Denken geschrieben hat, kann man auch auf die teleportative Kraft der Musik anwenden: „Der Flügelschlag des Eros berührt mich jedesmal, wenn ich im Denken einen wesentlichen Schritt tue und mich ins Unbegangene wage. Er berührt mich vielleicht stärker und unheimlicher als andere, wenn lang Geahntes in den Bezirk des Sagbaren herübergeleitet werden soll.“ Wenn wir das Sagbare durch das Singbare oder das Hörbare ersetzen, dann sind wir dort, wo sich die Musik in den Sechzigerjahren befand. Die Verbindung von Eros und Klang, vom Flügelschlag des Transzendentalen und der materialistischen Durcharbeitung der Materialien, die die Geschichte in ihre Mülltonne geworfen hatte, waren es, was dem Klang dieser Zeit seine ganz spezielle Signatur verliehen hat. Heute wissen wir, dass dies nur funktioniert hat, weil die Weltgesellschaft sich in einer antizipatorischen Erwartungshaltung befand. Man rechnete damit, dass das Schändlich-Unwelthafte, das die Epoche des Kalten Krieges beherrscht hatte, bald evaporieren würde, und die Konturen einer neuen Form von Gemeinschaft und Miteinander am Horizont erscheinen würden – und gegen eine kleine Revolution hätte auch niemand etwas einzuwenden gehabt. Und die Musik war „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“

Innovation bezog ihre Kraft nur vor dem Horizont eines epistemologischen Umbruchs, der ein lang Geahntes in den Bereich des Lebbaren herüberleiten sollte. Doch die Verhältnisse, sie waren nicht so. Der real existierende Sozialmus, ohnehin nur die Schwundstufe der gesellschaftlichen Utopie, implodierte mit einem leisen Wimmern und im akustischen Raum der Sirenengesänge, die vom Neuen künden wollten, hiess plötzlich: When the music`s over turn out the light“ – der Letzte macht das Licht aus. Heute, in der postheroischen Epoche, in der es nicht mehr um das Leben als verdichtete Seinsmodalität geht, sondern um das nackte Überleben in erbitterten Konkurrenzmilieus geht, ist es, auch was die Musik betrifft, Pitch black. Nur gelegentlich zündet mal jemand ein Feuerzeug oder ein Streichholz an und gibt den Blick frei auf eine akustische Kontur, die man so noch nicht wahrgenommen hat: meist irgendeine Form des Transfers vom Signal zum Noise: ob es sich nun um ohrenzerfetzende Radikal-Elektronik aus der Mego -Schule handelt oder um Mischformen von Field Recordings und gestalteten akusmatischen Prozessen, um elektronisch upgegradeten Free Bop mit überblasenem Saxophon oder eine Drone-Liturgie in der LaMonte Young-Erbfolge.

Innovation in den Künsten ist weitgehend abgekoppelt vom gesellschaftlichen Prozess und muss ihr eigenes Navigationssystem entwickeln, wenn sie in der längst nicht mehr neuen Unübersichtlichkeit der Risiko- und Erlebnisgesellschaft wenigstens noch eine kleine Markierung auf der Haut der Dinge anbringen möchte. Die fetten Jahre aber, in denen man akustische Neuigkeiten von den Bäumen schütteln konnte, die sind endgültig vorbei.
Tut mir leid, Erfreulicheres habe ich derzeit nicht zu bieten. Aber vielleicht ist das ja alles nur das klassische „früher war alles besser“ Alter Sack-Gejammere und in Wahrheit verhält es so, wie Hansi Hinterseer singt:

Heut ist Dein Tag, denn heut´ wird das Glück Dir begegnen.
Vom Himmel wird’s Sternschnuppen regnen,
heut´, da werden Deine Wünsche wahr.
Heut ist Dein Tag. Von allem für dich nur das Beste.
Ab heut´ nur noch Gaudi und Feste.
Du ich sag dir: „Heut´ da ist Dein Tag!“

 

Thomas Mießgang ist Autor, Kulturjournalist und Kurator. Sein aktuelles Buch “Scheiß drauf. Die Kultur der Unhöflichkeit” erschien 2013. Den vorliegenden Text trug er am 26. Juni 2014 beim 20-Jahre-mica Fest vor.

Foto 1: Elisabeth Voglsam
Foto 2: mica – music austria

 

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