Im März diesen Jahres erschien Album Nummer drei des Wiener Neo-Prog-Trios Milk+. Allgemeiner Lesart nach legt jenes Drittlingswerk die entscheidende Messlatte, an der sich fortan die heiligen Kriterien von Relevanz, Qualität und Eigenständigkeit ablesen lassen müssen. Anders formuliert: Von einer Band, der es bis dorthin nicht gelungen ist, einen spezifischen Entwurf ihrer selbst zu gestalten, darf man auch im Verfolg ihrer weiteren Entwicklungsgeschichte nicht mehr viel erwarten.
Egal ob man dieser statischen Formel nun folgen mag oder nicht, Milk+ haben mit ihrem jüngsten Opus „Band on Wire“ ein atemberaubend konzentriertes, detailverliebtes Meisterstück abgeliefert. Im Begleittext zur Vorab-EP „Venus Breakdown“, deren Material bereits einen ersten Eindruck des aktuellen Sounds vermitteln konnte, war von „delphischen“ Betitelungen die Rede. So wenig eindeutig diese Song-Orakel auf der textlichen Ebene auch interpretiert werden können, so dionysisch lautet der Umgangston im spielerisch-musikalischen: Es sind durchwegs sinfonisch ausufernde Psychedelia-Kompositionen, deren oft kontraintuitive rhythmische Wucht mit feinsten harmonischen Verästelungen ausgefüllt wird. So entsteht ganz große, rauschähnliche Kopf-Oper, die auf dem bequemen heimischen Sofa wie auch im verschwitzten Auditorium diverser Konzert-Venues gleichermaßen gut funktioniert.
Dabei war all dies von Beginn an abzusehen. Das Trio um Sänger/Gitarrist David Furrer und Navid Djawadi am Bass startete zwar mit wechselnden Drummern, dafür allerdings auf ungewöhnlich hohem Niveau. Von der Gründung 2004 weg dauerte es noch zwei Jahre bis zur Veröffentlichung des Debütalbums „Zeropolis“ (2006). Bereits hier wird das technische Niveau der an den hiesigen Hochschulen erprobten Musiker deutlich, welches zusammen mit einem beinharten Live-Ethos die Entwicklung eben jenes gesunden Selbstverständnisses befeuerte, das die Band zu dem gemacht hat was sie heute ist: eine der spannendsten und unkonventionellsten des Landes.
Mit Christopher Czerny am Schlagwerk folgte 2009 mit „Who is Mr. Feldman?“ schließlich ein merklich gereifter Nachfolger, veröffentlicht auf Pate Records. Noch deutlicher wurde darauf die experimentierfreudige Uferlosigkeit, die sich in nicht selten an der 10-Minuten-Marke kratzenden Prog-Rock-Epen eindrucks-voll Bahn brach. Den Leistungen der Krautrock-Urväter wird dabei ebenso Rechnung getragen wie deren epigonalem Nachleben in Acts wie The Mars Volta und den Exzess-Poppern Muse. Will heißen: Auf starre Strophe/Refrain-Schemata zu verzichten ist Programm. Stattdessen verweisen Milk+ aus vollster Überzeugung auf die schöpferische Kraft des Prozessualen, das den an klassischer Komposition geschulten Spielweisen des Art-Rock innewohnt. So wird nicht bloß, wie im herkömmlichen Songformat, die melodisch-dramaturgische Essenz innerhalb einer handelsüblichen Popstruktur entfalten, sondern dieser selbst wird ein nochmaliger Raum geöffnet, in welchem die Ideen von praktizierter Durchleuchtung und Entwicklung des stets im Fluss befindlichen Materials mitbedacht und somit auch für die Hörerschaft erlebbar gemacht werden. Der Weg als Ziel. Damit wird der Grund für jene Tugend gelegt, welche im transgressiven Gestus des Progressive Rock implizit hochgehalten werden: er kreiert ein eigentümliches Zeitempfinden. Im Kontinuum der gedehnten Spielordnungen ist man in seinem Hörerlebnis ganz und gar einem unberechenbaren Regelwerk ausgeliefert. Diese Erfahrung wird umso einnehmender, je unabsehbarer der Weg und dessen Ende sind.
An diesem Punkt kommen wir zum zweiten Standbein im Soundkosmos von Milk+, nämlich der Improvisation. Immer wieder entlässt uns die Band unversehens aus hochgradig definierten Passagen in freie musikalische Kommunikationsabläufe und aleatorisch entgrenzte Binnenräume, in denen uns Signale aus der Hintergrundstrahlung von Funk & Fusion erreichen. Dabei erweist sich das Trio als erprobt genug, um zielsicher und akkordiert in die nächste kompositorische Schleuse einzufahren, die gewiss ein neuerliches, gewieft groovendes Gustostückerl bereithält.
Im Jahr 2013, mit Drummer Alex Kerbl an Bord, brauchen Milk+ niemandem mehr ihre spielerische Raffinesse um die Ohren zu hauen. Die instrumentellen und handwerklichen Sporen sind längst verdient. Stattdessen liegt der Fokus auf der idealen Gestaltung ihres erweiterten Song-Begriffs. Die Stücke auf „Band On Wire“ (monkey music) wirken trotz rhythmischer Hitze erfreulich unaufgeregt – so klingen Bands, die zu sich selbst gefunden haben. Produziert von Mars-Volta-Keyboarder Ikey Owens, der hier gelegentlich auch selbst in die Tasten griff, entstand ein Vorzeigewerk des modernen Progressive-Rock. Dessen auf allen Ebenen bemerkenswerte Qualität versprüht das kaum anrüchige Odeur der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Milk+ bieten einen zwischen musikalischen Gegensätzen oszillierenden Trip, eine mind-bending experience – das wird überall verstanden.
David Weidinger
Fotos Milk+: Ingo Pertramer