Auch in Zeiten der Corona-Pandemie wird WIEN MODERN allen Widrigkeiten zum Trotz stattfinden. Die 33. Ausgabe des vom unerschrockenen Team unter der künstlerischen Leitung von Bernhard Günther gestalteten Festivals steht unter dem Motto „Stimmung“. Um diesem Thema gerecht werden zu können, bedurfte es in den letzten Wochen und Monaten und bedarf es vermutlich weiter unzähliger Abstimmungen – Anpassungen von Programm, Budget, Kartenverkauf und Umsetzung der geforderten Präventionskonzepte (Besucherzahl, Abstand, Maske, Hygiene & Co.), Reagieren auf Gesetzesänderungen, Maßnahmenverordnungen, Reisebestimmungen und und und. Wir hoffen jedenfalls, dass die 104 Veranstaltungen mit 44 Neuproduktionen mit 85 Ur- und Erstaufführungen an 33 Spielstätten in neun Wiener Gemeindebezirken an 32 Spieltagenin ihrer derzeit geplanten Form geboten werden können.
Bei „Stimmung“ geht es um das Entdecken visionärer Tonsysteme und Klangfarben, auch jenseits der zwölf Klavierhalbtöne – etliche der präsentierten Künstlerinnen und Künstler haben seit Jahren dazu ihre Arbeiten entwickelt, auch Neues, das eigens für dieses Festivalprogramm komponiert wurde: Etwa für den Festivalabschluss, bei dem im Werk „Ceremony II“ von Georg Friedrich Haas in den Räumen des Kunsthistorischen Museums rund siebzig Instrumente aus sechs Jahrhunderten spielen werden (28.11.), oder schon im Eröffnungskonzert am 30.10. im Wiener Konzerthaus, für das die große Viola-Solistin Tabea Zimmermann für das Stück „Filz“ von Enno Poppe „das Bratschespielen neu lernen“ musste, wie sie erzählte.
Rund um acht große Konzertprojekte beteiligen sich am Spiel um „Stimmung“ viele andere Produktionen mit experimentellen Musikinstrumenten, umgebauten oder radikal anders „getunten“ Klavieren, anders klingenden alten Orgeln in den Projekten „Instrument Modern“ und „Orgel Modern“, sowie nicht zuletzt Klanginstallationen deutlich anders als im Konzertformat, etwa von Paul Skrepek und Andreas Platzer (30.10.–08.11.), Volkmar Klien (12.–15.11.), Christian Fennesz (17.11.–21.11.), Winfried Ritsch (25.11.–29.11.) und anderen.
Über die Termine und Öffnungszeiten informiert wie immer die Website (www.wienmodern.at). Aufgrund der heurigen Umstände gibt es heuer auch statt des traditionellen Generalpasses einen Personal Pass mit personalisierten Tickets (acht Konzerte, drei Klanginstallationen sowie Ermäßigungen auf 24 Produktionen, 20 Produktionen plus 19 Begleitveranstaltungen sind kostenlos).
STREIFLICHTER DURCH DAS HEURIGE PROGRAMM
Bei der zweiten Programmpräsentation am 15. Oktober im Schubert-Saal des Wiener Konzerthauses konnten ausgewählte Protagonist*innen über ihre Arbeiten und Projekte Auskunft geben. So stellte die Instrumentenbauerin und Komponistin Claudia Märzendorfer das Projekt „Instrument Modern“ vor, das am 7. und 8. November in zwölf Instrumentenbauateliers in sieben Wiener Gemeindebezirken stattfinden wird, sie führte aber auch live ihre von ihr entwickelten „Eisschallplatten“ vor (u. a. mit Musik von Klaus Lang bespielt). Klaus Lang selbst erläuterte sein für die Wiener Symphoniker komponiertes Werk „tönendes licht“ für Orgel und räumlich verteiltes Orchester im Stephansdom (19.11.), bei dem er sich mit dem dortigen gotischen Klangraum auseinandergesetzt hat, mit der von der Raumtemperatur abhängigen „Stimmung“ der Orgel und jener des mit 443 Hertz gestimmten Orchesters, er habe auch über das Phänomen „Pest“ nachgedacht und welche Reaktion Kunst darauf haben sollte. Klaus Lang ist auch Komponist weiterer Stücke, die bei Wien Modern aufgeführt werden (am 29.10. spielt Iveta Apkalna beim Konzert des Klangforum Wien an der soeben fertiggestellten +-Riesenorgel“ im Stephansdom „weißbärtig. mond“ von ihm; mit Polwechsel spielt er selbst an der Orgel der Jesuitenkirche „Easter Wings“ (11.11.), mit dem Ensemble Nikel wirkt er ebendort ein weiteres Mal an der Orgel mit (26.11.). Klaus Lang ist auch Jurymitglied für „Orgel Modern“, für das es am 7.11. zwischen 19.00 und 22.45 Uhr eine ganze Reihe von uraufgeführten Orgelstücken in der Michaelerkirche, Franziskanerkirche (Wöckherl-Orgel) und der Kirche St. Ursula geben wird.
Dramaturgin und Organisatorin Cordula Bösze erzählte über die diesjährigen Erfahrungen der Reihe „Junge Musik“(Konzert am 9.11. im Reaktor), bei der eine nächste Generation von Schüler*innen zusammen mit den Komponist*innen neuer Stücke (etwa Elisabeth Harnik) die Möglichkeiten des zu spielenden Instruments ausprobieren könne. Wichtig ist dabei Spielfreude, aber auch die Notwendigkeit Entscheidungen zu treffen. Im Rahmen von „comprovise“ wird sie auch als Künstlerin mitwirken (14.–16.11., Brick-5 und Italienisches Kulturinstitut).
Vom Erste Bank Kompositionspreisträger Matthias Kranebitter, dessen neue Kammeroper „Amerika oder Die Infektion“ kürzlich erfolgreich beim Sirene-Opernfestival im F23 aufgeführt wurde (man könnte das Stück mit dem Libretto von Antonio Fian auch eine „Kammeroperette“ nennen – das ist keine Kritik, sondern ein großes Lob – Kranebitter selbst nannte es eine „anarchistische Operette“), bringt das Klangforum Wien am 18.11. dessen „Encyclopedia of pitch and deviation“ zur Uraufführung. In diesem Titel scheint bereits all das erklärt, was Kranebitter auf dem Podium erläuterte: Er ist einer, der Klänge sammelt und es auch liebt, Frequenzbereiche zu verschneiden. Bereits 2016 komponierte er „Pitch“, ein Werk mit Solovioline, das für den Kompositionspreis vorgeschlagene Werk sei eine Enzyklopädie des Maximalismus, eine Art „Drehbuch für Tonhöhen und Stimmungen“. Die Tonhöhen und Abweichungen umfassen u. a. die Resonanztonhöhe der Erdoberfläche (7,8 Hertz), Waschmaschinenschleudergang (42 Hertz), Stubenfliegenflügelschläge (200 Hertz), Moskitoalarm (17.000 Hertz), oder Zahnarztbohrer (3.500 Hertz).
Leo Hussain, Dirigent des Wien-Modern-Eröffnungskonzerts mit dem RSO Wien im Konzerthaus (30.10.), äußerte seine Begeisterung über die Eroberung von Klängen jenseits temperierter Stimmungen nicht nur anhand des bereits erwähnten Enno-Poppe-Stücks für Tabea Zimmermann oder des ebenfalls auf dem Programm stehenden „The Tuning Meditation“ (1971) von Pauline Oliveiros, sondern besonders auch über die zwei neuen Auftragswerke von Wien Modern und dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien: Germán Toro Pérez erobert mit „Trazos II“ für großes Orchester mit jeweils zwei Harfen und Klavieren im Vierteltonabstand subtile Zwischenräume. Und Hugues Dufourt („Le deux saules d’après Monet“) schuf für das Panoramagemälde von Claude Monet (das in der Pariser Orangerie ausgestellte Objekt mit der Dimension 17 Meter mal 2 Meter wird auf einen Wandschirm projiziert werden) ein großformatiges Orchesterwerk, das zwei Weiden und Seerosen des Bildes umspielt.
Letzter im Bund der Präsentatoren bei der Pressevorstellung war Volkmar Klien, der als Komponist und Produzent von „Im Sattel der Zeit“ (12.–15.11 im mumok) sowie als beteiligter Künstler im Rahmen von „The Acousmatic Project: From Outer Space“ (24.11., Naturhistorisches Museum) in Erscheinung treten wird. „Im Sattel der Zeit“ ereignet sich in einem Labyrinth von Papierwänden, die auch als Lautsprecher funktionieren. Während der Performance – es ist eine musiktheatralische Komposition und Installation für Ensemble, Elektronik, Radio und Lautsprecher-Labyrinth – bahnen sich einige „Freiwillige“ aus dem Publikum, die aus kleinen Radios Anweisungen erhalten, ihren Weg durch das Papierlabyrinth, das zerschnitten und devastiert am Ende zu einer begehbaren Installation wird. In der Kuppelhalle des Naturhistorischen Museum werden über die Lautsprecher des Wiener Akusmoniums (Thomas Gorbach) auch heuer wieder Klangprojektionen und Performance-Apparaturen in Gang gesetzt.
Die hier geschilderten Streiflichter sind bei Weitem nicht alles, was Wien Modern heuer alles ausmacht. Wichtig ist auch etliches, das unter dem Stichwort „Festival im Festival“ Querverbindungen aufweist. Hilfreich zu allem was Tag für Tag stattfindet, ist neben der Website das praktische, bereits überall aufliegende Programm, das sich auch als „Abrisskalender“ gebrauchen lässt. Der Katalog (mit Essays und A-Z-Band) wird bei Festivalbeginn erhältlich sein.
ACHT PRODUKTIONEN IM GROSSFORMAT
Im diesem Vorbericht seien hier noch die großen Highlights angeführt. Wie oben bereits berichtet, wird die Festivaleröffnung mit dem RSO Wien neue Orchesterwerke von Hugues Dufourt und Germán Toro Pérez sowie Stücke von Enno Poppe und Pauline Oliveros bringen, Solistin ist die aktuelle Ernst-von-Siemens-Musikpreisträgerin Tabea Zimmermann (30.10., Konzerthaus).
In den ausgeräumten Großen Saal im Wiener Konzerthaus bringt der Schweizer Komponist Edu Haubensak elf unterschiedlich gestimmte Klaviere für die Gesamturaufführung seines Zyklus „Grosse Stmmung“ (31.10.). Am Sonntag, 1. November gibt es im Mozart-Saal ein Konzert des Arditti Quartet („In the Realms oft he Unreal“), zu hören sind Werke von Karlheinz Essl und Olga Neuwirth sowie Erstaufführungen von Pauline Oliveros, Betsy Jolas und Ashley Fure.
Beim „Claudio Abbado Konzert“ im Musikverein gibt es am 6.11. mit dem RSO Wien unter Oksana Lyniv ein Portrait Sofia Gubadulina. Antoine Tamestit spielt das Konzert für Viola und Orchester (1996), weiters ist von ihr „Der Zorn Gottes“ für Orchester (2019) zu hören.
Der diesjährige Erste Bank Kompositionspreis wird am 18.11. im Konzerthaus beim Konzert des Klangforum Wien an Matthias Kranebitter verliehen, eine weitere Uraufführung stammt von Johannes Kalitzke, der dieses Konzert auch dirigiert. Das Auftragswerk von Wien Modern heißt „Werckmeister Harmonies. Lichtspielmusik für 12 Instrumente“. Weiters erklingt die Neufassung der „Mikrogramme WV 206“ von Friedrich Cerha.
Klaus Lang und die Wiener Symphoniker sind am 19.11. im Stephansdom (siehe oben), Ingo Metzmacher und das RSO Wien laden am 20.11. ins Konzerthaus zu einer Gesamtaufführung von Friedrich Cerhas „Spiegel“. Das Kunsthistorische Museum verwandelt sich beim Festivalabschuss am 28.11. in ein klingendes Klanglabyrinth, in dem rund 70 Musiker*innen der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien und der Schola Cantorum Basiliensis das von Georg Friedrich Haas in monatelanger Arbeit neu komponierte Stück „ceremony II“ aufführen werden. In den Sälen, Räumen und Kabinetten werden Renaissanceorgeln, barocke Harfen mit 21 Saiten pro Oktave, Cembali mit 24 bzw. 31 Tasten zu hören und sehen sein, in der als „sakral“ anmutenden Eingangshalle mikrotonal im Vierteltonabstand umgestimmte Klaviere … ein begehbares Klangbad.
Heinz Rögl
Link:
Wien Modern