Utopien zur "Zukunft der Musik": Elke Tschaikner

Um eine polemische Utopie wurde gebeten, mit einem gänzlich unpolemischen, weil von Herzen kommenden Geburtstagswunsch möchte ich beginnen.

Liebes mica,

ich wünsche Dir alles Gute zum 20. Geburtstag. Ich freue mich, dass es Dich gibt. Ich freue mich, dass so viele Deiner Freundinnen und Freunde, Deiner Verbündeten und Deiner Weggefährtinnen und Weggefährten heute hier sind.

Du selbst bist einer der treuesten Unterstützer und Weggefährten für Kreative in diesem Land. Und gerade für junge Musikerinnen und Musiker, für Musikschaffende in Deinem Alter, ist es bekanntlich schwer, Fuß zu fassen im Dickicht von Medien, Veranstaltern, Labels, Journalistinnen und Journalisten, Förderstellen. Sie brauchen Verbündete wie Dich.

Auch der Ort, an dem ich arbeiten darf, die Musikredaktion von Ö1, ist einer, der sich als zeitgenössischer Verbündeter der Musikszenen verstehen will. Radio feiert heuer in Österreich auch Geburtstag. Es ist im Vergleich zum mica ein Greis, Radio in Österreich wird im Herbst 90 Jahre alt. Und Ö1 steuert in wenigen Jahren auf den 50er zu. 90 und 50 – das sind Geburtstage, die auf ganz andere Art nachdenklich machen, als das heutige Fest es tut.

Denn wer braucht eigentlich noch Radio, fragen wir Musikradiojournalistinnen und -journalisten uns manchmal, während wir zur Recherche durchs Internet surfen. Wir fragen uns das, während uns die Demografen sagen, dass Menschen, die so jung sind wie das mica, immer weniger Radio hören. Wer braucht Radio und wer wird in Zukunft überhaupt noch Radio hören: Auf diese Frage gibt es zahllose Antworten, trotzige, kämpferische, resignative, optimistische.

Und weil das heute ein Geburtstag ist, darf es ja ein wenig pathetisch sein: Ich glaube an das Medium Radio, egal wie wir es in Zukunft empfangen werden. Ich glaube an ein Kulturradio, auch wenn und gerade weil es sich verändert und verändern wird. Gerade auch weil es sich in aller altersgemäßen Langsamkeit und Überlegtheit verändert. Ich glaube an Radio, solange es sich als Verbündeter einer kreativen, lebendigen, zeitgenössischen Musikszene versteht. Ich glaube an Radio, das so etwas Altmodisches wie Sendungsbewusstsein hat und das trotzdem keine sendende Einbahn mehr sein will.

Radio ist ein Unort. Ist überall und nirgends. Taucht auf und vergeht, ist – und das ist bemerkenswert – so insistierend wie ephemer. Radio verkörpert einen Ort ohne Ort oder keinen Ort als potenziell omnipräsenten Ort. Radio steuert aber gerade in seinem Ephemersein dennoch die Choreografie unserer Tage. Eine „falsche“ Signation, eine ungewohnte Musik zum Zeitpunkt einer gut eingeübten Hörgewohnheit kann irritierender sein als ein inhaltlich bedeutsames Wort einer physisch anwesenden Gesprächspartnerin bzw. eines Gesprächspartners. Radio ist Unort und Choreografie, schreibt uns also den Tanz des Tages vor, grafiert die Chorea, den täglichen Hör-Tanz. Um eine polemische Utopie wurde also gebeten, und schon befinden wir uns auf voller Fahrt in den Orkus und zugleich ins Elysium, sprich mitten in die Vorgabe alles Altgriechischen. Was uns zum Unort zurückbringt: Radio ist überall und nirgends, ist also nur hörbar an einem konkreten „tópos“, also einem Ort, aber den einen „tópos“ fürs Radio gibt es nicht, und deswegen steht ein „U“ davor, also die Utopie. Und dass „polemikós“ eigentlich „kriegerisch“ meint, sei jetzt nur noch der altgriechischen Vollständigkeit halber hinzugefügt. Wir fassen zusammen: choreia, gráphein, orcus, ēlýsion, polemikós, tópos und schließlich outópos. Auf gut Deutsch: Wir reden von und wir leben mit einer täglichen radiofonen Choreografie, die uns in den Orkus des Schrecklichen ebenso wie ins Elysium des erhellenden Hörens führt, die bei aller Polemik die pure Realisation einer Utopie ist.

Tägliches lustvolles Ringen mit dieser Utopie ist die Aufgabe eines Radios, wie ich es mir vorstelle. Täglicher Versuch, einen Ort der unvorhersehbarsten musikalischen Nachbarschaften zu schaffen. Einen Ort der ausgedehntesten musikalischen Expeditionen ins Neue. Dieses Radio darf auch an der eigenen Utopie scheitern, vorausgesetzt, es ist sich dessen bewusst. An diesem Unort sollen die Musikszenen eines Landes ein- und ausgehen können. An diesem Unort Radio sollen sich die Hörenden aufgehoben, doch auch überrascht und herausgefordert und manchmal provoziert fühlen. An diesem ephemeren Ort sollen Menschen arbeiten, die wissen, dass Radio ohne das kreative Schaffen lebendiger Musikszenen ein karger Ort wäre.

Viel wurde über den 90-jährigen Greis Radio in den letzten Monaten diskutiert und geschrieben. Auch hinter den Kulissen des Radios reiben wir uns nicht immer nur an Radioutopien, sondern an realen Worten wie Einsparungen, Budgetkürzungen. Und dem urbanen Ort unseres Unorts Radio – das Funkhaus werden wir vermissen.

Ich möchte diese polemische Utopie, die eigentlich eine Liebeserklärung an ein altes, aber faszinierendes Musikmedium ist, sachlich beenden: mit einem Zitat aus dem ORF-Gesetz: „Der Programmauftrag zu Kunst, Kultur und Wissenschaft geht über die Erfüllung des Informationsauftrags hinaus. Durch Berücksichtigung und Förderung der heimischen künstlerischen und kreativen Produktion ist ein Beitrag zum Kulturgeschehen zu leisten. Im Bereich der Filmkunst, der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik ist besonders dem gegenwärtigen österreichischen Schaffen Raum zu geben. Als Auftraggeber und häufig Erstveröffentlicher künstlerischer Werke und wissenschaftlicher Erkenntnisse soll der ORF einen Beitrag zum Kulturgeschehen leisten.“

Elke Tschaikner

Foto: musikprotokoll.orf.at

Link:
Ö1