Porträt: Johannes Kretz

Johannes Kretz gehört zu jenen KomponistInnen, deren Arbeit nicht denkbar wäre ohne die eingehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur des Klanges und den Möglichkeiten seiner computergesteuerten Analyse und Synthese. Nach einem Kompositionsstudium an der Wiener Universität (damals noch „Hochschule“) für Musik und darstellende Kunst bei Francis Burt und Michael Jarrell fand sich der junge Komponist folgerichtig am Lehrgang für elektroakustische und experimentelle Musik (elak) wieder, einem Versuchslabor für den kreativen Umgang mit Klängen abseits herkömmlicher akademischer Ausbildungswege. Als nächste Station folgte das Pariser IRCAM, wo die Entwicklung neuer Klänge untrennbar mit der Erforschung von deren akustischen Grundlagen verbunden ist.

In dem Text „Composing Sound“ beschreibt Kretz, was die Computermusik für viele KomponistInnen so reizvoll macht: Die computergestützte Klangerzeugung ermöglicht Musikschaffenden erstmals die vollständige Kontrolle über das Resultat des Kompositionsprozesses, ohne auf die Interpretationsleistung ausübender MusikerInnen – mit allen damit einhergehenden Verständnisschwierigkeiten – angewiesen zu sein. Dass sich durch die Einbeziehung des Computers die Grenzen zwischen der Person des Komponisten und jener des Interpreten zunehmend verwischen, spiegelt sich auch in der Gründung des NewTonEnsembles wieder. Dieses besteht neben Johannes Kretz aus einem Pianisten und zwei weiteren Komponisten, in deren Schaffen die Verwendung elektronischer Hilfsmittel eine zentrale Rolle spielt. In Kretz’ Komponieren fließt die Arbeit mit dem Computer gleich auf mehreren Ebenen ein: Zunächst kommen Algorithmen bei der Analyse von Klängen zu Einsatz, bevor die daraus gewonnenen Erkenntnisse wiederum in die computergesteuerte Klangsynthese, d. h. die Verwandlung und Deformation konkreter Klänge einfließen. Der Computer kommt aber auch als Hilfsmittel beim Kompositionsvorgang selbst zum Einsatz, indem etwa eine Software unter hunderten mikrotonalen Akkorden diejenigen mit bestimmten, vom Komponisten erwünschten Eigenschaften herausfiltert.

Dass sich Kretz so intensiv mit der Erzeugung synthetischer Klänge beschäftigt hat, hängt eng mit dem Umstand zusammen, dass der Aspekt der Klangfarbe und dessen Verbindung mit dem Parameter der Harmonie im Zentrum seines kompositorischen Interesses steht. Wie für Gérard Grisey oder Tristan Murail in den 1970-Jahren steht auch für Kretz am Anfang des Kompositionsprozesses häufig die Fourier-Analyse von Obertonspektren. So ist es kein Zufall, dass sich der Spektralist Murail unter den Lehrern des Österreichers wiederfindet. Die Kenntnisse, die sich Kretz während seiner Lehrjahre in Wien und Paris angeeignet hat, gibt er bereits seit vielen Jahren als Lehrbeauftragter der Grazer und der Wiener Musikuniversität – sowie im Rahmen zahlreicher internationaler Vorträge und Workshops – an die nächste Generation von Studierenden weiter. Doch will es der Komponist nicht bei der Vermittlung von bestehendem Wissen bewenden lassen – dieses soll vielmehr beständig ergänzt und erweitert werden. Zu diesem Zweck hat Kretz 2008 das Zentrum für innovative Musiktechnologie (Zimt) ins Leben gerufen, eine Forschungseinrichtung, die sich im Rahmen des Instituts für Komposition und Elektroakustik der Wiener Musikuniversität mit der Entwicklung technologischer Hilfsmittel zur Musikproduktion beschäftigt. Dazu zählen etwa Algorithmen zur Unterstützung beim Kompositionsvorgang ebenso wie Tools für TonmeisterInnen oder Analysewerkzeuge, die im Bereich der Musikwissenschaft zur Anwendung gelangen. Neben der Beförderung innovativer Technologie soll damit auch der Forschungsauftrag einer Universität erfüllt werden, die aufgrund ihrer Vergangenheit als Konservatorium nach wie vor stark auf den Bereich der Lehre konzentriert ist. 2010 hat Kretz als außerordentlicher Universitätsprofessor zudem die Leitung des Lehrgangs für Computermusik und elektronische Medien (früher: Lehrgang für elektroakustische und experimentelle Musik) übernommen.

Dabei ist für den Komponisten das Experimentieren mit innovativen Möglichkeiten der Klangerzeugung keineswegs Selbstzweck. Ebenso wichtig wie die Eroberung neuer Klangwelten sind für ihn Fragen der Rezeption. Weit davon entfernt, über die Köpfe des Publikums hinweg an esoterischen Klangfinessen zu zaubern, denkt Kretz die psychoakustischen Grundlagen des Musikhörens stets mit. Das Wissen darum, wie komplexe Phänomene wie jenes der Klangfarbe auf die Hörenden wirken, betrachtet er als notwendige Voraussetzung seiner Arbeit. Überhaupt zieht sich die Frage der Verständlichkeit wie ein roter Faden durch sein Denken – denn anders als manche seiner KollegInnen nimmt Kretz nicht einfach als gegeben hin, dass Neue Musik nur von einem kleinen, hoch spezialisierten Publikumssegment rezipiert wird. Bereits in dem Text „Komponieren heute“ von 1997 identifiziert der Komponist die alle Lebensbereiche umfassende Spezialisierung als eines der Grundprobleme unserer Zeit und formuliert als Ziel die Erschaffung einer Musiksprache, die in der Lage ist, einen größeren Kreis von RezipientInnen unmittelbar anzusprechen. Das bedeutet für den Komponisten aber keinen Verzicht auf Komplexität – schließlich sei es auch der historischen tonalen Musik gelungen, Komplexität und Fasslichkeit, Verstand und Gefühl miteinander zu verbinden. Kretz ist also weder radikaler Neuerer noch selbstvergessener Experimentator, aber dennoch davon überzeugt, dass die klanglichen Möglichkeiten bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind.

Ein weiteres Charakteristikum seines Zugangs zum Komponieren ist eine Beschäftigung mit außereuropäischen Musikkulturen, die weit über das unverbindliche (und dabei unvermeidlich eurozentristische) Sich-inspirieren-Lassen vieler westlicher KomponistInnen des 20. Jahrhunderts hinausgeht. So fertigte Kretz beispielsweise Tonaufnahmen der Gesänge taiwanesischer Völker an, um mittels computergestützter Verfahren die darin vorgefundenen, äußerst vielfältigen Parameter vokaler Artikulation zu isolieren und in eine neue Komposition einfließen zu lassen. In der daraus entstandenen Arbeit „ponso no tao“, 2005 unter dem Titel „Kopfjägergesänge“ uraufgeführt, nimmt der Klang eines Klaviers durch elektronische Manipulation Charakteristika der taiwanesischen Vokalmusik an, wodurch europäische und asiatische Klangwelten eine neuartige Verbindung eingehen.

Das Bedürfnis nach gedanklichem Austausch von Musikschaffenden unterschiedlicher Herkunft führte 2004 auch zur Gründung der internationalen Kulturplattform iKultur. Diese Vereinigung von KomponistInnen und ausübenden MusikerInnen diverser Kontinente verfolgt das Ziel, ausgehend von ethnomusikologischen und interdisziplinären Ansätzen Antworten auf ästhetische und soziale Fragen der Gegenwart zu finden. Einblicke in die Ergebnisse dieses Prozesses lassen sich etwa beim von Johannes Kretz gemeinsam mit der taiwanesischen Bratschistin Wei-Ya Lin kuratierten Festival aNOther festival im Palais Kabelwerk gewinnen, das im Oktober 2011 zum zweiten Mal stattfand. Die Veranstaltung, die einen interkulturellen und genreübergreifenden Ansatz verfolgt und dabei eben gerade nicht einfach „ein weiteres Festival“ sein will, präsentiert die Klangexperimente der Wiener Musikszene abseits des Mainstream in einem globalen Kontext.

Ebenso wichtig wie die Arbeit am Klang selbst ist für Kretz die Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen gegenwärtigen Denkens. Die Tendenz zur Spezialisierung, die zu einem Verlust ganzheitlichen Denkens geführt hat, kann – so Kretz – durch holistische Ansätze überwunden werden, denen auf dem Gebiet der Kunst interdisziplinäre Herangehensweisen entsprechen. Die gegenwärtige Entwicklung hin zu ökologischem Wirtschaften findet so ihr Gegenstück in einer Kunst, die auf Nachhaltigkeit und Vernetzung setzt – und dabei selbstverständlich von den Möglichkeiten Gebrauch macht, die der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik bietet. Um damit die zunehmend komplexe Wirklichkeit einer globalisierten Welt für die Menschen erfahrbar zu machen. (Lena Dražić)