Dieses Buch ist ein Ergebnis von drei Jahren künstlerischer Forschung zur Fragilität von Klängen im experimentellen Musiktheater und die Alternative zu einem Festival zur Präsentation der Forschungsergebnisse als Antwort auf immense Einschränkungen bis Verhinderungen durch die pandemische Situation seit 2020. Als Forschungsteam untersuchten PIA PALME, CHRISTINA LESSIAK und IRENE LEHMANN die Gestaltwerdung von Klängen aus der Sicht der komponierenden Person und entwickelten sowohl für diesen Prozess als auch den Buchaufbau eine modulare Herangehensweise.
Polyphonie, also das Zusammenklingen in Vielstimmigkeit, ist der strukturgebende Begriff für den Aufbau dieser Anthologie. So erhalten teilnehmende Künstlerinnen und Künstler wie Elisabeth Schimana, Susanne Kogler, Suvana Suri, Molly McDolan, Paola Bianchi, Electric Indigo, Germán Toro Pérez uvm. eine Stimme für einzelne Beiträge, die aus der jeweiligen Praxis im Forschungsprojekt resultieren.
Im Rahmen der Forschungsfrage wurden als Fallbeispiele verschiedene Stücke komponiert und deren Produktionsprozesse auf Wechselwirkungen zwischen Kompositionsvorgang, Klangentwicklung, interpretatorischer Varianz und Bewegung von Körpern im Raum untersucht, nicht zuletzt heißt auch eines der fünf Musiktheaterstücke, das Pia Palme realisieren konnte, „Wechselwirkung“.
Für ein abschließendes Festival mit Symposium wurden Kompositionsaufträge für vier neue Werke an Susanne Kirchmayr aka Electric Indigo, Elisabeth Schimana, Séverine Ballon und Elaine Mitchener für das Ensemble Schallfeld vergeben, bei denen Raum, Bewegung, Körper und Performance in der Musik integriert sind, die Komponistinnen in der Regel auch selbst auf der Bühne performen. Weil die Zeitpunkte von Symposium und dem Ausbruch von Covid-19 im Frühjahr 2020 unglücklicherweise zusammenfielen, entstand das Festival online: Alle Stücke wurden auf Stereo-Aufnahmen im Studio reduziert und eine Lecture-Serie mit siebzehn Folgen zum Streamen entwickelt, die alle beteiligten Künstler*innen miteinbezog und neben Online-Präsentationen der Werke für elektronische Musik und Ensemblemusik einen Raum für Dialog und Diskussion zu künstlerischer Forschung, Wissenschaft, Feminismus und politischem Bewusstsein für ein internationales Publikum eröffnete. Unter den Teilnehmenden waren etwa Georgina Born, Darla Crispin, Sarah Weiss, Malik Sharif, Chikako Morishita, Veza Fernandez und Aistė Vaitkevičiūtė.
Die österreichischen Ensembles PHACE und Schallfeld stellten sich der völlig neuen Aufgabe, vor einem nicht sichtbaren bzw. nicht vorhandenem Publikum, also in einer nur scheinbaren Aufführungssituation zu spielen. So führte das Forschungsvorhaben von Kompositionsaufträgen zu Lectures und Diskussionen und stellte künstlerische und wissenschaftliche Forschung in ein spannendes Verhältnis zueinander. Der Austausch zwischen Studierenden, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen sollte auf Augenhöhe geschehen, so wie es der künstlerische Prozess bei der Entstehung von Musiktheater von allen beteiligten Disziplinen fordert. Letztlich mündeten diese Vorgänge in das Entstehen der vorliegenden Anthologie, die den Beitrag intensiver emotionaler Berührung durch Klänge in einem Forschungsprozess ausleuchtet.
Meint Fragilität zwar im ersten Verständnis Zartheit und Zerbrechlichkeit, wird in diesem Buch aber klar, dass dieser Begriff ein Phänomen der Bezüglichkeit zur Umwelt ist. Erst wenn äußere Kräfte auf etwas einwirken, kann sich Fragilität zeigen und manifestieren, sie ist vielmehr eine Aussage über die Bedingungen eines Klanges als dessen Wesen. Die Untersuchung von Klang streift die Unbedingtheit des Hörens als körperliche Erfahrung und damit die permanente Berührung der Grenzen zwischen Innen und Außen. Während Komponist*innen rezipient denken, identifizieren sie Klang mit Raum bzw. Lautstärke und Körper. Körper und Raum werden von Klang ausgefüllt, Körper bildet einen Raum, Klang bildet einen Raum, während beide sich durch einen Raum bewegen (können).
Die praktische Untersuchung der Verknüpfung von Bewegung, Stimme, Klang und Text bespricht Fragilität auf verschiedenen Ebenen: die von Gemeinschaft in Kapitel II, die des Materials in Kapitel III und die der kollaborativen Prozesse in Kapitel IV.
Die Form der Beiträge mäandert zwischen Essays (in progress), Konversationen, Sammlungen, Reflexionen, Dialogen, Artikeln und befragt damit die Form von Wissens- und Erkenntnisproduktion durch offenere, in der Wissenschaft eher unübliche Schreibgenres. Nicht zuletzt wird das Schreiben als forscherische Praxis hinterfragt, bestehen doch die Reflexionen über künstlerische Praktiken in Kombination mit experimenteller Forschung aus Kommunikation, Interaktion und Austausch. Das Wissen performativer Künste ist ihrer Natur gemäß gerade nicht sprach-basiert, meistens still, sehr spezifisch und dadurch bei der Übersetzung in verschiedenen Momenten von Fragilität ausgesetzt.
„Eine stille Zeichnung“ von Flora Könemann eröffnet daher das Kapitel zum fragilen Material, eine Sammlung von Fotografien flankiert mit poetischen Zeilen, die teilweise die Vorgänge auf dem Bild beschreiben, sie aber auch in Bewegung versetzen und Gedankengänge andeuten, innere und äußere Bewegung auszuloten. Veza Fernández behandelt in einem hybriden Text die Stimme und deren Fähigkeit zur Berührung, zur Transverbation mit Anleitungen, Erläuterungen und kurzen Übungen, Texturen, Rhythmen und Resonanzkräfte von Stimmklang im Körper zuzulassen und zu formen. Performerin Paola Bianchi versteht die Aussagen des Gegenübers über dessen Körper, Haltung und Bewegung. Diskussionen online über einen Monitor, der das Gegenüber nie im Ganzen übertragen konnte, erschwerten ihr das gegenseitige Verständnis. Susanne Kirchmayr formuliert in ihrer Lecture, die für das Buch transkribiert wurde, über ihr beauftragtes Werk „Brittle“ die Differenzierung zwischen Materialien und Qualitäten von Fragilem. Liza Lim bespricht in ihrem Beitrag Stimme, bevor sie zu Sprache wird, beschreibt Risse in Erzählungen, durch die hindurchschimmert, was außerdem gesagt, gesungen, gehört werden will.
Während das zweite Kapitel in wiederum vielfältigen Beitragsformen etwa von Margarethe Maierhofer-Lischka, Susanne Kogler und Suvani Suri feministische Komposition, Ästhetik und Politik des 21. Jahrhunderts mit Hannah Arendt, Aktivismus und Ökologie in der zeitgenössischen Musik, das Phänomen von Echo hinsichtlich der Zerbrechlichkeit von Klängen betrachtet und theatralische, digitale und feministische Dimensionen des Hörens untersucht, werden im vierten Kapitel von Juliet Fraser Chaos und Zauber von gemeinschaftlich durchgeführten Projekten neu erörtert. Neben einer gemeinsamen ästhetischen Aufgabe, einer non-hierarchischen Struktur, gegenseitigem Vertrauen, einem dialogreichen Prozess und einer mit-geteilten Verletzlichkeit, die sich im Prozess ausbauen, entdeckt sie den Willen zur Transformation als wesentliches Element einer gesunden Kollaboration. Germán Toro-Pérez erkundet in einem Essay-in-progress das erkenntnistheoretische Potenzial elektronischer Musik, Molly McDolan entdeckt in der Ungenauigkeit instrumentaler Spielweise, beispielsweise von Doppelrohrblattinstrumenten, einen unerforschten Raum für Innovation. Klängen eine überbordende Vielfalt zuzugestehen, erzwingt geradezu eine Um- bzw. Neubewertung von Präzision, Qualität und Können bezüglich des Instrumentalspiels.
Abgerundet von einem Dialog zwischen Chaya Czernowin und Pia Palme, Zerbrechlichkeiten und Verletzlichkeiten als konstituierende Erscheinungen künstlerischen Schaffens zu statuieren, die Zeitlichkeit, Tiefe, Textur eine Variante von Ausdruck geben können, legt die vorliegende Anthologie einen Zugang zur komplexen Situation zeitgenössischen Musiktheaterschaffens dar, beständig pendelnd zwischen Forschung und Aufführungspraxis.
Titel:
Sounding Fragilities. An Anthology
Irene Lehmann and Pia Palme (eds.)
Wolke Verlag, Hofheim 2022
Links:
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Pia Palme
Pia Palme (music austria Datebank)
„Ich schiebe alles beiseite und fang von Neuem an.“ – PIA PALME im mica-Interview
Wolke Verlag