Anlässlich seines 20-jährigen Jubiläums hat mica – music austria langjährige Kenner der österreichischen Musikszene gebeten, sich in Form polemischer Utopien mit dem Thema „Zukunft der Musik“ auseinanderzusetzen. Die von Constanze Wimmer gibt es nun auch zu lesen.
Musik lieben lernen – eine Utopie zur musikalischen Bildung
Wenn ein Mensch sich bildet, kommt er sich selbst dabei ein Stück näher. Manchmal unmittelbar im Moment, manchmal erst eine Zeit später. Welche Anlässe zur Bildung tiefe Eindrücke hinterlassen, bleibt vielfach im Verborgenen – sei es, weil man zu jung ist, um sich später daran zu erinnern oder weil erst die Verknüpfung von vielen einzelnen Eindrücken zu einer bildenden Erfahrung wird.
Eine utopische Begebenheit:
Anruf des Ministers: Die OECD veröffentlicht eine Studie, nach der den kreativen Fächern an der Schule für die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen eine ebenso wichtige Bedeutung gegeben wird wie den Hauptfächern Mathematik und Deutsch. Deshalb wird in absehbarer Zeit ein erster Test in allen OECD-Mitgliedsstaaten zur Messung von Kreativität und zum Umgang mit den Künsten im Pflichtschulalter durchgeführt. Österreich fürchtet bereits jetzt um sein Image als Kulturland und um Einbrüche im wichtigsten Wirtschaftszweig Tourismus, wenn es bei diesem Test auf einem der hinteren Plätze im Ranking landet. Eine erfolgreiche Punktlandung erscheint utopisch. Was ist zu tun?
Als Musikvermittlerin bekomme ich das Pouvoir, ein Konzept zu erarbeiten, das auf Vorhandenem aufbaut und gleichzeitig weiterentwickelt und dazu alle Mittel und Ressourcen, die ich brauche, um notwendige Veränderungen auch tatsächlich in Gang zu bringen. Der erste Tag am Weg zum gerankten Musikbildungsland führt mich mit einer Gruppe von Menschen zusammen, die einen repräsentativen Ausschnitt gelebter Musik in Österreich darstellen: Komponisten, Schulmusiker, Popmusiker, Veranstalter, Instrumentalpädagogen, Musikvermittler, Instrumentalisten – ein Team von 7 bildet sich heraus, um mit mir die derzeit bereits guten Ansätze zu sammeln und gemeinsam neue Überlegungen anzustellen.
3 Säulen des Umgangs mit Musik stehen für uns im Zentrum:
– Kinder und Jugendliche machen selbst Musik
– Sie erwerben ein umfassendes Urteilsvermögen beim Hören von Musik
– Und sie involvieren sich mit Begeisterung in die vielfältigen Musikkulturen in Österreich
Ganz einfach eigentlich!
Dafür entwerfen wir ein Bild von Schule, in der das Kind in den Mittelpunkt der Überlegungen rückt und alle schulorganisatorischen, standespolitischen und gewerkschaftlichen Befindlichkeiten außer Acht gelassen werden. (Zur Erinnerung: Wir befinden uns in einem utopischen Zustand!)
Wir definieren Schule als einen Ort, wo Kinder von unterschiedlichen Menschen begleitet, ermächtigt, begeistert, verunsichert, ermutigt, befragt und gemocht werden. Kann das nur eine Person wie derzeit in den meisten Volksschulen der Fall oder könnte jede Klasse nicht besser von einem kleinen Team von Pädagogen betreut werden, die Expertenschaft in unterschiedlichen Bereichen haben, ergänzt um Gäste von außen? Es liegt auf der Hand, dass Durchlässigkeit zwischen dem Leben in der Schule und dem Leben außerhalb der Schule möglich sein muss, um die gesellschaftliche Verantwortung der Bildung nicht nur an eine Institution oder die Familie zu delegieren, sondern als ein Gemeinsames wahrzunehmen.
Kunst und Kultur als gestalteter Ausdruck von Gesellschaft ist in unserem Bild von Schule die erste Wahl, um diese Durchlässigkeit kreativ zu bewerkstelligen. In unserem Klassenteam gibt ein Musiklehrer oder eine Musiklehrerin den Ton vor und ein ausgesuchter Pool an Musikern aus den verschiedenen Genres der Musik, die als Gäste zu jeweiligen Themen wie Popsong, Orchestermusik, Oper, Jazz oder Neue Musik mit den Schülern arbeiten, unterstützt sie dabei.
Jeder Schüler und jede Schülerin erlebt Singen als unmittelbaren Selbstausdruck. Im Chor wird ein Schatz an Liedern ersungen, der ein Leben lang im Rucksack bleibt und ständig erweitert wird. Da sich unsere Gesellschaft mittlerweile aus vielen Kulturen zusammensetzt, versteht es sich von selbst, dass dieser Schatz keineswegs nur aus deutschsprachigen Liedern und Songs besteht.
In instrumentalen und vokalen Improvisationen und musikalischen Erfindungen werden alle stilistischen Möglichkeiten ausgelotet, wie Kinder und Jugendliche Musik als Ausdrucks- und Gestaltungsmittel für ihre eigenen Gefühle und Gedanken begreifen können.
Selbstverständlich gehen alle Schülerinnen und Schüler mindestens einmal im Semester in ein Konzert, in die Oper, in ein Pop- oder Jazzkonzert oder ins Musical und erarbeiten in der Volksschule und in der weiterführenden Schule eigene Aufführungen an ihrer Schule oder mit der Musikvermittlungs-Abteilung einer Kultureinrichtung. Rund um die Konzertbesuche und ihre eigenen Aufführungen erfahren anhand dieser Beispiele Wesentliches zur Musikgeschichte, zur Formenlehre und zur Musiktheorie.
Für besonders interessierte Schüler bietet die im selben Gebäudekomplex untergebrachte Musikschule die Möglichkeit, ein Instrument zu lernen oder noch intensiver im Chor zu singen.
Abgesehen von Chor und Instrumentalunterricht scheint es nicht notwendig, dass der Musik-Unterricht im wöchentlichen Rhythmus stattfinden muss. Ebenso wie die anderen kreativen Fächer Bildende Kunst, Theater und Tanz (die in unserem utopischen Bildungssystem selbstverständlich alle Platz finden), braucht das prozesshafte künstlerische Gestalten Zeit, Raum und Konzentration. Deshalb findet dieser Unterricht in geblockten Wochen und oft als gemeinsames Projekt statt – Auseinandersetzung mit Musik verliert auf diese Weise die unangemessene Formung zum 45-Minuten-Gegenstand.
Ein Schüler, eine Schülerin dieses neuen Schulsystems verlässt die Pflichtschule auf diese Weise mit einer Vielzahl an Anlässen, die ihn dazu eingeladen haben, sich zu bilden. Er kennt Lieder, die ihm zur Verfügung stehen, wenn er glücklich oder traurig ist, sie hat ihre Wahrnehmung der Welt in selbst erfundenen Musikstücken zum Ausdruck gebracht, er hat sich auf der Bühne erlebt und andere Menschen als seine Zuschauer und Zuhörer, sie kennt keine Schwellenängste in Bezug auf Kultureinrichtungen und verfügt über ein breites Urteilsvermögen, wie Musik gemacht ist und welche Musik ihr warum gefällt – egal ob im Tiroler Außerfern oder in Ottakring.
Dass wir auf diese Weise keine Probleme haben, einen vorderen Platz bei der OECD-Kreativkompetenzstudie zu ergattern, steht nun außer Frage. Der Minister dankt und setzt das Konzept in die Tat um. Vieles kann er beibehalten, was es bereits gibt, gefordert ist er allerdings in allen Bereichen, die das Lehren und Lernen als kommunikative Teamaufgabe versteht, die direkt in Verbindung zum Leben um die Schule herum steht und künstlerisch-kreative Bildungsprozesse als solche begreift, die erst in Summe vieler unterschiedlicher Zugänge greifbar werden. Besonders wird er sich darum bemühen müssen, dass alle Kultureinrichtungen im ländlichen genauso wie im urbanen Raum geeignete Vermittlungsangebote für Schulen anbieten können und die dafür notwendigen Ressourcen vorfinden. Da auch die anderen Schulfächer bereits an einem neuen Modell der Zeiteinteilung im Unterricht arbeiten, fügt sich die Forderung nach geblockten künstlerischen Projektwochen nahtlos in seine generellen Überlegungen zur Schulreform.
Die verantwortlichen Politiker im utopischen Musikland Österreich mögen selbst Musik und lassen Kunst und Kultur ihr Leben bereichern, damit es ein gutes Leben ist – deshalb fällt es auch gar nicht schwer, gemeinsam neue Konzepte zu entwickeln, wenn sie notwendig sind. Mal vom einen, mal vom anderen – Was hätten Sie gemacht, wenn der Minister Sie angerufen hätte?
Constanze Wimmer war Musikreferentin beim Österreichischen Kultur-Service (1993–95) und Leiterin des Bereichs „Kinder- und Jugendprojekte“ der Jeunesse (1999–2002). An der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz leitet Constanze Wimmer den postgradualen Masterstudiengang „Musikvermittlung – Musik im Kontext“, als Forscherin und Projektentwicklerin in der Musikvermittlung aktiv.
Foto 1: Elisabeth Voglsam
Foto 2: Peter Mußler
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