„Realität ist eine Konstruktion” – Thomas Jelinek und Jorge Sánchez-Chiong im mica-Interview

Der freischaffende Komponist und Turntablist JORGE SÁNCHEZ-CHIONG und der Regisseur, Dramaturg und Kurator THOMAS JELINEK haben sich ursprünglich über Performance-Projekte der Künstlerin BRIGITTE WILFING kennengelernt. Seit 2013 arbeiten JORGE SÁNCHEZ-CHIONG und THOMAS JELINEK auch als Künstlerduo zusammen. Anfang April laden sie mit weiteren KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen im Waschsalon des Gemeindebaus Matteottihof im 5. Bezirk in eine öffentliche „Gehirnwaschanlage“ ein. BesucherInnen erleben bei WASCHSALON – ENTROPY für etwa eine Stunde in kleinen Gruppen One-to-One Performances und erkunden eine Reihe mikroperformativer, medialer und musikalischer Installationen. Michael Franz Woels traf die beiden Künstler zum Gespräch über Exponentialität, Entropie und persönliche Albträume.

Ihr mehrjähriges Entropie-Projekt wurde unter anderem auch als pataphysische Installation beschrieben. Was kann man sich darunter vorstellen?

Thomas Jelinek: Grundsätzlich ist das Entropie-Projekt ein „Art and Science“-Projekt. Daraus entstehen als Auswürfe der Exkurse verschiedene Installationen, Performances oder eben auch experimentelle Opern wie „The OPERA of ENTROPY“ im Rahmen der Musiktheatertage Wien 2016. Diesen Prozess bezeichnen wir schon als pataphysisch. Der Begriff ’Pataphysik stammt von Alfred Jarry, der die Metaphysik durch die Pataphysik ersetzt hat. Und die Metaphysik der Gegenwart ist ja unter anderem auch Wissenschaftstheorie.

Mit den wissenschaftlichen, transdisziplinären Prozessen untersuchen und hinterfragen wir wissenschaftliche Fact-Finding-Prozesse. Die praktischen Ergebnisse von Theorien und Versuchsanordnungen sind sehr abhängig davon, wer die Versuche durchführt und aus welchem Weltbild heraus das passiert. Daher haben Leute, die ein und dasselbe Feld erforschen, auch unterschiedliche Meinungen. Je nach Hintergrund – um nicht zu sagen, je nach Sponsor – kommen dabei durchaus divergierende Ergebnisse zustande.

Alfred Jarry war im letzten Jahrhundert einer der treibenden Denker im Hintergrund der Dadaismus-Bewegung. Viele am aktuellen Entropie-Projekt Beteiligte definieren sich über eine gewisse Affinität zum Dadaismus, also einer radikalen Infragestellung des vorherrschenden Weltbegriff-Kanons. Insofern ist das ein Arbeitsprinzip des Fact-Finding-Prozesses. Die unterschiedlichen Stationen unseres Entropie-Projektes generieren ihre Ideen aus dem Dada und dem Surrealismus. Zum Beispiel sehe ich den „Waschsalon“ beziehungsweise die „Gehirnwaschanlage“ im Matteottihof als Readymade. Die Installation ist site-specific, sie manipuliert einen vorhandenen Raum und sieht ihn auch als Kunstwerk.

Dieser Waschsalon wird tatsächlich noch benutzt. Ursprünglich wollten wir den Raum während der Veranstaltung auch für die Bewohnerinnen und Bewohner öffnen. Ich hätte gerade diese Situation sehr spannend gefunden, dass gleichzeitig Wäsche gewaschen wird. Wohnpartner wien, die dieses Projekt initiiert haben, hätten diese Idee unterstützt. Der Waschbetrieb hätte im Sinne eines Kommunikations- und Kunstvermittlungsprojekts aufrecht bleiben und eine Mischung aus Kunstpublikum und Bewohnerinnen und Bewohnern der Wohnhausanlage mit 1200 Wohnungen entstehen können. Aber Wiener Wohnen, die Betreiber des Matteottihofes, wollten das nicht. Jetzt wird der Waschbetrieb während der Begehungs- und Spielzeiten ausgesetzt.

„Der Autor wird um jedes Wort kämpfen, der Komponist um jeden Ton – ein Massaker.“

Jorge Sánchez-Chiong, Sie sind für die Live-Elektronik, das Musikset verantwortlich. Können Sie kurz erzählen, wie es zu der Zusammenarbeit mit Thomas Jelinek gekommen ist?

Jorge Sánchez-Chiong: Thomas Jelinek und ich haben ursprünglich an Projekten, die nicht von uns waren, gearbeitet. Einige waren Performance-Projekte von Brigitte Wilfing, bei denen Thomas die Dramaturgie oder später Raum und Licht entwickelt hat. Ich war für Musik oder Sound zuständig. Als Künstlerduo haben wir 2013 das erste Mal bei der Kurzoper „BILL“ im Rahmen von Wien Modern zusammengearbeitet.

Die Kurzoper ist ja ein Format, vor dem man sich nur fürchten kann. Was und wie willst du in fünfzehn Minuten erzählen? Der Autor wird um jedes Wort kämpfen, der Komponist um jeden Ton – ein Massaker. Dann kam die Frage auf, mit welchem Autor ich arbeiten möchte. Diese Kurzoper sollte auch in einem öffentlichen Raum stattfinden. Die Anfrage kam 2012 und für mich war ganz klar, dass man einen politischen Akt, eine „Besetzung“ des Ortes durchführen muss. Und da ist mir Thomas eingefallen, der seit Jahren Diskursveranstaltungen zu den Themen Politik, Wissenschaft und Kunst veranstaltet.

 

(c) Nick Magafas

Thomas Jelinek: Das Festival hieß Gates. Es ging darum, eine gegenwärtige Definition der Tore zwischen den Wirklichkeiten Öffentlicher Raum, privater Raum, metaphysischer Raum und politisch-philosphischer Raum in eine künstlerische Arbeit zu übersetzen. Im ersten Gespräch mit den Veranstaltern hab ich mein Konzept spontan BILL genannt. BILL in Anspielung auf Bill Gates. Aber bill heißt auch Rechnung auf Englisch. Die Menschheit hat nämlich das Problem, das Phänomen der Exponentialität gefühlsmäßig zu verstehen. Das wollte ich darstellen: Die Rechnung(en), die wir jetzt zu begleichen haben – mit der die Politik und die Wissenschaften und Technologien kämpfen – die exponentielle Entwicklung der Bevölkerungszahlen, aber auch die des Zinses, der Ressourcen – alles was damit zusammenhängt.

Es gibt ja zum Beispiel das berühmte persische Reiskorn-Märchen, indem der Kaiser seinem Höfling Reiskörner als Belohnung verspricht. Die Anzahl der Reiskörner pro Schachbrettfeld verdoppelt sich bis zum 64. Feld. Das entspricht am Ende der gesamten Reisernte Chinas. Mathematisch ist die Exponentialfunktion einfach, logisch vorstellbar, aber trotzdem außerhalb unserer unmittelbaren, emotionalen Erfahrungswelt, außerhalb unseres Maß-Kanons. Und das ist meiner Meinung nach ein entscheidendes Grundproblem der Menschheit. Gerade das Zinsverfahren, das Leute wie Bill Gates zum Multi-Millionär gemacht hat, repräsentiert ja auch das ökonomische Problem, das wir haben.

Jorge Sánchez-Chiong:
Dieses Konzept einer „Zahlen-Oper“ war sehr befreiend für mich. Ich arbeitete mit einer kleinen Besetzung von Musikern des Ensemble PHACE: dem Saxofonisten Lars Mlekusch, dem Schlagwerker Bernd Thurner und dem Cellisten Roland Schueler. Es war sowohl eine frontale als auch eine installatorische Arbeit, bei der die Sopranistin Kaoko Amano und der Tenor Paul Schweinstester mit voller Belcanto-Stimme Statistiken gesungen haben.

Das Libretto generierte sich aus den Zahlenwerten des Statistischen Zentralamtes wie auch der CIA. Ich war mir nicht sicher, wie dieses abstrakte Konzept ankommt. Sehr viele Leute haben mir nach der Veranstaltung Fragen gestellt. Zum Beispiel: Stimmt es, dass die Weltbevölkerung während des 2. Weltkrieges gewachsen ist? Auch die Zahlen der Rüstungsausgaben waren unglaublich hoch. Es sind interessante Unterhaltungen über Postkolonialismus entstanden.

„Das Entropie-Projekt ist der Versuch einer Beschreibung der menschlichen Welt-Realitäts-Konstruktion.“

Kommen wir nun von diesem kurzen Exkurs über Exponentialität zum eigentlichen Thema der Entropie. Können Sie kurz erläutern, was Sie darunter verstehen?

Jorge Sánchez-Chiong: Bei der vorjährigen Produktion „The OPERA of ENTROPY“ im Werk X stellte ich mir die Frage, wie ich mit diesem Laborcharakter der Veranstaltung umgehen kann. Welche Sounds könnten diesen Diskursraum ergänzen? Es gibt ja klassisch Opern, die etwa eine Ouvertüre oder ein spielendes Ensemble benötigen. Wir haben ganz stark mit Reizüberforderung, mit Informationsfluten, die auf die Zuschauerinnen und Zuschauer einwirkten, gearbeitet.

Thomas Jelinek: Die Idee hinter den performativen Labors ist, dass sich der Inhalt in den Installationen nicht nur über Text und Formeln als Fraktale des Entropie-Diskurses im Detail vermittelt, sondern dass auch die Form erzählt, was Entropie ist. Die Veranschaulichung schwingt über die Form der Aktion subaltern mit – man fühlt sich gestresst, fragt sich, wo hier die Erklärung von Entropie zu finden ist. Aber genau dieses Gefühl kann schon als Veranschaulichung dienen. Jorge hat dieses Setting dann mit seinem Sound noch weiter verdichtet. Das Werk „The OPERA of ENTROPY“ hat die Idee einer Oper der Verdichtung der Wirklichkeit auf eine zeitgenössische Art entwickelt.

Jorge Sánchez-Chiong: Ich fasse auch die Gespräche und Hintergrundgeräusche bei so einer Veranstaltung als Musik auf und wollte daher einen ganz langen Zeitraum einbauen, in dem ich keine Musik zusätzlich einführe. Für mich war das absolut notwendig. Es durfte so lange wie möglich keine Musikzuspielung geben, um Spannung aufzubauen. Bei der ersten Aufführung sind Komponisten-Freunde zu mir gekommen und haben mich gefragt: Wann beginnt die Musik? Da habe ich gewusst, jetzt funktioniert es. Die Reaktion des Komponisten Alexander J. Eberhart war bezeichnend: Er stand mitten im Raum, hat sein Handy rausgenommen und den Begriff Entropie gegoogelt.

Thomas Jelinek:
Aber vielleicht sollten wir nun wirklich versuchen, die Frage nach der Entropie zu beantworten. Entropie ist der Kern des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik von Ludwig Boltzmann. Es beschreibt im Prinzip etwas sehr einfaches: Die Tendenz aller Partikel in geschlossenen Systemen – sonst könnte man das gar nicht berechnen –, sich gleichmäßig in jenem Raum, der ihnen zur Verfügung steht, auszudehnen. Dieser Vorgang ist irreversibel, ohne ein hohes Maß an Energie zu investieren.

Im Allgemeinen wird Entropie mit Unordnung und Diskontinuität oder auch Chaos gleichgesetzt. Das stimmt aber nicht ganz, weil es mit einem „menschlichen Maß“ verwechselt wird. Boltzmann hatte damals im Zeitalter der sich verstärkenden Industrialisierung den Auftrag einer Firma, die Effektivität von Dampfmaschinen zu berechnen. Er erkannte, dass die Dampfmaschinen extrem viel Energie, die sie produzieren, durch Dampf und undichte Stellen verlieren. Nur ein Teil der Energie konnte wirklich genutzt werden. Er hat also mit Entropie eigentlich ein Maß für die Energie bestimmt, die für den menschlichen Gebrauch nicht nutzbar ist.

Entropie ist einer der grundlegenden Aussagen der physikalischen Weltbeschreibung, ein zentraler Satz der Thermodynamik. Ohne diese Sätze hätte auch Einstein die Relativitätstheorie nicht entwickeln können. An diesem Punkt kommen wir auch wieder zurück zur Pataphysik: Die grundlegenden Weltbeschreibungen und -berechnungen beziehen sich auf den Menschen. Das ist eine Erkenntnis, die sich jetzt im 21. Jahrhundert in der Philosophie und in der Wissenschaft immer stärker durchsetzt. Das Entropie-Projekt ist der Versuch einer Beschreibung der menschlichen Welt-Realitäts-Konstruktion.

Realität ist eine Konstruktion. Wir wissen daher, dass das Bild der Wirklichkeit eine Einigung der Mehrheit oder der Vertrag der Mehrheit über das ist, was ist. Realität ist somit nicht mehr nur etwas rein Wissenschaftliches, sondern vor allem etwas zutiefst Politisches. Und da sind wir dann wieder beim Thema der Gehirnwäsche: Alle politischen Bewegungen, nicht nur Diktatoren, wünschen eigentlich eine Gleichschaltung eines bestimmten Weltbildes.

Ein gutes Monat nach „WASCHSALON – ENTROPY“ wird es die Ausstellung „ÜBER_LEBEN ENTROPY“ im Künstlerhaus 1050 geben. Da wird dann wieder „The OPERA of ENTROPY“ als Eröffnungsperformance annähernd mit der Originalbesetzung aufgeführt. Die Ausstellung wird den gesamten Prozess des über zweieinhalbjährigen Entropie-Projektes abbilden, inklusive aller musikalischer und künstlerischer Auskoppelungen.

 

OPERA of ENTROPY from Thomas Jelinek on Vimeo.

„Ich wollte etwas kreieren, das auf einer extrem emotionalen Ebene funktioniert.”

Sie unterscheiden in der Ankündigung der brut-Veranstaltung „WASCHSALON – ENTROPY“ zwischen Akteurinnen bzw. Akteuren, Künstlerinnen bzw. Künstlern sowie zwischen Expertinnen bzw. Experten? Wer sind die genannten Akteurinnen und Akteure?

Thomas Jelinek: Zum allgemeinen Verständnis versuche ich das zu trennen. Die Künstlerinnen und Künstler haben sich sozusagen dem wissenschaftlichen Prozess angenähert, und die wissenschaftlichen, theoretischen Expertinnen dem künstlerischen Prozess. Gemeinsam wurden die Installationen, die Kurse und Projekte entwickelt. Als theatrales Element haben wir zusätzlich die Akteurinnen und Akteure, die nach meiner Anleitung performen. Sie spielen das Betreuungspersonal des Gehirnwaschsalons. Sie agieren dort quasi als Pflegepersonal.

Jorge Sánchez-Chiong, wie hat sich Ihre Herangehensweise bei der Konzeption von „The OPERA of ENTROPY“ und „WASCHSALON – ENTROPY“ unterschieden?

Jorge Sánchez-Chiong: Bei „The OPERA of ENTROPY“ hat es mich gereizt, mit diesem sehr schwammigen Begriff des Musiktheaters zu brechen. Beim erwähnten Projekt „BILL“ haben sich viele klassische Posten einer Musiktheater-Produktion verschoben. Wir hatten keinen Korrepetitor, keinen Inspizienten, sondern Thomas Wagensommer hat die Recherche gemacht. Bei „The OPERA of ENTROPY“ war es für mich sehr reizvoll, ohne einen einheitlichen Text, ein klares Narrativ zu arbeiten. Es gab keinen linearen Diskurs und keine Guckkasten-Situation wie in einem klassischen Theaterraum.

Ich wollte etwas kreieren, das auf einer extrem emotionalen Ebene funktioniert. Welche Musik braucht es in diesem Kontext, in dem viele Diskurse dezentral gleichzeitig ablaufen?  Was passiert mit der Wahrnehmung des Publikums, sobald die Musik in diesem Raum anklingt? Wo setzen sich diese Informationen, die so verdichtet den Raum durchdringen? Wir haben auch bei der Anordnung der Lautsprecher versucht, sie gemäß der Entropie-Regel verstreut im Raum zu verteilen.

Bei „The OPERA of ENTROPY“ gab es extrem strenge Timings für die Musiker, das Musik-Setting im Waschsalon ist nun ein anderes. Ich würde diesen von Thomas gewählten, markanten Ort auch als einen sogenannten Unort bezeichnen und man hat schon die erste Assoziation: ein Spitalsraum. Die Tatsache, dass es nun Akteurinnen und Akteure gibt, ist eine Antwort auf dieses spezielle Setting.

„Im konventionellen Theater wird ja suggeriert, dass wir alle bei einer bestimmten Aufführung dasselbe sehen.“

Den Raum, den Sie inszenieren, haben Sie ja auch als „Gesamtraum klinischer Selbstanalyse“ bezeichnet …

Thomas Jelinek: Das referiert auf meinen Theaterbegriff, den ich ja nicht alleine so gebrauche. Es gibt diesen bekannten Spruch: „Das Theater passiert im Kopf“. Im konventionellen Theater wird ja suggeriert, dass wir alle bei einer bestimmten Aufführung dasselbe sehen. Das stimmt aber nicht. Tatsächlich ist es ja so, dass ich schon durch mein neuronales Netz, meine individuellen Erfahrungen, Erinnerungen oder was auch immer ich mit mir herumtrage, sicher auch mit den Erlebnissen, die ich kurz vor der Aufführung hatte, ein subjektives Bild der Vorstellung aufbaue. Mein Nachbar im Theaterraum sieht etwas ganz anderes.

Aber im Theater geht es natürlich schon um die Erzeugung von Synchronizitäten und die Schaffung eines Resonanzraumes, um bestimmte Aspekte gemeinsam reflektieren zu können. Im Waschsalon wird das auch individuell physisch spürbar, weil das Publikum bei den One-to-one-Performances  Einzelbehandlungen bekommt und in Kabinen getrennt sitzt. Über diesen Prozess lassen sich dann auch zeitgenössische Formen des Theatralen demonstrieren. Ich kann physisch wahrnehmen, dass meine Realität nicht die Realität meiner Nachbarin ist.

Jorge Sánchez-Chiong: Bei „The OPERA of ENTROPY“, dieser großräumigen Ideen-Messe, gab es eine unheimlich große, überfordernde Auswahl an Selbstbedienungs-Situationen. Es hat sich der Unterhaltung entzogen, da jeder dieser sich überlappenden Diskurse sehr anspruchsvoll war. Bei der Waschsalon-Installation gibt es nun im Gegensatz dazu geschlossene Kabinen, man wird zugeteilt. Es gibt auch wieder sehr viele Einzelarbeiten, aber diesmal werden die Abläufe genau von der Regie bestimmt.

„Auch wenn sich das Ganze wie eine Theaterperformance generiert, handelt es sich doch um echte Versuche.“

Inwiefern wollen Sie diesen Labor-Charakter auch evaluieren? Wollen Sie feststellen, wie diese Situationen die Teilnehmenden verändern?

Thomas Jelinek: Wir haben verschiedene wissenschaftlich arbeitende Menschen im Projekt mit unterschiedlichen Interessen und Methoden. Zum Beispiel macht Professor Stefan Glasauer vom Institut für Neurologie der Forschungsabteilung an der Ludwig Maximilian Universität München bei diesem Projekt nicht nur gerne mit, weil es Spaß macht. Er arbeitet an neuen Forschungsmethoden. Seine Installationen, in Zusammenarbeit mit Margarete Jahrmann sind aus Neuro-Feedback- und Neuro-Tracking-Versuchen entstanden, an denen er gerade arbeitet. Auch wenn sich das Ganze wie eine Theaterperformance generiert, handelt es sich doch um echte Versuche. Diese Experimente werden zum Beispiel auch mittels Fragebögen ausgewertet, um dynamische Tendenzen, Prozesse zu erkennen.

„Wir wollen manipulative Prozesse offen darlegen, so dass sie antizipierbar und auch wahrnehmbar werden.“

Der Waschsalon befindet sich in der denkmalgeschützten städtischen Wohnhausanlage des Matteottihofes. Dieser Superblock wurde unter Karl Seitz in den 1920er-Jahren als Zeichen der internationalen Solidarität gegen den Faschismus nach dem italienischen Politiker Giacomo Matteotti benannt. Als bekennender Mussolini-Gegner wurde er von Anhängern des Diktators ermordet. Ist diese Ortswahl Absicht beziehungsweise ein politisches Statement?

Thomas Jelinek:
Ja. Das ist jetzt aber nicht unbedingt als direkte Kritik an den letzten Wahlen in Österreich zu sehen. Auch wenn die ENTROPY-Auskoppelung, der Gehirnwaschsalon, mit Ortswahl und politischem Kontext, aus lokaler Aktualität entstanden ist, haben wir es hier mit einer globalen Tendenz zu tun, was die Sache eben bedrohlich und virulent macht. Wobei das Wahlverhalten der Population, und das betrifft eben auch nicht nur Österreich, bedenklicher ist und schärfer kritisiert werden muss, als das, was populistische Politikerinnen und Politiker mit autoritären Tendenzen machen, auch wenn sie Manipulatoren sind. Sie machen immer das Gleiche.

Aber der Zuspruch variiert und die Rolle der Medien ist dabei entscheidend und auch ein Spiegel. Bekannterweise werden ja gerade die Medien, die die Populisten an die Macht schwemmen, danach von diesen kritisiert und beschnitten. Das Problem ist, dass generell in Europa und weltweit, differenzierte Diskurse durch Mainstream-Medien und ihre kapitalistische Ausrichtung auf gewinnbringende Sensationen unterdrückt und durch schnelle Schlagwort-Kommunikation, die dann auch noch möglichst oft wiederholt wird, verhindert werden. Wir haben es hier mit unabsichtlich oder absichtlich indoktrinierenden Medien-Strategien zu tun, und nicht mit möglichst objektiver Information. Wir haben definitiv weltweit gleichschaltende „Gehirnwasch-Tendenzen“.

Das sind fatale Entwicklungen, die grundsätzlich demokratische Prozesse in Frage stellen. Politik ist eben nicht nur das, was Menschen tun, die Politikerin beziehungsweise Politiker als Beruf im Pass stehen haben. Die Aufgabe der Kunst ist es nun, Dinge sichtbar zu machen, die offenbar nicht so offensichtlich dahinter liegen und diese in die Welt zu stellen. Wir wollen manipulative Prozesse offen darlegen, so dass sie antizipierbar und auch wahrnehmbar werden. Ich kann mich solchen Prozessen schon entziehen, aber ich muss es aktiv tun. Und durch dieses aktive Tun erkenne ich die Strukturen. Freie Assoziation ist dabei für mich ein sehr probates Mittel der Kunst. Wir stellen unsere künstlerischen Arbeiten zur Diskussion. Es geht uns um die Offenlegung von bestimmten Systemen, um eine Systemkritik wenn man so will. Jede Form von Kunst ist politisch. Kunst ist ein Ereignis und kein Beruf, eine Einladung aktiv zu sein oder zu werden.

Jorge Sánchez-Chiong: Im Sinne eines Neuentwurfes von Musiktheater ist für mich die Aktualität von Projekten sehr wichtig, die Ausgestaltung in der man es dem Publikum zukommen lässt. Es gibt so viele veraltete Ansätze, was ein Komponist, eine Librettistin ist. Jemand, der sich im stillen Kämmerchen seine Kunst ausdenkt. Es ist nun mein zwanzigstes Jahr in der freien Szene in Wien. Es gab schon einige Verschiebungen, Brechungen zum Thema, was Kunst oder Kultur sein kann, mit denen ich nicht in Berührung geraten wäre, wenn ich mich auf klassische Musiktraditionen beschränken würde.

Ich habe mir zum Beispiel die Geschichte der Horrorfilm-Musik angesehen, um neue Impulse für mich zu entdecken. Da findest du wirklich alles: von alter Orgelmusik zu Musik der 70er-Jahre-Rockgruppe Goblin bis zu Kinderliedern. Und auch Musik, die im ersten Moment komplett unpassend erscheint, wie die super schnulzige Musik von Riz Ortolani für „Cannibal Holocaust“  funktioniert genau deshalb, weil sie nicht funktioniert.

Mein künstlerischer Albtraum wäre es jedenfalls, in der Früh im Postkasten ein zugeschicktes Libretto zu finden. Mit der Bitte um Vertonung und mit einer baldigen Frist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels

 

Link:
WASCHSALON ENTROPY