2019 trat die Pianistin INGRID SCHMOLINER mit einem einstündigen Minimal-Kraftakt im Rahmen von Wien Modern im Konzerthaus auf. Nun erscheint „MNEEM” als aufwändig gestalteter Release bei VENTIL RECORDS (VÖ: 1.3.2024). Via Zoom erreiche ich die gebürtige Kärntnerin in ihrer Wiener Wohnung. Auf dem Tisch stehen frische Tulpen. Ihre zwei Katzen tapsen durchs Bild. „Eine Scheißwoche”, sagt SCHMOLINER – ihr Auto ist gestern eingegangen. Vielleicht ist das Gespräch deshalb offen und ehrlich. Wir sprechen über Grundaggressionen und Grunddepressionen, über Steine als Gedächtnis und den Marathon am richtigen Flügel. Am Ende steht wie immer die Musik. Weil nur sie alles verbinde, sagt SCHMOLINER.
Zuallererst: Wie geht es dir?
Ingrid Schmoliner: Im Februar bekomme ich immer Depressionen. Vielleicht weil meine Mutter Geburtstag hat. Oder weil Menschen, die mir nahe waren, im Februar gestorben sind. Zum Glück habe ich meine Katzen Berta Berserker und Wali Exsport um mich. Weißt du, ich empfinde Menschen öfters anstrengend und Tiere bereichernd – sie haben was „Normales” an sich … Der Mensch ist für mich hingegen manchmal unbegreiflich.
Wieso?
Ingrid Schmoliner: Ich denke immer wieder über Relationen, die Relativitätstheorie, die Quantenphysik und Transpersonalität über eigentlich ungreifbare Dinge nach. Außerdem schaue ich mir von meiner Wohnung im dritten Stock immer den Mond an. In den letzten 20 Jahren habe ich beobachtet, wie unterschiedlich er von einem Tag auf den anderen am Horizont steht. Vor 35 Jahren war der Mondzyklus nachvollziehbar und ich konnte ihn gut sehen, da es kein Streulicht gab.
Es verändert sich also etwas?
Ingrid Schmoliner: Ja sicher, alles ist in Bewegung, aber gerade in den letzten Jahren findet eine totale Umstellung von bestehenden Systemen statt. Ich finde, es sollte klar sein, dass der Mensch nicht nur aus Knochen, Häuten, Organen und so weiter besteht. Man ist mehr, als man begreifen kann. In unserer Gesellschaft merkt man entweder eine Überesotherisierung oder ein absolutes Festklammern an materiellen Umständen. Wenn der Mensch nicht in der Lage ist, etwas zu dominieren und einzugrenzen, wird er als abnormal oder auch als psychisch krank eingestuft. Da ich einen sehr sensitiven Körper habe – ich würde fast sagen: einen hellfühligen Körper – erfahre ich oft schon mit meinen automatisierten Bewertungschleifen, was funktional wäre und was ich bin. Manchmal stufe ich mich deshalb zu sensibel für diese Welt ein. Eigentlich sollte ich mich darüber freuen, diese Fähigkeiten in die Welt zu bringen und mich als wichtiger Teil des Ganzen wahrzunehmen. Meine Musik lebt schließlich davon. Als jemand, der aus einer bäuerlichen, sehr arbeitsamen, katholisch-konservativen Familienstruktur kommt, in der man sich nur über Leistung und schwere körperliche Arbeit definiert, erklärt sich diese Sozialisierung nochmal von selbst.
Hat deine Familie das Stück „MNEEM” gehört?
Ingrid Schmoliner: Nein, nicht so richtig. Meine Tagesmutter hat sich meine Stücke öfter angehört. Sie hat sie zwar nicht verstanden, war aber immer stolz auf mich und fand es gut, was für eine Lebenskünstlerin ich bin. Meine Mutter hat das dagegen nie wirklich gekonnt. Sie hat schon während meiner Volksschulzeit gesagt, dass ich eine Träumerin sei. Sie hatte Angst, dass ich die Schule nicht schaffe. Auch eine oft gelebte Perspektive, wenn man einfach ständig in der eigenen Projektion hängenbleibt. Heute weiß ich, was Mitgefühl ausmachen kann. Ich wollte immer Leute nahe haben, die zumindest versuchen, Mitgefühl zu leben.
Hat dich dieses fehlende Mitgefühl geprägt?
Ingrid Schmoliner: Die Leute am Land haben vom multikulturellen Leben in der Stadt nicht viel Ahnung. Manche denken sich einen rechten, faschistoiden Scheiß zusammen. Ich habe mir immer meine eigene Meinung gebildet, auch wenn das nicht immer einfach war und ist, und mich diese Grundstimmung, diese Grundaggression und Grunddepression in der Gesellschaft schon betrifft. Vielleicht kann ich deshalb keine Zeitung mehr aufschlagen, keine Nachrichten mehr hören, nix! Wenn man weiß, dass man mit Deepfake-News alles verkaufen kann, darf man dann noch wirklich den Medien glauben? Ich lerne jedenfalls besser über direkten Diskurs mit anderen Menschen in meiner Umgebung. Deshalb kann ich mir schwer vorstellen, dass eine Existenz ausschließlich in einer Cyberwelt-Tiefe Wachstum und Freude bringt – obwohl man alles noch krasser auslagern kann.
Was meinst du genau?
Ingrid Schmoliner: Die gesamte Verantwortung für Begegnung. Dabei ist gerade die Eigenverantwortung wichtig! Man muss ehrlich und liebevoll mit sich sein, um Position zu beziehen und nicht den Mund zu halten. Ansonsten kann man als Mensch keine Realität im Miteinander begreifen und reifen.
Du bist eine emotionale Autorität, sagst du in diesem Video.
Ingrid Schmoliner: Ich habe mich während Covid mit Human Design beschäftigt und eine Ausbildung zur Embodycode-Mentorin gemacht, mittlerweile aber wieder damit aufgehört. Nicht weil es Hokuspokus ist – für mich hat es in der Kombination mit den Gene Keys der Kabbala und der Astrologie schon eine ausführliche Struktur und Wahrheit –, allerdings habe ich nicht die Zeit, mich in diese Wissenschaften zu vertiefen. Trotzdem wurde mir während dieser Auseinandersetzung mit der Materie bewusst, warum ich so ticke und warum ich mich in einer Gesellschaft, in der nicht viele Manifestor:innen existieren, so schwer tue. Oder warum meine Kindheit so hart war. Heute weiß ich: In meinem Blut fließt die Musik – ich will auf gute Bühnen und mit meiner Arbeit viele Menschen in all ihren Dimensionen bewegen.
„MNEEM” ist so ein bewegendes Stück. Es ist gerade auf Ventil Records erschienen. Ursprünglich hast du es 2019 im Rahmen von Wien Modern aufgeführt.
Ingrid Schmoliner: Bernhard Günther [Leiter von Wien Modern, Anm.] hat damals davor eine erste, kürzere Version im echoraum gehört. Ich habe ihm daraufhin vorgeschlagen, dass ich diese Arbeit gerne auf eine Stunde ausweiten würde. Er hat mir daraufhin den Auftrag für das Festival gegeben. Und ich begann, „MNEEM” zu komponieren und zu trainieren. Das hat viel Zeit, Ausdauer und Konsequenz erfordert.
Das kann man nur verstehen, wenn man sich Ausschnitte ansieht – was für ein körperlicher Kraftakt!
Ingrid Schmoliner: Ja, das war es immer wieder! Nach 20 Minuten dieses Stücks denke ich mir: erst 20 Minuten! Irgendwann kippe ich aber komplett hinein. Bin voll im Klang. Reagiere nur noch im Spielen. Weil sich durch das konsequente Training die Technik, Anschlagsdynamik und meine Ohren total synchronisieren können. Plötzlich merkt man auch als Zuhörer:in, dass der Klang wandert. Das hängt mit der Sättigung der Klangfelder im Raum, mit dem kompositorischen Konzept, mit der genauen Mikrofonierung zusammen und entwickelt einen tranceartigen Sog. Einen Zoom-in-Zoom-out-Charakter! Schließlich geht es mir immer darum, in einen anderen Bereich der Wahrnehmung vorzustoßen und auch das Publikum mitzunehmen.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.
Das Stück ist außerdem ein Unikat. Es ist auf einen Bösendorfer-Flügel im Konzerthaus zugeschneidert. So wie ich es 2019 aufgeführt habe, wird es nie mehr sein – auch weil du als Pianistin nicht mit einem Instrument auf Tour sein kannst. Ich würde mir allerdings wünschen, dass es mehr Flügel in den unterschiedlichen Venues gibt. Flügel, die auch spielbar sind und noch was hergeben. Das würde das Touren mit so einem speziellen Stück viel leichter machen. Dazu gehört auch: eine Sounddesigner:in, die ich mitnehmen und fair bezahlen kann. Ein schwieriges Thema – ich könnte lange ausholen, wie die gewachsenen Strukturen doch die Innovation auf die großen Bühnen bringen sollten und das Ganze finanziell honorieren und bewerben.
Wie meinst du das mit der Innovation?
Ingrid Schmoliner: Lass es mich süffisant ausdrücken: Innovation ist nicht gleich elektronische Synthesizer-Musik als gut verkaufbarer Marktwert, weil es gerade hip ist und von Menschen unter 35 gespielt wird, die möglichst sexy sind.
Ich finde es gut, dass du das offen ansprichst.
Ingrid Schmoliner: Ich frage mich manchmal, was wir eigentlich diskutieren? Dass ich das richtige Pronomen benutze? Für mich war der Mensch nie Entweder-oder. Solange du ein liebevoller Mensch bist, wirst du mir willkommen sein. Das heißt: Ich finde Akzeptanz, Toleranz, Facettenreichtum, Gleichstellung der Menschen, Inklusion und eine freie Sexualität wirklich wichtig. Trotzdem möchte ich nicht aus jeder Sache ein Politikum machen oder meine Meinung dogmatisch in das Bewusstsein der Bevölkerung reinboxen. Das funktioniert auf lange Sicht sowieso nicht und führt nur zu Widerstand.
Kannst du das noch ausführen?
Ingrid Schmoliner: Kunst wird leider auch immer häufiger zum Politikum – im negativen Sinn! Da „MNEEM” aber ohne Sprache arbeitet, kann man es nicht instrumentalisieren. Das Stück arbeitet viel eher mit dem Milieu des Einlassens, um immer weiter ins Hören und Fühlen einzutauchen. Kein einfaches Thema, in einer Welt voller Reizüberflutung. Das merke ich auch, wenn es darum geht, das Stück zu promoten. Ich müsste „MNEEM” häppchengerecht aufteilen, damit es von einer breiteren Masse gehört wird. Meine Arbeit hat aber eine Qualität, die sich nicht in Snippets vermitteln lässt.
Das Stück dauert eine Stunde, darauf muss man sich einlassen. Macht das vielleicht sogar den Reiz aus?
Ingrid Schmoliner: Ja, zusätzlich erfordert „MNEEM” einen Zeit- und Kraftaufwand plus die nötigen Räume, die sich nicht von allein bezahlen lassen. Nur weil meine Arbeit vielleicht in einem größeren Haus oder im Rahmen eines Festivals zu sehen und hören ist, bedeutet das nicht, dass die Bezahlung im Vergleich zu anderen Musiksparten angemessen ist. Deshalb sage ich ganz offen: Künstler:innen brauchen ein Fixeinkommen. Alle Menschen bräuchten das!
Eine letzte Frage: Was bedeutet „MNEEM” für dich?
Ingrid Schmoliner: Es ist ein cooles Wort und eine schöne Geschichte: Nach einer damaligen Aufführung kam eine Steinmetzin zu mir, um mir zu erzählen, dass „Mneem” eine Abwandlung für die lateinische Übersetzung von „Gedächtnis” ist. Das ist interessant, weil Steine für mich das älteste Gedächtnis haben. Deshalb gibt es auch die Prints, die die Veröffentlichung begleiten. Sie zeigen Steine, die ich gesammelt habe, und mich persönlich begleiten. Einen habe ich vor 25 Jahren in der Drau gefunden. Ein anderer kommt aus der Nähe von Athen.
Manche ergänzen sich wie auf dem Cover. Und: Von jedem Bild, das auf Fine-Art-Pigment-Print-Baryta-Papier produziert ist, gibt es nur zwei Stück. Ich habe sie handsigniert und beschreibe, woher die Steine stammen. Da die Produktion kostenintensiv war, sind diese Bilder nicht supergünstig zu haben. Mich würde es trotzdem sehr freuen, wenn sie in gute Hände kommen. Das wäre eine schöne und direkte Wertschätzung, die auch wirklich bei den Künstler:innen ankommt.
„MNEEM” ist also …
Ingrid Schmoliner: … der Aufruf und Wunsch, anwesend zu sein. Während wir über Innovation und Neue Medien und Aneignung und Drogenkonsum sprechen, sprechen wir aneinander vorbei. Aber kipp einmal durch Musik in einen Trancezustand und denk über die Welt, über Materie und Quantenphysik und deine Ahnen nach! Das löst schon spezielle Zustände aus. Wenn man berücksichtigt, wie viel unser Unterbewusstsein eigentlich steuert, und wir nur circa 20 Prozent unserer Hirnleistung mitbekommen – vom Rest weißt du nichts! Die Musik verbindet alle diese Ebenen des Menschseins. Das ist der Grund, warum ich sie so liebe.
Vielen Dank für deine Zeit!
Christoph Benkeser
Das Release-Konzert von „MNEEM” findet am 16. März 2024 in den Westbahnstudios statt. Support: Alex Kranabetter. Alle Informationen hier.
++++
Links:
Ingrid Schmoliner (Klingt.org)
Ingrid Schmoliner (Wiki)
Ingrid Schmoliner (Bandcamp)
Ventil Records (Bandcamp)