Aus den sprichwörtlichen Regeln, die da sind um gebrochen zu werden, könnte man auf Wolfgang Mitterer angewandt konstatieren: Grenzen sind da um überschritten zu werden. Denn nähert man sich dem Schaffen Mitterers, sieht man sich der Verbindung kontrastierender, teilweise sogar gegensätzlich erscheinender Elementen gegenüber. Komposition und Improvisation, Jazz und Neue Musik, Klassik und Pop, akustische Instrumente und elektronische Samples werden verschmolzen, als wenn keine Abgrenzungen dazwischen existierten, so dass oftmals nicht mehr klar erkennbar ist, welcher Einfluss woher kommt. Unerwartete Klangexplosionen, rasch aufsteigende Tonfolgen, ein einzelner Flötenton, das Grunzen von Schweinen oder auch leise pulsierende Klanglandschaften und sich zaghaft entwickelnde Melodien sind zu vernehmen. Beinahe schon kitschig erscheinende Harmoniefolgen werden mit leise wummernden Rhythmen konterkariert oder Koloraturen durch Dissonanzen karikiert.
Traut man sich zu schreiben, dass Mitterer damit zwischen den Stühlen der Stile sitzt, entgegnet er: „Ich sitze auf meinem eigenen Stuhl“. Dies zeigt sich unter anderem an der Wiedererkennbarkeit seiner Kompositionen und Improvisationen, denn trotz ihrer höchst unterschiedlichen Gestalt sind sowohl Gestus als auch bestimmte Klänge immer wieder zu finden. Dies rührt von seiner spezifischen Arbeitsweise, denn Mitterer, der 1958 in Lienz geboren wurde und Orgel, Komposition und Elektroakustik studiert hat, ist in gleicher Weise Komponist wie Improvisator. In beiden, bei ihm oftmals nicht voneinander zu trennenden Bereichen zeigt sich ein wesentliches Element in der Verwendung von Samples – Alltagsgeräusche wie das Rauschen von Wind und Wasser, im Raum hin- und herfliegende Helikopter, elektronisch erzeugte Klänge, oder Aufnahmen akustischer Instrumente und Stimmen sind in seiner umfassenden Soundbibliothek zu finden, die einerseits einer ständigen Veränderung und Erweiterung unterliegt, aus der aber einzelne Klänge in unterschiedlichsten Werken wiederfinden lassen. In abgeschlossenen Kompositionen wie coloured noise (2005) ist eine Partitur für die zu mehr oder weniger fixiertem elektronischen Part spielenden InstrumentalistInnen vorhanden, diese jedoch mit improvisatorischen Freiheiten ausgestattet. Denn nach der Überzeugung Mitterers sollen Musiker nicht daran denken, was sie machen müssen, sondern was sie spielen dürfen. Improvisation wird hier zum integralen Bestandteil von Komposition. Umgekehrt fließen aus früheren Werken gewonnene Klänge – elektronisch weiter verändert oder auch nicht – als Samples wieder in neue Kompositionen oder Improvisationen ein, um anschließend vielleicht erneut in anderen Zusammenhängen wieder aufzutauchen. So geht ein Werk fließend in ein anderes über.
Während Mitterer teilweise unterschiedliche Stile zu einem untrennbaren Konglomerat verschmelzen lässt, setzt er sie in anderen Werken kontrastierend gegeneinander. Und auch der Ort der Aufführung und dort ansässige (Laien-)Musiker werden gelegentlich zum Protagonisten. So in „Turmbau zu Babel“ (1993), in dem er 4200 Sänger, Schlagwerker, Blechbläser und 8-Kanal-Elektronik in einem Fußballstadion zusammenführt und den dort beheimateten Sprechtumulten und von Blechbläsern imitierten Gashupen auf Choräle treffen lässt. In „Vertical Silence“ (2000) wiederum werden Opernsänger in einem Steinbruch mit Blaskapellen, Jägern mit Hunden, Motorsägen und Feuerwehr konfrontiert. Oder in „Music for Checking E-Mails“ (2009), wo Reminiszenzen an Bruckner, Tschaikowski und Feldman zwischen postmoderner Vielschichtigkeit auftauchen. Und auf „Sopop“ (2008) gibt er sich – wie der Titel bereits erkennen lässt – poppig. Es wäre aber nicht Mitterer, würde er klischeehaft mit standardisierten Harmoniefolgen und klarem 4/4-Takt aufwarten. Wenngleich sich die Klangsprache hier mit von Birgit Minichmayr gesungenen Phrasen wie „relax me“ in populäre Gefilde vorwagt, schlägt die Arbeit mit Stimmen, E-Gitarre, Schlagzeug, Kontrabass und Samples oft nicht vorhersehbare Verläufe ein und birgt rhythmische wie klangliche Überraschungen. Und für „Im Sturm“ (2008) waren die Lieder Franz Schuberts ausschlaggebend für eine Auseinandersetzung mit der Gattung Lied, ohne dass diese – abgesehen von einem Zitat von Schuberts „Ungeduld“ im Zentrum des Zyklus – selbst erklingen; viel mehr ist es ein Spiel mit dem Verhältnis von Text und Musik und der Thematik der unerfüllten Liebe.
Mit Musikern wie den Schlagzeugern Wolfgang Reisinger oder Wolfgang Klammer, dem Saxophonisten Klaus Dickbauer oder dem Bariton Georg Nigl bildet er Improvisationskollektive, die sich gelegentlich über einen längeren Zeitraum erstrecken, manchmal aber auch nur für eine Aufführung Bestand haben – bei der Musik, die aus dem Moment heraus entsteht, wird auch schon mal das Knarren des Stuhles Teil des musikalischen Geschehens. In den freien Improvisationen und auch in instrumentalen Kompositionen steht die Arbeit am Klang im Mittelpunkt, die kein dahinterliegendes, unhörbares Konzept benötigt. Im Bereich Oper hingegen wird Mitterer in „massacre“ (2003) politisch, wenn er sich mit der Gewalt der Bartholomäusnacht im 16. Jahrhundert auseinandersetzt und dabei den indirekten Bezug zur Gegenwart herstellt. Denn nicht nur damals musste die Religion als äußerer Vorwand hinhalten, um aus Habgier die Brutalität an den Gegnern zu rechtfertigen. Und auch musikalisch verbindet er Vergangenheit und Gegenwart durch das Einbeziehen von Fanfarenanklängen und angeschnittenen Orgelchorälen.
Aber nicht nur für Erwachsene komponiert Mitterer. Mit seiner „kleinen oper für kinder“ „das tapfere schneiderlein“ (2006) schuf er ein spritziges Werk, mit dem er das junge Publikum auf humorvolle Weise ganz ernst nimmt. Nicht mit „dududu-lalala-Musik“ wollte er die anspruchsvollen Ohren abspeisen, denn, so Mitterers Überzeugung: „Man muss Kindern etwas zutrauen“ und so erzählt er das traditionelle Märchen mit zeitgemäßer Klangsprache, wodurch die Oper auch für älteres Publikum interessant ist. Gleich für welches Publikum oder welchen Ort Mitterer komponiert, man darf immer wieder gespannt auf die Experimente des Klangkünstlers gespannt sein.
Doris Weberberger
Wolfgang Mitterer © Gert Mosettig
http://www.wolfgangmitterer.at