Schlusskommuniqué der Klausurtagung Kulturelle Vielfalt 2021

Auf Einladung der Österreichischen UNESCO-Kommission fand von 14. – 15. Oktober 2021 die Klausurtagung „Kulturelle Vielfalt“statt. Im Zentrum der Tagung stand die Analyse der Umsetzung der UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformenaus Perspektive der Zivilgesellschaft. Mit dem Schlusskommuniqué legen die unterzeichnenden Expert*innen ihren Befund über Status Quo und Fortschritt der Umsetzung der UNESCO-Konventionvor. Anhand ausgewählter Themenschwerpunkte zeigen sie Handlungsnotwendigkeitenfür Bund, Länder und Gemeinden auf, die für einen wirksamen Schutz der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen erforderlich sind.

Präambel

In der gegenwärtigen tiefen Krise sind radikale Prozesse des Umdenkens in Politik und Wirtschaft zur wichtigsten Überlebensfrage geworden. Kulturakteur*innen entwickeln realisierbare Visionen und leben sie bereits. Es ist höchste Zeit, dass sie nicht nur gehört werden, sondern ihnen auch jene Stellung eingeräumt wird, die ihnen aufgrund ihrer Unverzichtbarkeit zukommt. Es sind daher ausreichende Grundlagen zu schaffen, die Kunst- und Kulturakteur*innen ein Auskommen in einem ihre Arbeit wertschätzenden Umfeld ermöglichen.

Einbeziehung der Zivilgesellschaft

Die Covid-19-Krise hat deutlich gezeigt, dass eine Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft für faire Rahmenbedingungen im Kunst- und Kultursektor unabdingbar ist. Durch Einbeziehung der Zivilgesellschaft konnten 2021 Erfolge erzielt werden, u.a. die Anerkennung gemeinnütziger Organisationen (v.a. durch Schaffung des NPO-Fonds) sowie die Verbesserung von Planungsperspektiven und Rechtssicherheit zur Auslegung der jeweiligen Verordnungen (Details s. unten). Zivilgesellschaftliche Akteur*innen verfügen über die Expertise, die notwendig für nachhaltige und bedarfsorientierte Kulturpolitik ist. Wenn Beteiligung nur ein Feigenblatt ist, entsteht ein demokratisches Defizit und das Ergebnis sind unwirksame Maßnahmen, die nicht praxistauglich sind und zusätzliche Arbeit für Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik mit sich bringen.

Fair Pay

Die Umsetzung einer „Fair-Pay“-Strategie ist eines der wichtigsten Regierungsversprechen für die Freie Szene sowie Kunst- und Kulturinstitutionen. Durch die Erweiterung des Spektrums des Vorhabens zu einem „Fairness-Prozess“ werden auch zentrale Themen wie die Schaffung einer Vertrauensstelle gegen Machtmissbrauch in Kunst, Kultur und Sport in den Blick genommen. Wichtig ist, dass Fair-Pay ein zentraler Baustein ist und bleibt. Die Mitglieder der ARGE Kulturelle Vielfalt erwarten, dass die Versprechen aus dem Regierungsprogramm eingehalten werden und die „Fair-Pay“-Strategie in Zusammenarbeit mit den Interessenverbänden und -gemeinschaften noch innerhalb dieser Legislaturperiode erarbeitet und umgesetzt wird.

Soziale Rechte bzw. Soziale Absicherung

Ohne Soziale Gerechtigkeit keine kulturelle Vielfalt: Hohe Armutsgefährdung und Versicherungslücken gehören zur Lebensrealität von Künstler*innen in Österreich. Altersarmut und ein eklatanter Gender Pay Gap verschärfen die soziale Schieflage zusätzlich. Sozialversicherungssysteme müssen den zeitgenössischen Erwerbsrealitäten von Künstler*innen, Kulturarbeiter*innen und allen anderen prekär Tätigen mit ihren multiplen, parallelen und abwechselnden Erwerbsformen und Phasen der Erwerbslosigkeit angepasst werden. Es braucht eine Einkommensgarantie: kontinuierliche Existenzsicherung bei diskontinuierlicher Erwerbssituation – bedingungslos und für alle.

Urheber*innenrechte

Im April 2019 trat die EU-Urheberrechtsrichtlinie in Kraft und ist 2021 von den Nationalstaaten umzusetzen. Für Urheber*innen und ausübende Künstler*innen sind von zentraler Bedeutung:

  1. Ein starkes Urheber*innenvertragsrecht und
  2. die direkte Vergütung von Onlinenutzungen auf Download- und Streaming-Diensten und den großen Online-Plattformen

Der österreichische Gesetzgeber hat – entgegen dem ursprünglichen Arbeitspapier und der Absichtserklärung im Regierungsprogramm – einen Entwurf vorgelegt, der in der derzeitigen Form nicht geeignet erscheint, die schwächere Position der Kreativen zu stärken, hier besteht daher dringender Änderungsbedarf.

Kulturelle Bildung

Kulturelle Bildung bietet für individuelle, gemeinschaftliche und chancengerechte Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen ein großes Potenzial, z. B. zur Teilhabe an Kunst und Kultur, im Erwerb von Schlüsselkompetenzen oder in der Gestaltung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen wie der Digitalisierung. Um kulturelle Bildung an Schulen nachhaltig zu unterstützen, sind sowohl die Stärkung und Professionalisierung der künstlerischen Fächer als auch der Ausbau von kultureller Projektarbeit im Rahmen des Unterrichts notwendig. Zu fordern ist die energische Behebung des Lehrkräftemangels, die Ausstattung der Bildungsdirektionen aller Bundesländer mit Expert*innen in kultureller Bildung und die Anerkennung der gesellschaftlichen Bedeutung eines chancengerechten Lern- und Entfaltungsangebots bezüglich der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen als Basis von Bildung generell.

Grenzüberschreitende Mobilität

Die Mitglieder der ARGE Kulturelle Vielfalt befürchten, dass sich die faktische Benachteiligung von Künstler*innen aus dem sogenannten globalen Süden in Bezug auf die Rahmenbedingungen ihnen möglicher Mobilität durch und nach der Covid-19-Krise weiter verschärft. Trotz der von der Konvention für Kulturelle Vielfalt geforderten Vorzugsbehandlung für Kunst- und Kulturakteur*innen aus dem sog. globalen Süden besteht die Gefahr, dass Mobilität faktisch stark eingeschränkt wird aus finanziellen und versicherungstechnischen Gründen sowie aus solchen des planerischen Risikos.

Kultur & Internationale Entwicklung

Kultur ist Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung – und muss deshalb Teil der Zusammenarbeit für Entwicklung sein. Die Berücksichtigung von Kultur als Faktor des menschlichen Seins bietet die Möglichkeit, den lokalen Kontext zu verstehen und der bestehenden politischen und ökonomischen Benachteiligung des sogenanntem Globalen Südens entgegenzuwirken. Es ist zentrales Ziel des UNESCO-Übereinkommens Vielfalt kultureller Ausdrucksformen – und somit Pflicht und nicht Kür – die bestehenden Asymmetrien abzubauen. Österreich und Europa müssen einen Kulturdialog auf Augenhöhe mit dem Globalen Süden garantieren. Nicht nur um der globalen Verantwortung im Abbau der Ungleichheiten nachzukommen, sondern vor allem um von neuen Generationen des Globalen Südens zu lernen. Migrationspolitik ist nicht Entwicklungspolitik und darf hierfür nicht instrumentalisiert werden.

Diskriminierungskritik

Angesichts globaler Bewegungen aus den Reihen minorisierter und marginalisierter Gruppen gewinnt die Frage zu Diskriminierungsmechanismen und -strukturen immer mehr an Dringlichkeit. Der Kunst- und Kultursektor ist von eurozentristischen und diskriminierenden Strukturen (Stichwort: „unconscious bias“) geprägt: So fehlen u.a. bei der Besetzung von Entscheidungsgremien und Beiräten Positionen aus marginalisierten Kontexten. Die Interessen marginalisierter Akteur*innen im Kunst- und Kultursektor werden nicht adäquat vertreten. Die Mitglieder der ARGE Kulturelle Vielfalt stellen fest: Diskriminierungskritisches Handeln beginnt mit der aktiven Auseinandersetzung mit sozialen Ungleichheiten, mit (eigenen) Privilegien und eingelebten Machtreproduktionsmustern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Es ist unabdingbar, Räume des Lernens und Verlernens zu ermöglichen und zu nützen. Es müssen praktische Schritte gesetzt werden, die eine Repräsentation auf allen Ebenen – Publikum, Personal und Programme – der hier lebenden Bevölkerung anstrebt.

Künstlerische Freiheit

Keine Einzelfälle – Einschränkungen künstlerischer Freiheit in Österreich, Europa und weltweit grenzen Freiräume für Kunst und Kultur ein. Der UNESCO-Begriff der „Künstlerischen Freiheit“ ermöglicht es, diese Einschränkungen zu erkennen und greifbar zu machen. Insbesondere „unsichtbare“ Einschränkungen wie Schikane, politischer Druck oder Selbstzensur müssen genau beobachtet werden – sie sind keine Einzelfälle. Künstlerische Freiheit ist demnach nicht nur ein Abwehrrecht, sondern stellt klar die Verpflichtung eines Staates dar, Freiräume zu schaffen, damit Kunst- und Kulturakteur*innen leben und wirken können. Kulturelle und künstlerische Tätigkeit, welche in nicht-kommerziellen Räumen stattfindet, ist nicht erst seit der Krise vielerorts bedroht.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk (ORF)

Der ORF ersetzt sein öffentlich-rechtliches Programmangebot zunehmend durch werbefreundlichere Programme, insbesondere in den Landesstudios. Er ist aufgefordert, seinem Programmauftrag in all seinen Sendern nachzukommen. Die kulturelle Vielfalt im ORF wird finanziell gewinnträchtigeren mehrheitsfähigen Programmen geopfert. Der ORF ist aufgefordert, Kunst und Kultur in all ihren Facetten in all seinen Sendern zu berücksichtigen.

ORF III kann sich als Kultur- und Informationskanal nicht hauptsächlich auf Archivprogramme stützen, er ist aktiv und passiv als Schauplatz der Gegenwartskunst und -kultur und aktueller Informationskanal zu führen. Ein einmal jährliches Kunst- und Kultur-Hearing der Generaldirektion und der Sende-Hauptverantwortlichen zum Status quo des ORF mit den Vertretungen der Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen ist unerlässlich.

Birgit Weilguny, Brigitte Rapp, IG Übersetzerinnen Übersetzer
Daniela Koweindl & Sheri Avraham, IG Bildende Kunst
Franz Otto Hofecker Gerhard Ruiss, IG Autorinnen Autoren
Gabriele Gerbasits, IG Kultur Österreich
Galina Baeva, kulturen in bewegung
Günther Wildner & Harald Huber, Österreichischer Musikrat
Helga Schwarzwald, Verband Freier Rundfunk Österreich Kulturrat Österreich
Kurt Brazda, EU XXL
Lidija Krienzer-Radojevic, IG Kultur Steiermark
Ludwig Laher, Vorsitzender des Fachbeirats „Kulturelle Vielfalt“
Maria Anna Kollmann, Dachverband der Filmschaffenden
Peter Paul Skrepek, Musikergilde
Sabine Kock, Smart mobility
Sabine Reiter, mica – music austria
Zahra Mani, ACOM – Austrian Composers’ Association

Eine Langversion des Schlusskommuniqués, inklusive detailliertem Forderungskatalog und Good Practice-Beispielen findet sich unter: www.unesco.at