Mit „0. 000° (Zero Thousand Degrees – The London Salzburg Session)“ macht das Salzburger DJ- & Electronic-Kollektiv REFLEXrecordings wieder mächtig von sich hören. Als INDIA & THE REFLEX ARTISTS haben GERALD PEKLAR, ALEX MILD, MIKE_MYRS und FRED KREEGER aus den Vocal-Spuren der Londoner Ausnahmekünstlerin INDIA DE VERE wunderbar verwunschene Electronic-Tracks gebastelt. Zwar noch vor Corona begonnen, präsentieren die Tracks Gefühlszustände zwischen Melancholie und Dystopie, weisen jedoch auch trotzig auf noch verbleibende Auswege („Going Underground“). Zum Interview hat sich Didi Neidhart mit GERALD PEKLAR, ALEX MILD und MIKE_MYRS getroffen.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit der Londoner Künstlerin INDIA de Vere?
Gerald Peklar: Wir haben uns im November 2018 bei einer legendären Heizkellerei, also der Klubnacht von unserem Salzburger Verein Freakadelle, kennengelernt. Sie hat geschwärmt, von dem was wir (dort) machen, und erwähnt, dass sie Texte schreibt und hier in Salzburg gerade angefangen hat, im SEAD zeitgenössischen Tanz zu studieren. Neben ihrem extravaganten Äußerem waren ihre Stimme und ihre Art zu sprechen extrem einzigartig. Zugleich tief, angekratzt und klar wie schüchtern und bestimmt. Jedenfalls wollte sie gern mal im Studio vorbeikommen und dort vielleicht ihre Texte einsprechen. Dass daraus doch mehr wurde, war mir nach dem ersten Studiotag klar. INDIA hat dabei über zwei meiner späteren, von ihr ausgewählten Albumtracks – „Fly Away“ und „Crossword“ – gesprochen. Am Ende der vier Stunden langen Stimmenaufnahmen hat sie dann aus dem Nichts, noch ein bisschen drüber gesungen. Eben weil das Backing halt noch gelaufen ist, ihr Text aber zu Ende war. Durch das Vorspielen – unter anderem bei einem Producer-Meeting im Heizkeller – und das Feedback sowie dann auch gleich Airplay auf FM4 hat sich das Ganze wie magisch immer weiterentwickelt.
War das gleich klar, dass es zu einem Album kommen würde, oder hat sich das erst mit der Zeit herauskristallisiert?
mike_myrs: Mir war es tatsächlich nicht von Anfang an klar, dass sich das ganze Projekt INDIA in dem Ausmaß weiterentwickeln würde. Ich war total begeistert von ihren Lyrics und Vocals auf dem Album „Little Grande“ von Gerald feat. INDIA (Interview) und wie Gerald es geschafft hat, aus seinen eigentlich fertigen, aber instrumentalen Albumtitel solch tolle Vocal-Tracks aus letztlich Vocal-Schnipseln zu zaubern. Als wir danach noch die Möglichkeit hatten, eine ganze Remixplatte davon mit Freakadellen-Künstlern zu machen, war es voll spannend, sich mit den Vocal-Spuren zu spielen und etwas Neues daraus kreieren zu können. Jetzt auch noch INDIAs eigenes Album zu produzieren, war wohl die Konsequenz aus den Vorläufern, die uns Musikern natürlich irre Spaß gemacht hat. Also diesmal ihre Texte und Stimme zu vertonen, und zwar ohne vorherige Demos. „Musically starting from scratch“ war die Challenge.
Die ersten vier oder fünf Tage war INDIA mit Gerald allein im Studio, fast nur Stimme aufnehmen, teilweise nur über Metronom oder dazu improvisierten Keyboard-Sachen und höchstens noch eine Drum-Machine. Es war, glaube ich, am Anfang nur noch ein abgespecktes Drum-Pattern von Goldmann Fred Kreeger und eben eines von mir für „Stab a King“ dabei.
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„Immer wenn ihre Stimme dazukommt, ist jeder Track noch geiler.“
Gerade bei Electronics & Vocals scheiden sich ja auch immer wieder die Geister. Was war bei INDIA ausschlaggebend, dass ihre Stimme passen würde?
Alex Mild: Ich habe jedenfalls auf so gut wie keiner meiner DJ-Platten Vocals – und ich habe fast nur DJ-Platten. Ich bin halt auch eher im Techno und Dub und nicht im House zuhause. Es hat auch eine Zeit gedauert, bis mir Geralds Sachen von Elli Uda (Interview) oder sogar auch INDIA getaugt haben. Dafür jetzt umso mehr. Eben auch weil so anders, so spannend, so wie eben auch seine Allen Alexis-Sachen, die mich früher schon ziemlich erwischt haben. Ich habe nicht verstanden, wie er Techno und gleichzeitig sowas wie eben Allen Alexis und Elli Uda produzieren kann. Völlig überzeugt hat mich erst die magische Stimme von INDIA, die sowohl auf den Floor-Nummern als auch auf allen Remixes und auf den Original Vocal-Albumnummern echt fasziniert. Immer wenn ihre Stimme dazukommt, ist jeder Track noch geiler. Das war schon im Studio bei den Sessions so und erst recht in den fertigen Albumversionen.
mike_myrs: Also im Gegenteil zu Alex war es bei mir von Anfang an klar. Da ich eher aus dem HipHop-Bereich komme und mir INDIAs Stimme gleich Gänsehaut bereitet hat, gab es für mich auch keinen Zweifel, ob die Stimme da passen würde. Punkt aus. Ihr Dialekt klingt so authentisch und obwohl ich sie noch kein einziges Mal getroffen habe, macht es allein die Aufnahme aus dem Blackgrabenstudio – ehemaliges Heimstudio – so real für mich. Wir haben ja quasi wie bei Bandproben im Studio zur aufgenommenen Stimme von INDIA gejammt. So wie Karaoke, nur genau andersrum, also Live-Musik zur Stimme aus dem Computer gemacht. Das ist schon ein echt anderer Ansatz als der sonst übliche 4-Bar-Loop und Arrange-Modus.
Mich erinnert dabei einiges an Musikerinnen wie Anne Clarke, also an eine spezifische Spielart von New & Dark Wave, wo es statt „herkömmlicher Lyrics“ eher um eine gewisse Art frei-assoziativer Poetry geht, was sich schlussendlich auch in der Musik niederschlägt. Wie war bei euch das Verhältnis zwischen den Wörtern und der Musik? Gab‘s da schon fixe Tracks, oder Texte, oder sind dann doch die meisten Sachen bei besagten „Sessions“ entstanden?
Gerald Peklar: Also eigentlich haben wir diesmal musikalisch fast bei null angefangen und INDIAs Vocals vertont. Aber eben, wie Mike sagt, nicht im klassischen Studio-Arrange-Modus, sondern in endlosen Live Studio-Sessions abwechselnd auf unseren Kastln – Drummies, Synths usw.
Wir haben einfach gemeinsam drauf losgejammt, immer alles aufgenommen, am Rechner nie auf Stop gedrückt und dabei ständig INDIAs Vocals auf dem Kopfhörer gehabt, ohne dass sie da in Person anwesend war. Aber auch ohne, dass wir genau gewusst haben, was da genau wann von ihr kommt. Das war schon magisch, was sich da oft ergeben hat. Wunderbar mystisch und spooky. Oft kam einem vor, als ob sie zu unserem Gespiele dazuinterpretieren würde und nicht umgekehrt. Fast noch wilder war es dann beim Durchhören der Aufnahme-Sessions. Vor allem auch beim Schneiden: Die Vorgangsweise war fast wie beim Filmcutting, nur halt ohne Klappe, weil ja alles in einem Durch aufgenommen worden ist.
Das Mixen war dann natürlich die – fast zu – große Herausforderung, auch weil die Stimmfarben und Tonmodulationen, also auch Filtereinstellungen extrem schwer mischbar sind, wenn sie geschnitten sind. Es gibt Tracks, da ist die herausgeschnittene Sequenz in sich komplett ungeschnitten, da geht Mixen super. Aber bei anderen sind manchmal bis zu fünf Cuts unter einen Hut zu bringen gewesen.
„Wir sind ja an der Beschreibung des fertigen Albums völlig gescheitert und haben unsere Versuche eingestellt.“
Auf bandcamp nennt ihr die Tracks selber „Psychedelic Indie Art Pop“. Im Moment gibt es ja auch wieder aktuelle Beschäftigungen mit Aspekten des Psychedelischen – das reicht von Cloud Rap bis zu Hyperpop. Seht ihr euch da als (loser) Teil von was Größerem, oder hat sich das einfach aus der Kombination von INDIAs Texten und eurer Musik ergeben?
Alex Mild: Also die Beschreibung „Psychedelic Indie Art Pop“ ist vom wunderbaren, ehemaligen derSTANDARD-Redakteur Martin Obermayr. Manche Journalisten können das echt gut, aber ich kann solche Beschreibungen gar nicht machen und mag mich zu Genresachen nicht so äußern, weil da eh so viel ge- und zerredet wird. Wir sind ja an der Beschreibung des fertigen Albums völlig gescheitert und haben unsere Versuche eingestellt. Aber dann kommt – wie bestellt – Ende Jänner 2021 eine extrem schöne Plattenempfehlung aus Los Angeles auf Dirty Epic/resident advisor von Alla, die so beginnt: „A loud prayer heard from the deepest and darkest corners of soul. Direct vulnerability and fragile honesty spoken in words and sung in untamed melodies. INDIA de Vere is a mystery, …“
Und ja, wir alle sind klarerweise Teil von was Größerem und auch was da gerade bei dem Album passiert ist, kann man mit was Größerem beschreiben.
mike_myrs: Super fein auch wie es Mr. Shantaram, Gregory David Roberts, beschreibt: „It’s amazingly trippy, way out there, an absolute journey of musical experiences. Wow !! I LOVE this album.“
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Fast alle Tracks haben einen leicht entrückt-geisterhaften Appeal und sind auch nicht frei von Melancholie. Ich nehme jetzt zwar nicht an, dass ihr dazu „Corona-Album“ sagen würdet, aber die Grundstimmung (dystopisch, melancholisch) und die Sounds passen schon sehr gut zu den aktuellen Verhältnissen, oder?
mike_myrs: Dystopisch, melancholisch trifft es echt gut. Corona-Album auch irgendwie, aber es war ja schon kurz vor Corona fast fertig eingespielt. Wenn was gut ist, gerade was Musik anbetrifft, passt es auf einmal zu allem. Natürlich war auf einmal viel mehr Zeit zum Ausprobieren und Fertigmachen da, was man wahrscheinlich auch hört. Aber das hat auch seine Verzettelung-Tücken und lässt einen dann auch oft gar nicht mehr los.
Neben INDIA haben mit Alex Mild, mike_myrs, Gerald Peklar und Fred Kreeger ja die so genannten „Reflex und Freakadelle Allstars“ am Album mitgearbeitet. Wie kann man sich das vorstellen? Gibt es da quasi Aufträge („Wir brauchen noch einen Analog-Synth!“), oder passiert das alles schon etwas „organischer“?
Gerald Peklar: Alex, Mike und ich sind extrem viel gemeinsam im Studio, haben eben auch andere gemeinsame Projekte, wie unsere eher experimental-elektronischen Tanzmusik-Kollabs AMG, Al Ge, M I G E und sogar eines mit männlichen Vocals – den Bacon Brothers. Fred war persönlich nie im Studio dabei, hat als Freakadelle Resident Artist – die wir ja auch alle sind – wie angesprochen Drum-Patterns beigesteuert.
mike_myrs: Aufträge direkt nicht. Ich bin echt froh, dass es bei uns etwas organischer abläuft. So wie Gerald schon gesagt hat, verbringen wir echt oft extrem viel Zeit gemeinsam im Studio, auch bei unseren anderen Projekten. Ich finde, das ist mitunter eine der wichtigsten Sachen, dass wir unsere Sessions dem Wohlbefinden nach aufbauen und organisieren – und nicht so, als wäre das jetzt ein bezahlter Auftrag und der MUSS die nächsten Tage noch zustande kommen. Auch wenn Wohlbefinden bei uns ein großer Faktor ist, sind Deadlines dennoch notwendig, um ein Projekt auch mal abschließen zu können. Aber das Ende, also die Deadline war coronabedingt diesmal eben so offen wie noch nie.
„Zeitgeistige elektromusikalische Literaturvertonung quasi.“
Was mir vor allem aufgefallen ist, ist die Tatsache, dass trotz der Referenzen und Echos bzgl. britisch-europäischer Dark/New Wave-Synthpop-Acts aus den 80s die Tracks weder retromanisch noch sentimental daherkommen. Sowohl die Beats wie die Bässe und die Sounds wissen, was sich seither geändert hat und klingen von daher, gerade in ihrer „Gebrochenheit“ bzw. dem „Rost“, den sie mitunter angesetzt haben, eher nach Heute als nach Damals. Wieso also kein typisches 80s-Retro-Album? Kommerziell wäre das ja momentan wohl der sichere Weg.
Alex Mild: Ja, es klingt schon ein bisserl 80s auch, aber daran ist wohl eher der Gerald schuld, weil INDIA, Mike und ich da nicht so einen extremen Bezug haben, vielleicht auch weil wir alle drei erst Anfang bis Mitte 20 sind. Obwohl Falco und Anne Clark finde ich schon extrem geil. Mike und ich verlieren uns eben gern in diesen losen dreckigen Klubsounds, die eben auch unser Lieblings-Synth Juno 6 so gern rauslässt.
Gerald Peklar: Es war ja musikstilmäßig kein Konzept-Album. Die Idee war eigentlich, zeitgenössische Texte – in Form von INDIAs Pocketbook – zeitgeistig und doch so zeitlos wie möglich zu vertonen. Zeitgeistige elektromusikalische Literaturvertonung quasi.
Veröffentlicht wurde das Album auf bandcamp. Gab es oder gibt es auch Überlegungen andere Formate (Vinyl) zu versuchen?
mike_myrs: Unsere REFLEX Sachen sind meist zuerst auf bandcamp, oft schon die unfertigen Versionen. Erst die fertigen werden dann überall in den Netz-Shops und Portalen offiziell präsentiert. Ja, das Album wäre ein absolutes „Must be on Vinyl“, glaube ich. Aber ich befürchte, dass es für Gerald als Produzent – nach mehr als 1.000 Studiostunden, 4 Videos und Stem-Mastering – momentan finanziell nicht zu stemmen ist. Dass REFLEXrecordings als Label große Rücklagen für Zeiten und Sachen wie diese hätte, wäre mir jetzt auch ziemlich neu.
Wie habt ihr euch das ganze finanziert?
Gerald Peklar: Wie immer mit Privatgeld All In, mit einem Lizenz-Vorschuss aus einer anderen Produktion [für „Mumbai – My City In The Sea“ von Shantaram-Autor Gregory David Roberts; Anm.] und gerade nach dem guten Radio-Airplay der ersten Auskopplung „I Don’t Wanna Cry“ mit gutem Mut und Hoffnung auf vielleicht mehr Airplay usw.
Aber ich hoffe auch noch auf zusätzliche, nicht zurückzuzahlende Förderungen. Auf jeden Fall habe ich schon mal mein Auto in Zahlung gegeben. Mal sehen, wie das alles wieder wird mit Lizenzen, Produktionen, Auftritten und Tantiemen. So weiter gehen sollte und wird es ja wohl eher nicht.
Tour wird es momentan wohl keine gaben, aber gibt es irgendwelche Zukunftspläne für das Projekt.
Gerald Peklar: Also Zukunft und Pläne stehen momentan noch ein bisserl hinter dem Auftrag, die Gegenwart neu zu er- und überleben. Natürlich würden wir uns eine Tour wünschen oder zumindest kleine Klub-Gigs, mit Premiere im für uns besten kleinen Klub der Welt [Klublokal Heizkeller vom Verein Freakadelle; Anm.].
mike_myrs: Tour mit INDIA, die ja wieder in London lebt, ist gerade noch schwer vorstellbar. Eher gemeinsam als REFLEX Artists zu spielen oder mit einem unserer anderen Projekte, wie zum Beispiel dem TripHipHop-Projekt BLUFF BLUFF, an dem wir als nächstes wieder weiterarbeiten, um endlich auch in Richtung Live gehen zu können.
Alex Mild: Fix.
Danke für das Interview.
Didi Neidhart
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Links:
0. 000° (Zero Thousand Degrees – The London Salzburg Session)” on bandcamp
Reflex Artists (bandcamp)
REFLEXrecordings (Facebook)