Porträt: Michael Amann

Vor Überraschungen sind auch Komponisten nicht gefeit; erfreulich freilich, wenn diese angenehmer Natur sind und etwa in der Ankündigung einer vier Tage später bevorstehenden Uraufführung bestehen. So geschehen bei Michael Amann im Fall von Kassiber, das am 25. Juli 2013 im italienischen Assisi aus der Taufe gehoben wird.

Von einem, der aus dem Ländle auszog

An die zwanzig Jahre ist es her, seit man im Osten Österreichs, konkret in der Bundeshauptstadt wahrnahm, dass es da einen Neffen des Vorarlbergers Gerold Amann gibt, der ebenfalls komponiert und sich Wien als Lebensmittelpunkt erwählte. Mittlerweile haben sich die Vorzeichen umgekehrt, und es ist der Neffe, der einen gelegentlich wieder an den noch viel seltener als früher in den Spielplänen präsenten Onkel denken lässt. 1964 in Dornbirn geboren, wuchs Michael Amann im nahe gelegenen Rankweil auf. Schon im Elternhaus intensiv musikalisch sozialisiert, wurde sein Instrument nicht klassischerweise das Klavier, sondern die Posaune, die er am Vorarlberger Landeskonservatorium in Feldkirch bei Josef Amann erlernte. Tonsatz- und Kompositionsunterricht erhielt er bei Robert Nessler. Schon in seine Zeit am Feldkircher Musikgymnasium von 1979 bis 84 fielen erste Aufführungen seiner Stücke bei  Konzerten der Schule, im Rahmen des Forums Zeitgenössische Musik und bei Veranstaltungen des Österreichischen Komponistenbundes. Nach Wien übersiedelt, absolvierte Amann von 1986 bis 91 ein Lehramtsstudium in Musikerziehung bei Heinz Kratochwil und Herbert Tachezi sowie Anglistik/Amerikanistik an der Universität Wien. Schließlich folgte von 1990 bis 95 ein Studium in Tonsatz bei Iván Eröd und Komposition bei Erich Urbanner an der Wiener Musikhochschule. Seit 1991 ist er als Musiklehrer an Wiener Gymnasien tätig.

Standbeine in West und Ost

Frühe Förderung in Wien erfuhren Amanns Werke zunächst vor allem durch den Verein zur Präsentation neuer österreichischer Musik „Music on Line“. Bald wirkten sich aber auch die „zwei Standbeine“ – Wien und Vorarlberg – günstig aus, scheinen bei so einer Konstellation doch oft beide Seiten jeweils nicht hinter dem anderen zurückstehen zu wollen. Konsequenz für den Komponisten: Aufführungen bei Wien modern, im Klangbogen und bei den Hörgängen ebenso wie etwa bei den Bludenzer Tagen Neuer Musik. 1998 präsentierte der ORF die Fantasie für Ensemble (1997) beim jährlichen International Rostrum of Composers in Paris. 2002 nahm Amann mit den Uraufführungen der Ingeborg Bachmann-Vertonung Schatten Rosen Schatten für Sopran und Klavier (2001) sowie Don‘t Try to Imitate Me für drei Flöten (2001) am Festival expan in Spittal/Drau teil. 1999 war er Composer-in-residence des Komponistenforums Mittersill, 2004–05 der Konservatorium Wien Privatuniversität.

In einer Zeit, in der nach der Dominanz experimentell-avantgardistischer Ästhetik ab den späten 1980er Jahren wieder die belebende Kraft des Pluralismus in der österreichischen Gegenwartsmusik entdeckt und „zugelassen“ wurde und junge Komponisten so schreiben konnten „wie sie wollten“, ging Amanns Weg von der Beschäftigung mit Hindemith aus, eher er sich bald mit Dodekaphonie, Serialismus, Klangfarbenkomposition sowie neuen Notationsformen (Raumnotation) auseinandersetzte. Viele der Klassiker des 20. Jahrhunderts lieferten ihm prägende Impulse: Webern, Bartók, Strawinsky, Messiaen, Ligeti, Boulez, Stockhausen, Lutosławski, Reich u. a.; nicht zu übersehen sein eigener Kompositionslehrer Erich Urbanner, der entscheidend zur Erweiterung seines formalen und klangorientierten Denkens beitrug.

Inspiriert von Literatur und Visuellem

Visuelles und Literarisches sind die primären Anregungsquellen für Amanns musikalische Ideen. Beides findet sich exemplarisch etwa in dem frühen Klavierquintett Penelope (1992), in dem ein Abschnitt eine Analogie zu den optischen Täuschungen der Graphiken von Maurits Cornelis Escher („Treppauf und Treppab“) bildet. Gleichzeitig bezieht sich das Stück auf das Schlusskapitel aus James Joyces „Ulysses“, in dem der Übergang vom Wach- in den Schlafzustand beschrieben wird. Dass seine derartigen musikalischen „Verbeugungen“ vor den großen Kollegen aus der Literatur nicht immer auf Gegenliebe stoßen, bekam er erst jüngst zu spüren, als ein durch Hans Leberts Roman „Die Wolfshaut“ inspiriertes Klavierstück aufgrund heftigen Widerstands seitens der Rechtsnachfolgerin des Autors nicht unter dem gleichnamigen Titel in Druck gehen durfte. Das Stück heißt nun Nachklänge (2003), was schade ist – für das Andenken Leberts, der mit einer ansprechenden musikalischen Entsprechung vielleicht ein kleines bisschen der Vergessenheit entrissen worden wäre. Einmal mehr denkt man da an einen österreichischen Wesenszug: Warum soll man sich selbst Gutes tun, wenn man stattdessen anderen das Leben schwerer machen kann.

Chaos im Streichquartett und im Konzertsaal

Auffällig: Auch dann wenn es nicht die Literatur oder die Bildende Kunst sind, geht es immer wieder um außermusikalische Elemente, die Stücken zugrunde gelegt werden – etwa Begriffe der Chaosforschung im 2. Streichquartett (1997), herbstliche Laubverfärbungen im Klavierstück Indian Summer (1999) oder Asteroiden und andere Himmelskörper abseits der bekannten Planeten im Klaviertrio Quaoar (2003) und in Sedna für Posaune und Klavier (2005). Und manchmal, ganz selten aber doch, ist es sogar eine musikalische Thematik, die zu neuer Musik führt, etwa im Scherzo (- sur le nom de Haydn -) zum Haydn-Jahr 2009.

Für einen Komponisten heute alles andere als eine Selbstverständlichkeit: der Auftrag für ein großes Orchesterwerk. 2010 entstand das zehnminütige Broken Lines als Auftrag des Symphonieorchesters Vorarlberg und brachte für Amann die Bestätigung, in seiner ursprünglichen Heimat anerkannt zu sein – zumindest von fachlicher Seite. Dass der Mitschnitt des Bregenzer Konzerts letztlich unbrauchbar war, da einzelne Zuhörer die Aufführung durch Lachen, Zischen und lautes Reden störten, befremdet selbst den im zeitgenössischen Musikbusiness schon einigermaßen Erfahrenen. Michael Amann in einem Kommentar auf der eigenen Website: „Ich habe das nicht für möglich gehalten, aber offensichtlich hatte ein Teil des Publikums solche Musik noch nie gehört. Ich war natürlich sehr irritiert und kann bis heute jenen Teil des Publikums, der so reagierte, nicht verstehen. Es ist für mich schlichtweg kein reifes Verhalten, wenn man etwas (zer)stört, nur weil es einem nicht passt, weil es nicht verstanden wird oder weil es nicht ankommt. Es wäre für diese Leute dringend zu empfehlen, diesen offensichtlichen Informationsrückstand über die Konzertmusik des vergangenen halben Jahrhunderts zu überbrücken oder, wenn das nicht möglich ist, die Unverfrorenheit des Störens abzustellen. Sollten sie sich für das Erstere entscheiden, wären der musikalische Gewinn und die damit einhergehende Horizonterweiterung beträchtlich. Aber ich befürchte, die Biedermeierlichkeit, die Angst vor dem Neuen und die Angewohnheit, Unwissen und Unvermögen in kindische Störaktionen umzuwandeln, werden bei zu vielen Oberhand behalten.“

Verschlüsselte Botschaften in Assisi

Möge das Publikum von Assisi etwas verständnisvoller oder zumindest duldsamer mit dem nunmehr zur Uraufführung gelangenden Amann-Opus Kassiber umgehen. Es entstand 2011 auf Anregung des Klarinettisten Stefan Neubauer, der es jetzt auch aus der Taufe hebt. Der Komponist stellt der Partitur die Duden-Definition des Wortes voran: „Kassiber [hebr.-jidd.] der ; -s, -; (Gaunerspr.) heimliches Schreiben od. unerlaubte schriftliche Mitteilung eines Häftlings an einen anderen od. an Außenstehende.“, und dementsprechend liegt hier die Idee eines geheim zu haltenden, verschlüsselten und eilig geschriebenen Briefes zugrunde. Möge seine Botschaft auch bald in heimische Gefilde dringen.

Wenngleich Amann sich von der Oper oder einem großen vokalsymphonischen Werk bislang fern gehalten hat, ist ihm die Stimme keineswegs fremd. Mit einer weiteren Uraufführung wird sie sogar sehr aktuell in den Vordergrund treten: Als sein bisher umfangreichstes Stück – vorgesehen ist eine Spieldauer von rund 40 Minuten – wird am 29. Oktober 2013 das Paul Hofhaymer Ensemble unter der Leitung von Herbert Grassl in Salzburg das Madrigalbuch für sieben Gesangsstimmen (2011/12) gestalten. Dass dabei nicht Texte aus dem 16. oder 17. Jahrhundert, sondern Rose Ausländer, Paul Verlaine, Edward Estlin Cummings und Octavio Paz vertont wurden, lässt auf ein auch musikalisch der Renaissance nur bedingt nahe stehendes Werk schließen, und tatsächlich zeigt der Blick in die Partitur eine faszinierende Vermengung der Stilmittel, die nahezu die gesamte Breite der Gesangstechniken der letzten vier Jahrhunderte aufgreift und der lyrischen Kantilene ebenso Platz gibt wie dem Geräusch- und Effekthaften.

Ob es dem Amanns Persönlichkeit als Lehrer entspricht, dass seine „Hausaufgaben“ nicht erst auf den letzten Drücker fertig werden, sondern stets mehr als zeitgerecht vor dem ersten Erklingen abgeschlossen sind? Schon in den ersten beiden Monaten dieses Jahres entstand das Sonett 116 für Flöte, Violoncello und Klavier, das seine Uraufführung im Frühjahr 2014 mit dem George Crumb Trio haben soll. In der Abschlussphase befinden sich Luftgeister für zwei Flöten und Harfe, deren Premiere ebenfalls für das nächste Jahr angekündigt ist. – Nicht stören, sondern zuhören!

Christian Heindl

Foto Michael Amann: Rudolf Rösch. Mit freundlicher Genehmigung von Doblinger Musikverlag

http://www.michael-amann.at