Urbanistische Oper einer gemeinsamen Stadt – 25 Stunden „urbo kune“

„urbo kune“ heißt auf Esperanto „gemeinsame Stadt“. Nach fast zehn „Konstellationen“ ist das gemeinsame Projekt von NETZZEIT und dem KLANGFORUM WIEN nach der Gesamturaufführung in Köln nun auf der Zielgeraden. Am 23. und 24. Mai gibt es im WIENER KONZERTHAUS „Ein Tag und eine Stunde in urbo kune“ mit Musik, Vorträgen und Utopien zur Verbesserung der Welt. Zum Thema gemacht wird ein „künstlerisches Manifest für ein solidarisches, gemeinschaftliches Europa, für das Teilen und Miteinander, gegen partikularistischen Kleingeist und gegen den Egoismus der Besitzstandswahrer“, schreibt KLANGFORUM-Intendant Sven Hartberger. Mit ihm und dem NETZZEIT-Regisseur Michael Scheidl sprach Heinz Rögl im Vorfeld des Ereignisses.     

Über die Genese dieses ambitionierten Projekts, das von Jan Tabor und vom Intendanten des Klangforums erdacht wurde, und über die bisherigen Erfahrungen mit den bereits aufgeführten „Konstellationen“ an verschiedenen Orten wie Wien, Klosterneuburg und Eisenstadt gab Michael Scheidl Auskunft: „Der österreichische Architekturkritiker und Publizist Jan Tabor wollte zeit seines Lebens an einer Architektur-Universität die Installation eines Lehrstuhls für eine Musikerin beziehungsweise einen Musiker vollzogen wissen, was (leider) nie passiert ist. Der Grund dafür war seiner Ansicht nach folgender: Wenn man die Architektur einer Epoche erfassen möchte, sollten sich die Studierenden nicht nur mit der Architektur, sondern mit der gesamten Kultur einer Zeit auseinandersetzen. Wobei er völlig zu Recht wusste, dass man Architektur begehen, anschauen und angreifen kann, und die Musik genau das Gegenteil davon ist. Man kann Musik eigentlich nur hören, aber Musik wäre eine wunderbare Ergänzung zu Architektur.“

Interdisziplinarität einer Oper

Michael Scheidl: Tabor heckte gemeinsam mit Hartberger die Idee aus, eine europäische Hauptstadt als Reibungsfläche für solche Überlegungen zu begründen. Tabor hat dafür den Begriff ‚urbo kune’ aus dem Esperanto genommen, was „gemeinsame Stadt“ bedeutet. Das war die Geburtsstunde. Weil man diese Utopie, die nicht als Wolkenkuckucksheim verstanden werden soll, auch verwirklichen muss, war es offenbar naheliegend, an uns von netzzeit heranzutreten, da es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um ein interdisziplinäres Vorhaben handeln wird müssen.

Tatsächlich ist die Selbstdefinition der netzzeit-Organisation (seit ihrer Gründung ein „Werkzeug zur Herstellung von Musiktheater der Gegenwart im weitesten Sinn“) ja per se interdisziplinär gemeint und verbindet sich fast ideal mit der des Klangforums Wien („Eine Veranstaltung zur Verbesserung der Welt“). „Die wesentliche Eigenheit der von Claudio Monteverdi erfundenen Kunstform Oper“, heißt es in der Presseinfo von netzzeit, „beschreibt Gerard Mortier mit dem schönen Satz: ‚Es ist, als hätten – durch die Verbindung von Wort und Musik – Vernunft und Gefühl auf eine Stufe gehoben werden sollen.‘“ Und weiter: „Das Zusammenspiel so gut wie aller Künste im Hybrid Oper hat aber seinen Preis: Keine von ihnen bleibt bei sich selbst, jede dient einem außerhalb ihrer selbst gelegenen Zweck. Die urbanistische Spielform gibt den einzelnen Künsten ihre Autonomie zurück und macht die Oper für kurze fünfundzwanzig Stunden bewohnbar.“

In den „Konstellationen“, so Michael Scheidl, habe sich die Architektur als wesentlicher Bestandteil (organisiert vom Forum für experimentelle Architektur) „ein bisschen verabschiedet. Jan Tabors Beiträge sind zum Teil ausgeblieben und die Beiträge, die wir aus unserem Berufsfeld und durch unsere Erfahrungen leisten konnten, sind dadurch immer wichtiger geworden“. Sven Hartberger dazu: „Natürlich ist das ‚Manifest’ Jan Tabors ein wesentlicher Bestandteil, der abgedeckt wird, wobei das Konzept der urbanistischen Oper von mir stammt. Viele von Tabors Ideen werden ja modifiziert weiter umgesetzt. Es verändert sich eben etwas. Wenn so viele verschiedene Personen zusammenarbeiten, wenn man das nicht wollte, müsste man alles alleine machen.“

Michael Scheidl erklärt die Aufbereitung: „Wir haben uns für eine europaliebende, aber dennoch europakritische Auseinandersetzung mit dem Thema entschlossen. Die Gründung einer europäischen Hauptstadt ‚urbo kune‘ dient als ‚Mandala‘, als  Spiel- und Reibungsfläche, um die zwei vermutlich wichtigsten Fragen besonders in Europa zu stellen:  Wie wollen die Menschen auf diesem Kontinent in Zukunft zusammenleben, ohne sich a) gegenseitig die Schädel einzuschlagen und b) ohne die Ressourcen der nächsten paar Generationen so zu verbrauchen, dass es eine sechste oder siebente Generation gar nicht mehr gibt? Das ist ja evident und in tausendfältiger Weise in aller Munde. Wir alle verdrängen das meistens und wissen, dass auch an den wichtigen Schaltstellen mehr oder weniger verdrängt wird. Wenn wir da einen kleinen Beitrag leisten können, das ein wenig voranzubringen, sind wir gerne dabei. In diesem Zusammenhang haben wir uns vor allem auf den interdisziplinären Aspekt geschmissen. Wir versuchten, Menschen in Wissenschaft, Politik, Kultur und Kunst zu finden, die diese zwei Fragen im Mittelpunkt ihrer Arbeit behandeln. Das sind Künstlerinnen und Künstler wie Daniel Wisser, der auch Performer ist, das sind eine Reihe von Politikerinnen und Politiker, viele Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen möglichen Bereichen. Das ganze Programm besteht aus dem musikalischen Teil und dem Teil von Referaten, die mehr oder weniger performativ, mehr oder weniger wissenschaftlich und auch von Schriftstellerinnen und Schriftstellern sind. Wir gewähren eine gewisse Kurzweiligkeit, die sich jedes Mal verändern konnte, und sogenannte Permanenzen, die Ausstellungscharakter, mitunter interaktiven Charakter haben. Die Atmosphäre, die sich in dieser langen Zeit von fünfundzwanzig Stunden einstellen soll, ist, dass sich die Menschen auf diese Themen einlassen und dass man ein Gefühl dafür bekommt, wie das umzusetzen wäre.“ 

Man könnte nun auch fragen: Warum liegt die Zukunft ausgerechnet in einer (gemeinsamen) Stadt?

Michael Scheidl: Es gibt dazu ein ganz gutes Argument, das vom französischen Soziologen Henri Lefebvre stammt: „Der Fortbestand von Konflikten zwischen Unterschieden und Eigenheiten ebenso wie von denen zwischen den gegenwärtigen Interessen und Möglichkeiten ist kaum zu vermeiden. Dessen ungeachtet definiert sich das Städtische als der Ort, wo die Unterschiede sich kennen, und indem sie sich erkennen, erproben – wo sie sich also bestätigen oder aufheben.“ Gemeint ist, dass die Stadt als solche ein ideales Experimentierfeld für menschliches Zusammenleben ist, insbesondere in der Konfrontation mit dem Fremden.

Das Musikprogramm bei „urbo kune“

Der musikalische Teil der 25 Stunden im Konzerthaus obliegt dem Klangforum Wien. Sven Hartberger bezieht sich auf bisherige Erfahrungen und ihre Auswirkungen: „Die ‚Konstellationen’ fanden in sehr unterschiedlichen Räumen statt. Ursprüngliche Idealvorstellung Jan Tabors war, dass immer alle Anwesenden im selben Raum sind und sich alles gleichzeitig abspielt. Es soll dort die Musik stattfinden, Schach gespielt, gegessen und getrunken werden. Die schöne Idee Tabors war, dass das alles möglich ist, wenn alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer gute Manieren haben, dass niemand die andere beziehungsweise den anderen stört. Allerdings sind wir dafür, dass die guten Manieren eben zuerst eingeübt werden, und dann diese Agora-Situation hergestellt wird. Es ist eben nicht so, dass man sich unterhalten kann oder miteinander anstößt und so weiter, während ein Konzert gespielt wird. Daher ziehen wir es doch vor, dass nicht alle immer am gleichen Ort sind. Es wird im Konzertsaal nicht gegessen oder getrunken, es wird Trennungen geben – aber nicht ganz, zum Beispiel sind die Schachspielerinnen und Schachspieler, die sich ja immer ruhig verhalten haben, im Saal, es werden auch Zeichnerinnen und Zeichner im Konzertsaal anwesend sein. Der Große Konzerthaussaal wird ausgeräumt sein, im Parterre gibt es keine Stuhlreihen; in den Estraden kann man sich hinsetzen, aber man kann sich auch hinlegen. Alles, was vielleicht bei einigen ‚Konstellationen‘ nicht so gut geklappt hat, wird in Ordnung gebracht. Die ‚Traumnacht’ ist im Großen Saal, man kann dort auch schlafen, bespielt werden außerdem die drei Säle im ersten Stock und das Foyer.“

Der Nachtblock mit dem Klangforum Wien („Eine Traumnacht“) umfasst eine Dauer von neun, zehn Stunden?

Sven Hartberger: So kann man das nicht sagen. Es beginnt mit „Sgorgo Y“ für Gitarre solo von Pierluigi Billone. „For Philip Guston“ von Morton Feldman mit einer Dauer von 4 Stunden 48 Minuten ist Note für Note auskomponiert. Feldman selbst pflegte dabei einzuschlafen, was andere vielleicht nicht wollen oder was ihnen nicht gelingt, weil das Stück so spannend ist. Die folgenden Stücke von Bruno Maderna, Luciano Berio, Bernd Alois Zimmermann und Herbert Eimert ab circa fünf Uhr früh sind Tonbandmusik. Nach dem Sonnenaufgang mit Eva Furrer spielt Björn Wilker wieder, von James Tenney über den Schlagzeugworkshop, Sørensen und Donatoni bis hin zu den „Xenos-Szenen“ von Beat Furrer.
Die Musik beginnt mit dem in den Bereich Improvisation gehörenden Mats Gutastafson gemeinsam mit dem Klangforum. Von Peter Ablinger gibt es eine grandiose Installation von großer poetischer Schönheit, bei der es um eine Kritik der Zentralperspektive geht. Dazu gibt es im Großen Saal ein Tableau vivant von Edgar Honetschläger bei geöffneten Türen des Großen Saals, und vor dem Saal sind akustische Installationen von Peter Ablinger.
Die Komposition „thallein“ von Iannis Xenakis ist Teil des Immigranten- und Immigrantinnen-Zyklus, das gilt auch für „raga fields“ von Param Vir und das Violinkonzert von Aurelio Cattaneo, die „Situations“ sind ein großes Werk von Georges Aperghis. Am Abend kommt noch die Klangforum Combo, hier machte jedes der achtzehn Mitglieder des Ensembles einen Beitrag von drei Minuten Dauer, woraus sich ein einstündiges Stück ergab. Wobei „Dauer nicht länger als drei Minuten“ die einzige Bedingung war, sonst war alles erlaubt, von einer Eigenkomposition bis hin zu Bearbeitungen existierender Stücke oder auch unveränderten Stücken, die es bereits gibt.

Heinz Rögl

Fotos: Alex Püringer

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