QUALITÄT ALS VERBINDENDE KRAFT: ALEJANDRO DEL VALLE-LATTANZIO IM MICA-INTERVIEW

Seit einigen Jahren ist ALEJANDRO DEL VALLE-LATTANZIO Kurator für die Musikagenden des Kunstvereins Wien ALTE SCHMIEDE. Christian Heindl sprach mit dem Künstler über seine Herangehensweise an diese Aufgabe und seine Arbeit als Komponist.

Nach der jahrzehntelangen Leitung der Musikagenden des Kunstvereins Wien, besser bekannt als Alte Schmiede, durch Karlheinz Roschitz, Gerald Resch, Volkmar Klien und dich bist du seit zwei Jahren alleiniger Kurator des dortigen Musikprogramms. Mit welchen Zielsetzungen, vielleicht auch Bedenken und Hoffnungen bist du in dieser Funktion angetreten?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Es war mir wichtig, die Arbeit meiner Vorgänger fortzuführen und die Musikwerkstatt der Alten Schmiede weiterhin als Ort des künstlerischen Austauschs zu konsolidieren. Ich wollte das allgemeine Konzept des Musikprogramms etwas auffrischen und dabei vor allem die Frage nach der Zukunft des Programms berücksichtigen. Neben einigen neuen Zielen im Bereich des Vertriebs, wie beispielsweise eine stärkere Präsenz auf digitalen Plattformen, bleibt die Gestaltung des Programms die wichtigste Aufgabe. Die verbindende Kraft zwischen den unterschiedlichen und oft auch gegensätzlichen ästhetischen Positionen, die wir präsentieren und welche die tatsächliche aktuelle künstlerische Produktion repräsentieren, soll die Qualität sein. Die Alte Schmiede war immer ein Ort des Experiments und soll es auch weiterhin bleiben. Es ist ein besonderer Ort und ich bin sehr glücklich, einen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses einzigartigen Projekts leisten zu dürfen.

Subjektiv stelle ich fest, dass das Programm in der laufenden Saison 2022/23 mehr denn je in deiner Ära von Vielfalt geprägt und eine der spannendsten Anlaufstätten für zeitgenössische Musik in Wien ist. Man findet eine anregende Mischung aus Österreichischem und Internationalem, sämtlichen Generationen und ästhetischen Positionen. Was war bzw. ist für dich der dramaturgische Ansatz bei der Programmkonzeption?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Ich versuche, bestimmte Schwerpunkte zu setzen und dann zu schauen, dass ich an den Strängen Variationen, Entwicklungen usw. einbaue. Die Hauptbereiche sind Kammermusik, experimentelle bzw. elektronische Ansätze, Porträt- und Solokonzerte und Jazz. Ich achte darauf, dass ich bestimmte Tendenzen in der aktuellen Produktion erkenne, die wir als verbindendes Element hervorheben können. So erzeugen wir eine Kontinuität, indem die Formate gewisse Ähnlichkeiten aufweisen.

Wie entstehen die einzelnen Musikprogramme konkret? Schlagen Interpreten dir etwas vor? Lädst du aktiv Künstlerinnen und Künstler ein?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Wir sind natürlich offen für Vorschläge, aber generell werden Projekte von uns ausgesucht und eingeladen. Die endgültigen Programme entstehen dann meist durch eine direkte Zusammenarbeit mit den Komponistinnen und Komponisten, Musikerinnen und Musikern, je nach den Vorstellungen und Wünschen beider Seiten.

„Besonders die Neugier ist wichtig, um nicht in den eigenen Vorlieben verhaftet zu bleiben.“

Kannst du dir erlauben, persönliche Vorlieben in die Programmgestaltung einfließen zu lassen?  

Alejandro del Valle-Lattanzio: Vorlieben sind subjektiv. Im Idealfall strebt man eine gewisse Objektivität bei der Bewertung von Kunst an, auch wenn das nicht vollständig möglich ist. Es gibt jedoch Kriterien, anhand derer Projekte beurteilt werden können, wie beispielsweise die handwerkliche Qualität der Arbeit. Ob die Beurteilung dann erfolgreich ist oder nicht, hängt von den Kompetenzen und Erfahrungen der Personen ab, die für die Auswahl der Projekte verantwortlich sind. Eine gute Balance zwischen Intuition, Wissen und Neugier ist notwendig, um nicht nur nach Vorlieben zu beurteilen. Besonders die Neugier ist wichtig, um nicht in den eigenen Vorlieben verhaftet zu bleiben.

Wie „entdeckst“ du Werke bzw. Komponistinnen und Komponisten? Gibt es auch Aufträge durch den Kunstverein Wien, die in der Alten Schmiede zur Uraufführung gelangen?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Wir vergeben keine Aufträge, ermutigen Komponistinnen und Komponisten jedoch, sich bei Förderinstitutionen mit konkreten Aufführungsplänen zu bewerben. Ich versuche, up to date zu bleiben und verfolge die Projekte, die generell in Österreich und Europa entwickelt und präsentiert werden. So verschaffe ich mir einen Überblick über Positionen, die eventuell für unser Programm gewonnen werden können.

Wie immer, wenn ein Intendant oder Kurator selbst Künstler ist, stellt ich auch bei dir die Frage: Wieweit erlaubst du dir, deine eigene Musik in der Programmplanung vorkommen zu lassen? Ich habe den Eindruck, dass du das sehr dezent handhabst.

Alejandro del Valle-Lattanzio: Spätestens seit ich für das ganze Programm zuständig bin. Vor einigen Jahren gab es Projekte, bei denen ich als Musiker oder Komponist tätig war, diese wurden jedoch von anderen Kuratoren betreut. Es besteht eine gewisse Unmöglichkeit, was die Gleichzeitigkeit beider Tätigkeiten betrifft, und das ist auch gut so.

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Gehen wir noch auf deine eigene künstlerische Arbeit ein. Du bist nach einem abgeschlossenen Studium in den Bereichen Klavier, Musiktheorie und Komposition an der Universitaria Juan N. Corpas in deiner Geburtsstadt Bogotá 2007 nach Wien übersiedelt. Was hat dich bewogen, an der hiesigen Musikuniversität ein erneutes Studium in diesen und zusätzlichen Fächern zu absolvieren?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Da ich die deutsche Schule in Bogotá besucht hatte, war ein Auslandsstudium immer eine sehr naheliegende Möglichkeit. Der endgültige Impuls, ins Ausland zu gehen, war, dass meine Klavierlehrerin nach Polen zurückkehrte. Da dachte ich mir, ich sollte vielleicht auch nach Europa gehen und Komposition studieren. Ich habe mich von meiner Abenteuerlust führen lassen und mich entschieden, es in Österreich zu versuchen, wo bekanntlich viele Musikerund Musikerinnen bzw. Künstler und Künstlerinnen zusammentreffen und wo Kunst im Allgemeinen einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft hat.

Waren die Wiener Lehreindrücke für dich eine Ergänzung oder eine völlig neue Welt? Kannst du die Positionen dort und hier in dir zu einem harmonischen Einklang bringen?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Das Curriculum an sich ist hier nicht sehr anders als in Kolumbien. Ich wurde hier jedoch natürlich mit anderen Perspektiven vertraut, insbesondere was den Zugang zur musikalischen Praxis betrifft. Auch was ironischerweise das Grundverständnis von Musik – was ist, was kann und was soll Musik? – betrifft, gibt es in manchen Bereichen oder Szenen beträchtliche Unterschiede. Es war aber für mich sehr wichtig, die Landschaft zu wechseln, und dadurch habe ich viel gelernt. In den letzten Jahren merke ich, dass ich immer noch ziemlich „kolumbianisch“ geblieben bin. Ich entdeckte zum Beispiel meine Liebe für volkstümliche Musik aus Kolumbien hier neu.

„Ich betrachte Harmonie grundsätzlich als eine Kraft zwischen Tönen, die man nicht so sehr erfinden kann, sondern eher entstehen lässt.“

Vor zwei Jahren erschien deine erste Porträt-CD „Music for Clarinet and Piano“ beim Label Gramola. Eine tonale Basis, Melodik, Rhythmik stehen bei den darauf enthaltenen Stücken im Vordergrund. Ist das gleichzusetzen mit deinem Credo als Komponist?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Ja, man könnte sagen, dass die CD meine musikalische Ausdrucksweise gut zusammenfasst. Die Rhythmik, Melodik und formalen Aspekte sind bei mir dominant. Ich betrachte Harmonie grundsätzlich als eine Kraft zwischen Tönen, die man nicht so sehr erfinden kann, sondern eher entstehen lässt. Ich strebe sogar noch mehr Einfachheit in diesem Bereich an, damit sie nicht die rhythmisch-melodischen Gestalten trübt oder ruinieren kann. Oft geht es um subtile Unterschiede, die am Ende den Unterschied ausmachen und darüber entscheiden, ob guter oder schlechter Geschmack triumphieren wird. Deshalb bedarf die Gestaltung der Harmonie viel Überlegung, obwohl sie im Grunde an zweiter Stelle steht. Die Versuchung, Mängel bei anderen Elementen wie Melodik und Rhythmik durch farbige Harmonien zu kaschieren, ist allzu bekannt.

Deine künstlerischen Interessen waren immer weit gefächert. Du hast dich auch in Kursen und Studien intensiv mit dem Filmbereich und der bildenden Kunst befasst. Ist das ein Bereich, in dem du weiterhin aktiv bist? Lässt sich das aktuell in Projekten umsetzen?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Immer weniger. Ich versuche, meine ganze Energie in die Musik zu stecken, denn für mich bleibt sie das Wichtigste und das, wo alles sozusagen anfängt. Ich zeichne und male aber regelmäßig, meistens dann, wenn ich eine Pause brauche. 

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„OBWOHL ICH AUF BEIDEN KONTINENTEN ZU HAUSE BIN, FÜHLE ICH MICH LETZTENDLICH DOCH AUF KEINEM WIRKLICH HEIMISCH. AM MEISTEN FÜHLE ICH MICH IN DER NATUR ZU HAUSE, OB IM REGENWALD KOLUMBIENS ODER IM WIENERWALD – DORT BIN ICH GLÜCKLICH.“

Du bist der einzige mir persönlich bekannte Mensch mit drei Staatsbürgerschaften – kolumbianisch, italienisch, österreichisch, letztere für deine Leistungen im heimischen Kulturbetrieb und deinen Beitrag zur Musik in Österreich. Siehst du dich dementsprechend als eine Art Vermittler zwischen den Kontinenten oder ist das alles eine äußerliche Etikettierung, die im Grunde mit deinem Schaffen wenig zu tun hat?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Die Rolle als Vermittler zwischen Österreich und Kolumbien konnte ich bis jetzt, bis auf ein paar Projekte, nicht wirklich ausfüllen. Mit Italien habe ich fast nichts zu tun, da ich die Staatsbürgerschaft nur durch meine Großeltern, die sehr jung nach Südamerika gekommen sind, bekommen habe. Ich sehe mich jedoch als besonders privilegiert an, da ich zwischen beiden Kontinenten eine komplexe kulturelle Identität sozusagen basteln kann. Obwohl ich auf beiden Kontinenten zu Hause bin, fühle ich mich letztendlich doch auf keinem wirklich heimisch. Am meisten fühle ich mich in der Natur zu Hause, ob im Regenwald Kolumbiens oder im Wienerwald – dort bin ich glücklich. In Zukunft würde ich sehr gerne mehr Vermittlungsarbeit leisten, die eine kulturelle Bereicherung beider Länder bedeutet.

Was wird man in nächster Zeit von dir hören oder sehen können?

Alejandro del Valle-Lattanzio: Es werden Werke in unterschiedlichen Bereichen zu hören sein, darunter neue Kammermusik, Solowerke und insbesondere Lieder. Einige der Texte habe ich übrigens selbst geschrieben. Ich werde mich in nächster Zeit besonders intensiv mit Vokalmusik beschäftigen. Instrumentalwerke zu schreiben, pflege ich fast als Routine, um im Fluss zu bleiben. Was größere Formate betrifft, muss ich noch ein Posaunenkonzert schreiben, das Ende dieses Jahres vom hervorragenden bulgarisch-kolumbianischen Posaunisten Nestor Slavov und dem Orchester der Universidad Nacional unter Guerassim Voronkov in Bogotá uraufgeführt werden soll.

Vielen Dank für das Gespräch!

Christian Heindl

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