NIMIKRY nennt sich das Komponisten-Musiker-Entwickler-Duo, bestehend aus dem Flötisten ALESSANDRO BATICCI und dem Bratschisten RAFAL ZALECH. 2014 lernten sich die beiden an der UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST in Wien kennen. Beide studierten elektro-akustische Komposition und sind in dem Duo NIMIKRY im Kontext der zeitgenössischen neuen Musik aktiv. Bereits während ihres Studiums begannen BATICCI und ZALECH jedoch auch, sich mit der Entwicklung von Erweiterungen ihrer Instrumente zu beschäftigen. Ihr neuestes Projekt nennt sich „DigitAize“ und ermöglicht es, mithilfe einer selbst programmierten Software und eines Sensoren-Pads die Violine abzutasten, ihre Klänge zu modellieren und vieles mehr. Warum sich die Komponisten auf die Suche nach neuen Wegen der Klangerzeugung machten, wie man vom Musiker zum Erfinder und Unternehmer wird, welche Projekte sie bereits realisieren konnten und welche Philosophie sich dahinter verbirgt, legte ALESSANDRO BATICCI im Interview mit Shilla Strelka dar.
„Es ging uns um eine Neudefinition des Instruments […]”
Rafal und du seid Komponisten und klassisch ausgebildete Instrumentalisten. Vor einigen Jahren habt ihr einen mutigen Schritt gemacht: Ihr seid in die Entwicklung neuer Musiktechnologien eingestiegen. Konkret kreiert ihr digitale Mapping-Systeme für eure Instrumente. Ab welchem Punkt schien es notwendig, über die Grenzen eurer Instrumente hinauszudenken?
Alessandro Baticci: Es war eine kompositorische Notwendigkeit, sich auf neue Weise mit dem Instrument auseinanderzusetzen. Erweiterte Spieltechniken, mit denen wir beide vertraut waren, hatten nicht mehr ausgereicht. Es ging uns um eine Neudefinition des Instruments und eine sinnvolle Verknüpfung mit der Elektronik.
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„‚DigitAize‘ macht es möglich, Streichinstrumente auf vielfältige Weise digital zu erfassen.“
Die Entwicklung, auf die du anspielst, nennt sich „DigitAize“. Sie ist eine Erweiterung für Streichinstrumente – ein digitales Fingerboard, das das Griffbrett mit einem Sensor abtastet und ein Modul ansteuert, das mit einer selbst entwickelten Software verknüpft ist. Könntest du die Funktionsweise näher erläutern?
Alessandro Baticci: „DigitAize“ macht es möglich, Streichinstrumente auf vielfältige Weise digital zu erfassen. Es bildet eine unsichtbare Brücke zwischen dem akustischen Instrument und dem Computer. Wir nutzen dafür einen selbst entwickelten Sensor, der über das Griffbrett des Instruments montiert wird. Dieser Sensor ist an eine Auswertungselektronik verknüpft, die die Daten verarbeitet, interpretiert und drahtlos an den Computer schickt.
Damit wird vieles möglich, u. a. die Notation in Echtzeit, die Steuerung von Synthesizern, das Monitoring der Bewegungsabläufe, die Auswertung der Fingerfertigkeit und zahlreiche weitere Anwendungen.
Es gibt in der zeitgenössischen Musik verstärkt die Tendenz, Erweiterungen klassischer Instrumente zu entwickeln.
Alessandro Baticci: Es liegt mittlerweile fast in der Natur der zeitgenössischen akademischen Musik, dass diese sich mit der Erweiterung der Instrumente beschäftigt, sei es durch erweiterte Spieltechniken, sei es durch die Einbeziehung von Elektronik. Die ausschließliche Suche nach „Neuem“ oder „Unerhörtem“ kann aber auch eine Chimäre sein und zugleich eine Sackgasse. Ich würde sogar behaupten, dass diese Tendenz mittlerweile nicht mehr einer tatsächlich musikalischen Notwendigkeit entspringt, sondern einem Trend, einem Manierismus folgt, die typisch für die Musik der Gegenwart sind.
Ihr erweitert zwar auch, habt aber eine andere, weitreichendere Agenda.
„Es ging uns in erster Linie nicht um die Entwicklung neuer Klanglichkeiten, sondern darum, die Ausdrucksmöglichkeiten akustischer Instrumente in die digitale Welt zu überführen.“
Alessandro Baticci: Es geht uns nicht in erster Linie um die Entwicklung neuer Klanglichkeiten, sondern darum, die Ausdrucksmöglichkeiten akustischer Instrumente in die digitale Welt zu überführen. Es geht um grundlegende Elemente der Komposition: die Steuerung elektronischer Prozesse durch das Musikinstrument und eine bessere Synthese elektronischer und instrumentaler Klänge. Die Erfahrung, die wir mit Live-Elektronik gemacht haben, hat uns angetrieben, nach neuen, besseren Möglichkeiten zu suchen.
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Warum war es für euch zentral, eure akustischen Instrumente weiterhin zu verwenden und nicht auf rein digitale Optionen zu setzen?
Alessandro Baticci: Obwohl der aktuelle Musikinstrumentenmarkt mir widerspricht, behaupte ich, dass es in ein, zwei Generationen sehr schwer sein wird, sich mit einem akustischen Musikinstrument auseinanderzusetzen. Die Beschleunigung und die Informationsdichte, mit der wir unser Gehirn ständig belasten, führen zu einem großen Mangel an Konzentration und Ausdauer. Das Schulsystem ist schon heute mit den Folgen konfrontiert. Es wird genügend Controller und digitale Lösungen geben, mit denen man eine instrumentenähnliche Erfahrung machen kann, die aber nur einen Bruchteil der Anstrengung fordern werden, die mit der Beherrschung eines klassischen Musikinstruments verbunden ist. Selbstspielende Klaviere und AI-basierende Software tragen schon jetzt zum Musikkonsum einer breiten Masse bei.
Unsere Technologie erweitert das akustische Instrument und ermöglicht dessen Weiterleben in der Zukunft. Es möchte keine Vereinfachung davon sein. Außerdem setzt diese digitale Übersetzung auch eine tiefgründigere akustische Auseinandersetzung mit dem Instrument voraus. In dieser Hinsicht können wir von einer neohumanistischen Mission sprechen. Auf dem Weg zu einer totalen Digitalisierung bringen wir jene Bereiche ein, die uns in unserer menschlichen Natur charakterisieren und die einzig uns eigen sind.
Wie seid ihr vorgegangen?
Alessandro Baticci: Innovationen im Instrumentenbau haben immer viel angestoßen. Und in den letzten 200 Jahren gab es, abgesehen von der elektrischen Geige, keine größere Veränderung in der Welt der Streichinstrumente. Mit unserer Technologie ist zum ersten Mal eine Digitalisierung des akustischen Instruments möglich, ohne dass Kompromisse in der Spielbarkeit eingegangen werden müssen. Wir haben in den letzten fünf Jahren an der Entwicklung dieses Systems gearbeitet und jeden Aspekt durchdacht: Spielbarkeit, Montage, Wartung, Feature, Verknüpfung, Kompatibilität. Wie man es dann anwendet, ist jeder und jedem selbst überlassen. Unser Ziel ist es, ein möglichst breites Spektrum an Möglichkeiten zu schaffen.
„[…] Learning by Doing ist unser Credo.“
Wie beginnt man als Musiker, in Richtung Soft- und Hardware-Entwicklung zu gehen und sich mit so fortschrittlicher Technologie auseinanderzusetzen, wie sie „DigitAize“ erfordert? War das ein schwieriger Prozess?
Alessandro Baticci: Es war uns nicht bewusst, was da auf uns zukommen würde. Wir haben uns auf einen vielschichtigen Prozess eingelassen. Dabei mussten wir uns viele Kenntnisse aneignen: von 3-D-Modellierung über C-Programmierung bis hin zum Design und zum Entwerfen von Businessmodellen. Wir stützen uns auch auf externe Expertinnen und Experten in den jeweiligen Sektoren, aber Learning by Doing ist unser Credo.
Gleichzeitig werdet ihr zu Forschern auf eurem Feld. Wie seid ihr vorgegangen?
Alessandro Baticci: Die empirische Methode ist besonders im kreativen Bereich wesentlich. Doch das Projekt deckt viele unterschiedliche Wissensfelder ab. Es geht nur zu einem begrenzten Teil um Musik. Einen gewichtigen Teil machen Hard- und Software-Entwicklung und Programmierung aus. Natürlich können wir nicht alles selber machen, aber wir geben die Richtung vor. Als Künstler ist man sicher begünstigt, da man es gewohnt ist, seiner Intuition zu folgen. Rafal und ich haben gelernt, dass die Arbeit eines Programmierers der eines Komponisten nicht unähnlich ist. In den meisten Fällen gibt es nämlich nicht nur eine Möglichkeit, etwas zu programmieren, sondern zahlreiche, wenn nicht unendliche. Natürlich folgt man Kriterien wie Ressourcen-Optimierung, aber es gibt trotzdem noch genügend Spielraum, um einen eigenen Abdruck zu hinterlassen. Dabei kreiert man am Ende eine kleine Welt, einen Mikrokosmos. Ist das nicht ähnlich zum Komponieren?
„Die Digitalisierung in unserer Gesellschaft hat auch für die Musik gravierende Folgen.“
Habt ihr das Gefühl, dass diese Art der digitalen Augmentation ein notwendiger Schritt in der zeitgenössischen Musik ist?
Alessandro Baticci: Es geht hier nicht um zeitgenössische, klassische oder elektronische Musik. Unsere aktuelle Entwicklung ist ein notwendiger Schritt in der Musik, im Instrumentenbau, in der Kunst überhaupt. Im Gärtchen der eigenen künstlerischen Tätigkeit fällt es oft schwer, das größere Bild zu erkennen. Die Digitalisierung in unserer Gesellschaft hat auch für die Musik gravierende Folgen. Und dabei will ich jegliche Wertung zur Seite stellen, es geht nicht um Kategorien wie „gut“ und „schlecht“. Ich rede von einer Entwicklung, die unsere Denkweise, unsere Sprachen, die menschliche Natur im Allgemeinen verändert. Und damit auch zwangsläufig unsere Ausdrucksformen.
Analysiert man die Entwicklung der Musikindustrie der letzten Jahre, lassen sich interessante Schlüsse ziehen: Alle erfolgreichen digitalen Musikinstrumente und Controller basieren auf rein digitalen Lösungen. Die Weiterentwicklung akustischer Musikinstrumente wurde im Gegensatz dazu besonders im letzten Jahrhundert stark vernachlässigt. Dabei geht ein für uns wichtiges Element verloren: Die Auseinandersetzung mit dem akustischen Instrument setzt die Entwicklung feinmotorischer Fähigkeiten voraus und das ist eine wichtige Quelle für Kreativität, Ausdruck und menschliche Authentizität in der Musik. Unsere Entwicklung will diesen Mehrwert in der digitalen Domain aufrechterhalten. Unsere technologische Erweiterung definiert akustische Instrumente neu.
Lassen sich auch Komponistinnen und Komponisten auf solche technologischen Erweiterungen ein?
Alessandro Baticci: Es bleibt ein Tool für Instrumentalistinnen und Instrumentalisten. Komponistinnen und Komponisten können und werden „DigitAize“ sicherlich einsetzen, aber in erster Linie sollen die Musikerinnen und Musiker davon profitieren. Heute gibt es sehr viele Instrumentalistinnen und Instrumentalisten in den unterschiedlichsten Genres, die sich kreativ mit ihrem Instrument beschäftigen und auch selber komponieren, experimentieren, improvisieren und mit Elektronik arbeiten. Genau an diese Musikerinnen und Musiker richtet sich das Produkt.
Ich glaube, in Zukunft wird es auch eine breite Anwendung im Filmmusikbereich und in Musicals finden. Wir wollen unsere Technologie auch im Feld der Ausbildung einsetzen. Hier sehen wir großes Potenzial, besonders in der Visualisierung von Bewegungsabläufen und im Intonationsmonitoring.
„DigitAize“ ist ein Tool für Streichinstrumente. Nun bist du eigentlich Flötist. Planst du auch eine Version für Flöte?
Alessandro Baticci: Ja, im Herbst sollten wir auch die Entwicklung einer Version für Querflöte finalisiert haben. Das System basiert auf dem gleichen Modul wie jenes für Streichinstrumente, aber die Datenverarbeitung ist aufgrund der unterschiedlichen Natur der Instrumente radikal verschieden. Das Ziel ist am Ende das gleiche: eine digitale Abbildung des Instruments zu ermöglichen.
Habt ihr vor, DigitAize-Tools für eine Vielzahl unterschiedlicher Instrumente zu adaptieren?
Alessandro Baticci: Wir haben gerade viele Projekte am Laufen. Was die Weiterentwicklung von „DigitAize“ angeht, sehe ich das größte Potenzial in dessen Anwendung in der Musikerziehung sowie in einer tiefgründigen Synthese des Instruments. Die Steuerung virtueller Klangquellen und die digitale Abbildung können mit der Einbeziehung von „Physical Modelling“ oder von „Machine Learning“ unendlich potenziert werden. Das ist für uns eine konkrete Vision.
Eine weitere Idee, die ihr umgesetzt habt, ist die Applikation „Audition Assistant“. Was ist das genau?
Alessandro Baticci: „Audition Assistant“ ist ein Portal für klassische Musikerinnen und Musiker. Es ist als ein praktisches Übungstool für Instrumentalistinnen und Instrumentalisten gedacht, ist aber viel mehr. Es bietet professionelle eingespielte Begleitungen zu den wichtigsten Werken der Klassik. Dabei hat man die Möglichkeit, das Spieltempo und die Stimmung grenzenlos zu ändern. Damit lässt sich ein Werk richtig gut üben. Noch dazu hat die App ein Stummgerät und ein Metronom eingebaut. Sie bietet auch die Möglichkeit, sich beim Spielen aufzunehmen und die Aufnahme mit Freundinnen und Freunden zu teilen. Damit wollen wir eine neue Form der musikalischen Interaktion anstoßen und einen stärkeren Austausch zwischen Freundinnen, Freunden, Klassenkolleginnen und -kollegen ermöglichen. Gerade haben wir nach einer langen Entwicklungsphase auch die App „Cross-platform“ veröffentlicht und arbeiten an einem größeren Update, das im Herbst fertig sein soll.
„Ich glaube daran, dass die Vermischung unterschiedlicher Wissensdomänen der Ursprung neuer Ideen ist.“
Du musst auf vielen Ebenen parallel denken. Einerseits bist du Komponist und Musiker, andererseits Entwickler und Unternehmer. Wie bringst du das zusammen?
Alessandro Baticci: Ich glaube daran, dass die Vermischung unterschiedlicher Wissensdomänen der Ursprung neuer Ideen ist. Ich hatte das Glück, mich in sehr unterschiedlichen Disziplinen bilden zu können, und genieße diese Abwechslung sehr. Das gibt mir die nötige Motivation zur kreativen Arbeit.
Ich nehme stark an, eure Erfindungen kommen auch zum Einsatz, wenn ihr als Nimikry auftritt?
Alessandro Baticci: Genau. Das war mitunter auch der Grund, weshalb wir die Technologie in dieser Form weiterentwickeln wollten. Wir haben nach neuen Ausdruckmöglichkeiten für unsere Instrumente gesucht und eine kompositorische Idee konzipiert, die in dieser Form noch nicht möglich war. Nun ist die Entwicklung abgeschlossen und wir haben neue Tools, um unsere kompositorischen Visionen besser umzusetzen. Not macht erfinderisch.
Die Covid-19-Krise bringt ein Auftrittsverbot für Musikerinnen und Musiker mit sich. Wie bist du mit der Quarantäne-Zeit umgegangen? Ich habe gesehen, dass du dich einem neuen Projekt gewidmet hast.
Alessandro Baticci: Natürlich habe ich wie alle Künstlerinnen und Künstler einen großen Ausfall erlebt. Ich konnte tatsächlich eine Verlangsamung meines Lebenstempos spüren, was auch positive Aspekte hatte. Rafal und ich haben aber versucht, uns der Weiterentwicklung der Projekte zu widmen und nicht zu viel über die Konsequenzen der Maßnahmen nachzudenken.
Persönlich konnte ich auch ein Projekt abschließen, mit dem ich mich schon länger beschäftige: Ich habe während der Quarantäne eine „Sample Library“ aller meiner Flöten erstellt: „Hyperflute“. Dabei habe ich den Fokus auf die erweiterten Spieltechniken des Instruments gelegt. Ich habe auch versucht, die Notation der Spieltechniken einzubinden, um eine leichte, ökonomische und einheitliche Notationsweise zu etablieren. Das Ergebnis ist ein massives Tool für Komponistinnen und Komponisten, Arrangeurinnen und Arrangeure oder Klangkünstlerinnen und -künstler.
Hast du bei so vielen unterschiedlichen Projekten überhaupt noch Zeit, dich der Musik und Komposition zu widmen?
Alessandro Baticci: Es ist leider schon so, dass die Zeit dafür begrenzter ist. Ich denke aber, dass viele dieser Projekte auch meine kompositorische Tätigkeit positiv beeinflussen. Besonders die kreativen Anwendungsmöglichkeiten von „DigitAize“ haben mich zu neuen Experimenten inspiriert, die wiederum einen Einfluss auf meine Werke haben. Es ist ein fruchtbarer Prozess.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Shilla Strelka
Links:
Nimikry Music (Website)
Alessandro Baticci (Website)
DigitAize (Website)
Audition Assistant (Website)