Salzburger Festspiele: Nachtseite der Vernunft

Am 27. Juli wird das glamouröse Salzburger Nobelfestival eröffnet. Die erste Saison der Ära Jürgen Flimm widmet sich thematisch der “Nachtseite der Vernunft” und bei den allesamt darauf bezogenen Opernneuproduktionen durchaus weniger Bekanntem. Auch die Handschrift von Markus Hinterhäuser beim Konzertprogramm zeigt eine mutige, schlüssige Dramaturgie und sucht neue Konstellationen zu schaffen.

Stars und neue WegeDen Spagat zwischen Glamour und Erneuerung zu schaffen, das ist in Salzburg eine Herkulesaufgabe. Dem neuen Führungsteam kann man bescheinigen, dass es sie beherzt zu bewältigen versucht. Mit einer klaren Thematik, die sich vom Mozart-Hype des Jahres 2006 absetzt, mit einer Verjüngung bei Regisseuren und Künstlern und eben mit der Programmierung weniger “gängiger” Opern bei den Premieren.

 

Das Thema Nachtseite der Vernunft ist für Jürgen Flimm eine Antwort und Reaktion auf die Aufklärungskonvention, die die Moral am Ende etwa vor allem der Mozartopern bildete – von Mitridate bis La clemenza di Tito: Glücklich sind die, die sich von der Vernunft führen lassen. Der Mensch bestehe aber nun einmal nicht nur aus Vernunft, er hat auch Schattenseiten. Folgerichtig wurde man bei der Suche nach Opern vor allem in der Epoche der Romantik fündig. Gezeigt wird natürlich – erstmals wieder seit 1954 – die zentrale Oper der Romantik, Webers Freischütz, aber auch Berlioz’ Benvenuto Cellini – ein Werk voller unvernünftiger Verhaltensformen, auch Puschkins und Tschaikowskijs Held Eugen Onegin lässt sich nicht gerade von Vernunft leiten und duelliert sich mit einem Freund.

 

Durchwegs eine jüngere Generation kommt bei den Regisseuren zum Zug. Haydns zu Unrecht vergessene Oper “Armida”, auf der Magierinnen und von diesen verrückt gemachte mythische Fabelhelden aus den Epen von Ariost und Tasso die Bühne bevölkern, die erste Premiere, wird inszeniert von Christoph Loy. Andrea Breth inszeniert “Eugen Onegin”, Falk Richter lässt sich beim “Freischütz”, vorbei an auf der Hand liegenden Persiflagen deutschtümelnden Spießertums lieber von David Lynchs “Twin Peaks” inspirieren und Philipp Stölzl, der auch schon mal Madonna-Videos gedreht hat, wurde Berlioz’ Grand Opéra “Benvenuto Cellini” anvertraut.

 

Der Mut wurde nicht bestraft: Der Vorverkauf lag Mitte Juli bei 90 Prozent Auslastung, trotz der sündteuren Karten.

 

Neue Konstellationen des Hörens: Das Konzertprogramm

Wenn schon sündteuer, argumentiert Markus Hinterhäuser, dann müsse man eben auch etwas bieten und verhindern, dass große Stars nur ihre vorgefertigte Tourneeware wie anderswo auch ablieferten.

 

Vor fünfzehn Jahren hatte ihm Konzertchef Hans Landesmann  den alternativen “Zeitfluss”-Schwerpunkt bei den Salzburger Festspielen anvertraut  – ein kalkulierter Faktor der Beunruhigung und Belebung. Ab diesen Sommer ist der Pianist im Team Jürgen Flimms nun selber für die große Konzertschiene verantwortlich. Hinterhäuser ist auch als Musiker ein Mann der Neuen Musik, der in exemplarischen,  hochexpressiven  Interpretationen das gesamte Soloklavierwerk der Wiener Schule, auch das von John Cage, Morton Feldman spielte und der kürzlich in Wien das Sonatenwerk der singulär kompromisslosen Schostakowitsch-Zeitgenossin Galina Ustvolskaja bravourös an einem Abend zyklisch aufführte.

 

Natürlich ist er auch als Programmmacher bestrebt, der Moderne bei den Festspielen Türen aufzumachen – davon zeugt sein Scelsi-Schwerpunkt. Aber der langjährige Liedbegleiter von Brigitte Fassbaender und des Countertenors Jochen Kowalski genießt auch bei den Klassik-Stars den denkbar besten Ruf und vermag diese für anspruchsvolle Zugänge und neue Konstellationen – mehr eben als nur “Konzerte” – zu begeistern.  Wie bei der einst in Salzburg von Oskar Kokoschka ins Leben gerufenen “Schule des Sehens” schwebt ihm für das Konzertprogramm eine “Schule des Hörens” vor. Trotz kurzer Vorlaufszeit gelang es Hinterhäuser bereits heuer, unter Beachtung aller Auflagen und der Notwendigkeit, vielfältige Publikumsbedürfnisse abzudecken, genreübergreifend nachhaltige Schwerpunkte zu schaffen. Mehr noch: Er konnte – verglichen mit seinen Vorgängern – durchaus auch dem schwer einlösbaren Anspruch gerecht werden, das Konzertprogramm sinnvoll mit dem Jahresthema und den Opernproduktionen zu verknüpfen. Spätwerke Beethovens und Schumanns, ohne die die musikalische Moderne nicht denkbar wäre, bilden hier einen wichtigen Akzent.

 

Lontano – Schumann – Scelsi

Unter Franz Welser-Möst erklingt als erstes Werk, das die Wiener Philharmoniker heuer spielen werden, György Ligetis Orchesterstück Lontano. “Aus der Ferne, von weit  her”, bei diesem sehr musikbezogenen Ausdruck denkt man auch an die naturromantischen, wie aus weiter Ferne kommenden ersten Takte von Mahlers Erster, dem zweiten Hauptwerk des Eröffnungskonzertes, bei dem zuvor Alfred Brendel Beethovens Klavierkonzert Nr.3  interpretieren wird. Ein von Riccardo Muti geleitetes weiteres  “Philharmonisches” ist zur Gänze Hector Berlioz gewidmet, seiner berühmten Symphonie fantastique folgt mit “Lélio ou Le Retour à la vie” ein so gut wie unbekanntes Werk des Komponisten des Benvenuto Cellini – Gérard Depardieu wird als Sprecher in Erscheinung treten.

Natürlich wird für den Wohlfühl-Faktor einer nach großen Stars lechzenden Klientel auch mit kulinarischen Gala-Events gesorgt: Die beiden Tenorissimi Plácido Domingo und Rolando Villazon singen Zarzuelas, im Salzburger Dom treten Anna Netrebko und Elîna Garanca mit Musik von Pergolesi (Stabat Mater) miteinander auf, die quirlige Patricia Petibon gestaltet im Mozarteum einen inszenierten Liederabend. Weltstars wie Thomas Hampson, Thomas Quasthoff, die Pianisten Grigory Sokolov, Evgeny Kissin, Alfred Brendel, Maurizio Pollini, Mitsuko Uchida, Lang Lang, Mikhail Pletnev, reichen einander die Klinke  Aber sie haben sich von Markus Hinterhäuser dazu bewegen lassen, ihre Programme auf das Festivalmotto abzustimmen und – ebenfalls bemerkenswert – sie treten vielfach in ungewohnten Konstellationen und Paarungen an, mit Kollegen, mit denen sie noch nie gemeinsam musiziert hatten.

 

Ein besonders schön programmierter ganzer Schwerpunkt – genannt “Schumann Szenen” – widmet sich dem Komponisten der Romantik schlechthin. Die Pianistin Hélene Grimaud trifft da erstmals auf die Sopranistin Christine Schäfer und den Klarinettisten Jörg Widmann sowie auf Benjamin Schmid und Clemens Hagen, der Geiger Thomas Zehetmair spielt mit Pierre-Laurent Aimard, der auch Matthias Goerne bei dessen einzig Schumann gewidmeten Liederabend begleiten wird. Ingo Metzmacher gibt mit drei wunderschönen romantischen Programmen sein Debut bei der Camerata Salzburg, mit dabei sind Angelika Kirchschlager und abermals Christine Schäfer.

 

Dem rätselhaften und legendenumwobenen adeligen italienischen Einzelgänger Giacinto Scelsi (1905-1988) – einem der aufregendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts – ist der heurige Neue Musik-Teil gewidmet. Den Kontinent Scelsi, auf dem sich die besten einschlägigen Ensembles (Basel Sinfonietta, Ensemble Modern, Klangforum Wien) bewegen werden, bildet vor allem die für derlei Klangereignisse prädestinierte Kollegienkirche. Auf der Perner-Insel Hallein geht zudem Christoph Marthaler mit seinen Sängern und Schauspielern und dem Klangforum Wien in einer szenischen Annäherung der Frage nach, was denn die künstlerische Urheberschaft Scelsis ausmacht, der für die Niederschriften seiner (auch kollektiven) Improvisationen und Kompositionen versierte Schreiber beschäftigte: “Sauser aus Italien. Eine Urheberei” hat am 19. August Premiere.

 

Noch ein schöner Coup ist Hinterhäuser gelungen: Das von Daniel Barenboim 2003 ins Leben gerufene, aus jungen Musikern aus Palästina, Israel, Jordanien, Libanon und Syrien zusammengesetzte West-Eastern-Divan-Orchester ist für seine jährliche vierwöchige Arbeitsphase nach Salzburg als Residenzorchester eingeladen worden – ein zentrales Konzertprojekt des Sommers 2007, auf das Hinterhäuser besonders stolz sein kann, geben die Festsspiele doch damit diesem wichtigen Projekt eine wirkliche Hilfestellung. Das West Eastern Divan Orchestra gibt ein Abschlusskonzert mit dem heuer erarbeiteten Programm, darunter Schönbergs Orchestervariationen, und Tschaikowskis Sechster, rund um die Residenz gibt es politische Gespräche und Symposien sowie – am 15. August – einen von Barenboim moderierten und von ihm mitbestrittenen Kammermusiknachmittag und -abend im Mozarteum.
Heinz Rögl

 

Fotos:
Salzburger Festspielbezirk © Salzburger Festspiele
Jürgen Flimm © Salzburger Festspiele/ Bernd Thiessen
Die Festspielleitung mit Riccardo Muti © Salzburger Festspiele/Silvia Lelli
Ingo Metzmacher © Salzburger Festspiele/Mathias Bothor
Blick auf Salzburg bei Nebel © Salzburger Festspiele/Pressebüro