Streaming-taugliche Musik? Gibt es so etwas überhaupt? Und wenn ja, welche Kriterien muss sie erfüllen? Markus Deisenberger hat sich unter Musiker:innen und Produzent:innen umgehört.
„Musik eigens für Spotify produzieren? Dann müsste ich aufhören…”, winkt Parov Stelar ab. Der “King of Electroswing”, der mit seinen Live-Shows nicht nur Stadien füllt, sondern dessen Songs auch hunderte Millionen Male gestreamt werden, hat eine ganz klare Meinung, wenn es um Anbiederung an einen vermeintlichen Massengeschmack geht: „Dann mache ich unterwürfig das, was der Markt verlangt. Darauf habe ich keine Lust. Es ist mir schlicht und ergreifend egal. Ich mache, was ich machen will, was ich machen muss.” Die Konsequenz einer solche Anbiederung an das, was es für Spotify oder andere Streaming-Services braucht, wäre laut Marcus Füreder alias Parov Stelar, „dass es nicht mehr um Songs, sondern nur noch um Moods geht.” Eine Steilvorlage für Alexander Köck von Cari Cari, der ein Lied davon singen kann: „Mit Business-Leuten zu reden, ist deprimierend”, sagt er.
Moods statt Songs
„Natürlich sagt das keiner so platt, aber das, was dir suggeriert wird, ist: Mach beliebige Musik!” Warum? “Weil du dann in diese Moods-Playlists, die `Sommer-Chill´, `Herbstgefühle´ und dergleichen heißen, reinkommst. Da hast du dann halt gleich mal 700.000, 800.000 Hörer:innen.” Ein klarer Vorteil, der sich auch auf den Abrechnungen niederschlägt, aber: „Wenn sie dann ein Konzert spielen, kommen 50 Leute.” Er habe mittlerweile ein drittes Auge für zielgruppengerechte Musik entwickelt, so Köck. „Wenn ich mit 50 Leuten aus dem Business rede, dreht sich vielleicht ein Gespräch wirklich über Musik, der Rest über TikTok, Spotify, den Algorithmus… Im Prinzip wollen die Leute, die Influencer sind und nebenbei Musik machen. Das ist aber nicht das, was wir wollen. Wir sind immer gut damit gefahren, wenn wir darauf geschissen haben. Viele aber lassen sich da reinziehen, weil sie ihren Traum vom Musikmachen leben wollen und wachen als Influencer auf.” Lukas Klement, Produzent aus Wien, der u.a. mit Conchita Wurst arbeitet, sieht das ganz ähnlich: „Es gibt ganz sicher Produzent:innen, die für Spotify-Playlists eigens Songs produzieren. Beats, die so gut wie möglich im Hintergrund vor sich hinplätschern.”
Die Menge macht´s
Klingt stark nach den “Café del Mar”-Samplern aus den späten 1990er und frühen 2000er Jahren. Ein Sound, der in Ibiza um acht Uhr morgens in der Afterhour als perfekter Soundtrack fürs Runterkommen nach dem harten Feiern läuft.
„Ein bisschen, ja”, lacht er. Einen Playlist-Erfolg am Reißbrett zu planen, hält er dennoch für schwer: „Einen Song zu produzieren, der so klingt wie das, was halt sonst so in der Playlist ist, funktioniert wohl kaum”, so Klement. Man könne sich schon auschecken, was gerade gut im Streaming funktioniert, welche Genres da gut gehen, smoother UK-House etwa, der auch in einer Bar laufen kann, damit tue man sich schon leichter. „Das heißt aber nicht, dass ich dann auch in die Playlist reinkomme, denn es geht auch um die Menge, die man produziert. Einmal im halben Jahr ein Ding raushauen und glauben, dass man dann reinkommt, ist ein Irrglaube. Aber was man machen kann, ist eine ganze Menge von Songs zu produzieren, die alle so klingen.” Man muss den Markt also auch entsprechend penetrieren, wenn man in die Playlists will.
Auch David Piribauer, der nach vielen Jahren in Los Angeles heute das Mushroom Studio im burgenländischen Pinkafeld betreibt, ortet eine gewisse Tendenz, „eine hohe Anzahl von Tracks rauszuhauen.” Die Rechnung ist einfach: „Wenn ein Track 30 Sekunden angespielt wird, dann zählt das als Stream. Wenn ich also ein Album mit 30 Tracks habe, sind es halt 30 statt zehn oder zwölf Streams…” Die Folge sei, dass selbst Stars wie Kendrick Lamar plötzlich mehr Tracks als sonst auf ihren Alben haben, „manche davon regulär lange Nummern, andere erkennbar vom regulären Songformat ausbrechende kurze Nummern.”
Aber macht das auch Sinn? Die schiere Menge? Für Lukas Klement nicht. Er selbst, sagt er, produziert keine Musik, die sich besonders gut, d.h. besser als andere für Streaming-Plattformen eignen würde. Und auch Parov Stelar und Alexander Köck nicht. Sie machen einfach die Musik, die sie machen wollen. Ob sie irgendwelche, von Dritten aufgestellte Kriterien erfüllt, ist ihnen herzlich egal.
“Don´t bore us, get the chorus!”
Was uns zu der Frage bringt, was das für eine Musik ist, die sich besonders gut fürs Streamen eignet. Was braucht es für den Streaming-Erfolg außer einem speziellen Mood und der bloßen Menge, die die Wahrscheinlichkeit, in eine Playlist reinzukommen, erhöht? Was sind die Kriterien? „Die Nummern müssen so kurz wie möglich sein, gleich auf den Punkt kommen und so wenige Elemente wie möglich aufweisen, die herauspoppen könnten”, fasst es Klement zusammen.
Klingt erst einmal nach den altbekannten Rezepten des Formatradios: Keine lange Einleitung, keine langen Gitarrensolos, um den so genannten Aus- oder Umschaltimpuls zu verhindern. „Was für Radio schon immer galt, gilt fürs Streaming noch einmal verstärkt”, bestätigt dann auch Georg Tomandl, Geschäftsführer Sunshine Mastering und Obmann-Stv. im Fachverband der Film-und Musikwirtschaft. „Kaum noch Intros. Am besten gleich mit einem Refrain oder mit einer eingängigen Hookline reinbrettern”, so Tomandl. „Auch vom Pegel her sollte es am Anfang nicht zu leise sein. Es muss sofort catchen.” Der Grund dafür ist einfach: „Es ist so leicht, weiter zu skippen, sich wegzuklicken…”
Also: „Sofort einschenken, gleich mal den Refrain bringen”, wie es Piribauer formuliert. Im Englischen gibt es dafür den schönen Satz: „Don´t bore us, get the chorus”, erinnert uns Marcus Füreder alias Parov Stelar. „Kein Vorspiel mehr, gleich Orgasmus”, ätzt er und macht somit keinen Hehl daraus, wie abstoßend er Musik findet, die nichts mehr auf Spannungsaufbau gibt, die auf die Errungenschaften der Pop-Kultur, den Refrain erst nach der Strophe und einer Bridge zu bringen, einfach pfeift. Denn: „Wenn jeder nur noch nach dem möglichst schnellen Kick sucht, führt das zwangsläufig zu einer hohlen Gesellschaft, die nichts mehr kickt.”
Loudness-Normalization
Einen Aspekt haben wir bisher außen vorgelassen, die Loudness bzw. die Loudness-Normalization. Patrick Kummeneker, erfolgreicher Audio Engineer, der unter den Namen Tricky für seine Produktionen bereits mehrfach mit Gold und Platinum ausgezeichnet wurde, nimmt sich die Zeit, uns ins Bild zu setzen:
Die Lautstärke der bei Spotify abgegebenen Produktionen wird in LUFS (Loudness Units relative to Full Scale) gemessen, einer standardmäßigen Lautheitsmesseinheit, die für die Audionormalisierung in Rundfunkfernsehsystemen und anderen Video- und Musik-Streaming-Diensten verwendet wird.
Auch das kennt man schon aus dem Radio: Hörer:innen sollen nicht genervt werden von superlauten oder superleisen Songs. Vor allem wer (wie auf Spotify gut möglich) von Bach bis Michael Jackson quer durch die Genres springt, soll nicht dazu gezwungen werden, ständig leiser und laure stellen zu müssen, sondern – ob gerade die Gitarrenwand hochgezogen wird oder die bittersüße Ballade Schmelz verteilt – annähernd die gleiche Laustärke haben. Dafür wird, wenn man so will, alles über einen annähernd gleichen Kamm geschert, oder fachlich gesprochen die Amplitude analogen oder digitalen Audiomaterials so vergrößert oder verkleinert, dass sie innerhalb eines vorgegebenen Bereichs liegt.
Bei Spotify seien das derzeit -14 LUFS, bei Tidal -12,7. „Jede Plattform hat da ihren eigenen Wert, der sich auch von Quartal zu Quartal ändern kann”, so Tricky. Jeder Song, der lauter ist als der vorgegebene Wert wird nun leiser gemacht, bis er diesen Wert erreicht und umgekehrt, um ins Schema zu passen, was sich “Loudness-Normalization” nennt.
Was ergibt sich daraus für Produzent:innen? Vollgas rausbrettern macht keinen Sinn. Denn: „Je lauter man versucht, abzugeben, desto leiser endet man und desto kleiner klingt die Produktion dann im Endeffekt, weil sie runtergepegelt wird”, weiß Tricky. Umgekehrt mache es aber auch keinen Sinn, gleich auf den (bekannten oder mangels Kenntnis antizipierten Wert) “normalisiert” abzugeben, sich also an die -14 oder einen anderen Wert ranzutasten, denn bei Spotify können Konsument:innen die Normalization auch abdrehen, d.h. die Songs genauso hören, wie sie tatsächlich produziert wurden. Laut, leise, sanft, brutal. Wenn man gleich runterpegelt, beraubt man die Konsumenten:innen, die originalgetreu hören wollen, dieser Chance, denn “hochgefahren” werden die Songs nicht mehr. Trickys Tipp ist daher: „Einfach so mixen und mastern als wäre es eine CD!”
Neue, große Freiheit
Was uns zur abschließenden Frage bringt, ob das, was Streaming-Plattformen notwendig erscheinen lassen, jetzt tatsächlich so neu, so einschränkend ist, wie es zunächst den Anschein hat?
„Dass Manager:innen zu Produzent:innen sagen, es wäre cool, wenn auf dem Album zwei, drei Songs wären, die in Richtung Radio funktionieren, gab es immer schon”, meint Lukas Klement. „Jetzt sind es halt Streaming-Plattformen.” Dass Radio-Promotor:innen und PR-Menschen monieren, das Schlagzeug sei zu laut, der Song werde daher nie auf Ö3 gespielt werden, ebenso, wie uns Verena Wagner, Kärntner Dialekt-Pop-Queen, erzählt, oder in einem Song komme das Wort “scheißegal” vor, was für viele Regionalradios zu hart sei.
Davon kann man sich einschüchtern lassen oder nicht. In Verena Wagners Fall tat man das nicht. Die Sängerin hielt an der Ausdrucksweise fest, ihr Produzent David Piribauer am Schlagzeugsound und den vermeintlich zu komplizierten Tempowechseln. Tat es der Hittauglichkeit Abbruch? Keineswegs. Verena Wagner Debütalbum „Nirgendwohin” lief genau dort, wo es laut Vorhersagen nicht hätte laufen sollte: Im Regionalradio und auf Ö3.
Menschen irren sich, und nicht alles ist planbar. Vielleicht übersieht man genau diese Faktoren ja gelegentlich. Stephanie Widmer von Cari Cari erzählt: „Es gab Songs von uns, von denen sie sich irrsinnig viel erwartet haben, die dann aber gar nicht so gut funktioniert haben.“ Dagegen haben sie sich von „Proper Life“, einem sehr rockigen Song, gar nichts erwartet, der kam aber dann in viele Playlists rein.
„Mir kommt es so vor, als würden Labels versuchen etwas zu planen, was man in Wahrheit nicht planen kann“, ergänzt Köck. „Zu ‚Welcome to Kookoo Island‘ haben wir uns nichts überlegt, und jetzt ist es in irgendeiner Chill-Vibes-Playlist und unsere Spotify-Zahlen gehen durch die Decke. Hätten wir uns viel überlegt, hätte es wahrscheinlich nicht funktioniert.”
Erfolg ist nicht planbar, ja. Aber vielleicht sind wir ja längst an einem Wendepunkt angelangt. „Der Versuch, den Algorithmus zu befriedigen, führte Pop-Produzent:innen zunächst in Richtung Verknappung, Refrain-Wut und Gleichklang”, hat es Robert Rotifer neulich in einem Ö1-Feature treffend formuliert. Und: „Vielleicht gibt es ja doch eine erkennbare Zukunft des Pop, bloß drängt sie nicht mehr nach vorn, sondern in alle Richtungen zugleich.”
Das abstrakte Statement deckt sich ziemlich genau mit dem, was Georg Tomandl konkret beobachtet: „Entweder man hält das (was Plattformen scheinbar fordern, Anm.) ein, kommt schnell und mit dem entsprechenden Pegel auf den Punkt oder man lässt das und bewegt sich völlig frei.“ Der kommerzielle Bereich funktioniere noch nach diesen Regeln, so Tomandl, „in anderen Bereichen passieren allerdings Dinge, die nicht einordenbar sind. Da gibt es eine große Freiheit.”
Ähnlich sieht das auch David Piribauer, der relativ breit gefächert produziert, wie er sagt. Im Metal seien solche Regeln den Leuten sowieso wurscht. Aber davon abgesehen nimmt er auch ganz allgemein wahr, dass die gesamte Musiklandschaft wieder mehr Mut entwickelt.
Dass an ihn kaum der Wunsch herangetragen werde, “Spotify-tauglich” zu produzieren, habe aber auch damit zu tun, dass von den Streaming Services – wie bekannt – nicht viel bei den Artists ankomme. „Deshalb legen die Leute nicht so viel Fokus drauf.” Dabei komme es wie immer auf den Deal an. „Labels, die gut verhandeln, haben auch einen anderen Deal als Otto Normalverbraucher. Das wissen viele nicht und glauben, das sei generell schlecht. Aber: Die Großen, wenn sie viel gestreamt werden, können damit u.U mehr verdienen als sie von der Plattenfirma in advance bekommen…”
Man könnte es also so zusammenfassen: Entweder man produziert Moods und zwar möglichst viele, die sich für Spotify-Playlists eignen oder Mainstream-Pop, der sofort auf den Punkt kommt. Oder aber man lässt sich durch keine Vorgaben beeindrucken und macht einfach das, was man immer machen wollte: Gute Musik, die sich um nichts schert und nach der größtmöglichen Freiheit trachtet. Oder wie es Köck formuliert: „Ich will ja kein TikToker, ich will Musiker sein.” Angst brauche man jedenfalls keine zu haben, so Füreder alias Parov Stelar. Jede Bewegung habe schließlich eine Gegenbewegung. Genau deshalb liebe er die Malerei, seine zweite Kunstform, so: „Denn wie willst du ein Bild verkürzen?”
Markus Deisenberger