Porträt: Heinrich Gattermeyer

Ohne einen Hauch von Nervosität, vielmehr von seinem exponierten Eckplatz in der ersten rechten Parterreloge mit kritischem Blick Partitur oder Text verfolgend, gibt er mittels Körpersprache deutlich zu verstehen, wer hier im Saal entschieden über die größte Erfahrung und Souveränität in der Handhabung von Klangmassen verfügt. Momentaufnahme bei der Uraufführung des Oratoriums „Das jüngste Gericht“ am 1. Mai 2013 im Wiener Musikverein. Derjenige, der da so über den Dingen stand, die der Wiener Leherer-a cappella-Chor, das Savaria Symphonieorchester und Bariton Günter Haumer unter der Leitung von Günter Knotzinger vor dem restlos ausverkauften großen Saal ausbreiteten, hatte auch leicht ruhig sein: Neun Jahrzehnte begleitet Heinrich Gattermeyer nun schon das Geschehen auf diesem Erdball, hat dabei viele Tiefen und Höhen erlebt. Es beinhaltet eine gewisse Befriedigung, dass er auch in dieser späten Lebensphase die Früchte seiner Arbeit reichlich ernten kann. Und es ringt dem Betrachter ein gewisses Erstaunen ab, wenn der Jubilar in all seiner patriarchalischen Würde keine Spur von Müdigkeit erkennen lässt, vielmehr jeder in ihm spontan einen munteren „Siebziger“ vermuten würde.

Handschlag vor Ränkespielen

Er ist wahrlich ein Original, dieser Heinrich Gattermeyer. So fröhlich und eine wahre Stimmungskanone er in geselliger Runde sein kann, so zornig und streitbar wird er, wenn es ihm vom Anlass her geboten scheint. Aber – das ist selten und zeichnet ihn vor vielen anderen aus – nach einem Streit ist er der erste, der dem Vis-à-vis die Hand reicht und … lacht. Nicht nur, aber auch das lässt immer wieder an die bäuerliche Umgebung seiner Herkunft denken, wo ein solch bodenständiger Umgang miteinander ganz selbstverständlich ist und die Leute in der Sache wohl um einiges besser voranbringt, als manch Ränkespiele und Rankünen.

Dichtersohn zwischen Krieg und Akademie

Am 9. Juli 1923 wurde Heinrich Gattermeyer als Sohn des oberösterreichischen Mundartdichters, Theologen und Wirtes Karl Gattermeyer und von dessen Frau Katharina im oberösterreichischen Sierning bei Steyr geboren. Nach der Matura am Linzer Akademischen Gymnasium konnte er 1941 zwar noch ein Studium an der Reichshochschule für Musik in Wien beginnen, doch kam auch für ihn die Einberufung zum Kriegsdienst, den er teils als Funker in Königsberg sowie in Italien zu absolvieren hatte und über den er in vielen Gesprächen kaum etwas verlauten ließ. Erst 1945–50 war ihm somit die reguläre Ausbildung an der Wiener Musikakademie möglich. Neben den dortigen Fächern (Klavier bei Bruno Seidlhofer, Dirigieren bei Ferdinand Grossmann, Komposition bei Alfred Uhl) studierte er auch Germanistik an der Universität Wien. 1946–69 unterrichtete er Musik und Deutsch an verschiedenen Wiener Gymnasien, parallel dazu galt seine große Leidenschaft der Chorleitung. 1964 wurde Gattermeyer als Lehrbeauftragter für Tonsatz, Instrumentenkunde und Dirigieren an die Wiener Musikakademie berufen, 1977–1991 war er ordentlicher Professor für Tonsatz und Komposition an der nunmehrigen Hochschule für Musik und darstellende Kunst, zeitweilig auch Leiter der damaligen Abteilung I (Komposition, Musiktheorie und Dirigentenausbildung).

Funktionär mit Engagement und Ellbogen

Wer Gattermeyer kennt, wird ihn für den geborenen „Funktionär“ halten, dem es auch keineswegs an den dafür hilfreichen Ellbogen mangelt. Tatsächlich wirkte er immer wieder führend in verschiedenen Gremien und Verbänden, so etwa 1973–84 als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für zeitgenössische Musik (ÖGZM), 1984–90 als Präsident der AKM und 1992–2001 als Präsident des Österreichischen Komponistenbundes (ÖKB), wobei er sich überall mit überdurchschnittlichem Engagement für die Interessen der zeitgenössischen Musik einsetzte und – wohl ebenfalls aus der Kraft seines Naturells heraus – auch nie müde wurde, den Kampf gegen die Windmühlen der Ignoranz zu führen; nicht immer, aber oft erfolgreich, denkt man an die Etablierung des „Hauses der Komponisten“, das in vereintem Auftreten der Verbände als gemeinsame Heimstatt von IGNM, INÖK, ÖGZM und ÖKB in Räumlichkeiten der AKM in der Wiener Ungargasse angesiedelt werden konnte.

Von Katholiken und Kommunisten geehrt

Viele der Auszeichnungen, die Gattermeyer erhielt, bezogen sich auch auf sein brückenschlagendes Wirken, noch mehr auf seine eigene künstlerische Arbeit. Genannt seien aus der kaum zu überblickenden Liste das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (1964), das Komturkreuz des Ritters zum Heiligen Silvester des Vatikan (1972), die Smetana-Medaille der ČSSR (1975), der Kulturpreis des Landes Oberösterreich für Musik (1980), der Preis der Stadt Wien und das Große Ehrenzeichen der Republik Österreich (1982), das Ehrenzeichen Bulgariens (1981), der Große Tiroler Adler-Orden (1983), die Ehrenmedaille der Stadt Wien in Gold (1988), das Große Silberne Ehrenzeichen der Republik Österreich (1992), der Würdigungspreis des Landes Niederösterreich (1993) sowie der oberösterreichische Heinrich-Gleißner-Preis (2006).

Zuvorderst seinem Publikum verbunden

In seiner Musik beschritt Heinrich Gattermeyer keine revolutionären Wege. Die Grenzen der Tonalität schienen ihm fast immer ausreichend seinen musikalischen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen. Von seinem Publikum unmittelbar verstanden zu werden, hatte für ihn stets das Primat vor dem Ausprobieren neuester Trends und Techniken. Selbst die Zwölftontechnik blieb für ihn ein auf wenige – über Jahrzehnte verstreute – Werke beschränkter Ansatz, sich spielerisch mit einer Konstruktionsweise auseinanderzusetzen, wie etwa in dem Klavierzyklus „Ludus multiplex“ (1961) und im orchestralen „Bruckner-Epitaph“ (1996), in dem er die Reihentöne in Brucknerschen Harmonien aussetzt. Ein unübersehbarer Schwerpunkt seinem Schaffen ist die Chormusik, die aus der praktischen Arbeit als Chorleiter entstand: unzählige weltliche und geistliche Chorsätze, a cappella und mit instrumentaler Begleitung, Messen und Oratorien, deren letztes – „Das jüngste Gericht“ – nun am 1. Mai uraufgeführt wurde, und deren gewichtigstes – „Der Turmbau zu Babel“ (1960) – am 15. November in Osnabrück nach langer Zeit erstmals wieder erklingen soll. Zentral im Werkverzeichnis auch die Arbeit für Film und Fernsehen: Über 40 meist Märchen-Vertonungen entstanden zwischen 1957 und 1972 und zeigen ein durch die medialen Veränderungen zeitlich abgegrenztes, für einen Komponisten aufgrund der Vielfalt an Möglichkeiten wunderbares Spielfeld.

Das Opus magnum: „Kirbisch“

Orchesterwerke, die bleiben könnten? – die „Symphonischen Antithesen“ für Streichorchester (1975), die „Symphonischen Tanzstücke“ (1980) und die „Kirbisch“-Suite (1988) sollten sich eines Blicks in die Partitur würdig erweisen. Überhaupt „Kirbisch“: Als einzige abendfüllende Oper des Komponisten vielleicht sein Opus magnum. Die Uraufführung am 14. Mai 1987 am Linzer Landestheater wurde – goldene Zeiten! – noch zur Hauptsendezeit im Fernsehprogramm des ORF übertragen und wirkte in der gelungenen Umsetzung des epischen Gedichts von Anton Wildgans so authentisch, dass man fast versucht wäre, von der „oberösterreichischen Oper“ schlechthin zu sprechen (ungeachtet der Tatsache, dass das Werk nicht auf eine spezifische Region bezogen ist). So wie die angedachte Produktion an der Wiener Volksoper scheiterte, ist realistischerweise nicht wirklich mit einer Neuinszenierung zu rechnen. Dankbar wäre das Stück für ein Haus mittlerer Größe mit einem geeigneten Sänger-Schauspieler-Team allemal.

Was also bleibt? – Der Chronist ist kein Prophet, und doch haben sich über Jahre gerade die kleinen Besetzungen, die in vielfältigen instrumentalen Kombinationen vorliegende Kammermusik und einige der Solostücke aufgrund ihrer inspirierten Einfälle und ihrer dem Interpreten auf den Leib geschriebenen Setzweise behaupten können. Es soll nichts Schlechteres passieren, als dass man die populären „Besenbinder“-Variationen für Violine solo hört – und im Anschluss die Frage stellt, was denn dieser Komponist „sonst noch“ geschrieben habe …

Oft hat Heinrich Gattermeyer sich schon selbst für „demnächst tot“ erklärt – insbesondere als probates Druckmittel gegenüber hinsichtlich der Fixierung eines Aufführungstermins zögernden Veranstaltern. Ich selbst sah ich mich 2009 sehr dezidiert mit seinem „letzten Lebensjahr“ konfrontiert – um im nächsten Gespräch vom aktuellsten Auftrag samt Uraufführung im Musikverein im Jahr 2013 zu hören. Hätte ich Zweifel gehabt, sie hätten eher meiner eigenen Gesundheit gegolten, als der Tatsache, dass Gattermeyer sich die Möglichkeit, sich derart großzügig selbst zu seinem 90er zu beschenken, nicht entgehen lässt. Was zu beweisen war.

Standardwerk aus der Heimat

Viel mehr über den Komponisten und Menschen lässt sich in der zeitgerecht zum runden Geburtstag von Georgina Szeless vorgelegten Monographie Heinrich Gattermeyer (Trauner Verlag) nachlesen. In sehr persönlicher Form, vielfach anhand persönlicher Gespräche und mit zahlreichen Stellungnahmen von Weggefährten wird der Lebensweg nachgezeichnet. Auch die frühen Kapitel, etwa die in bisherigen Darstellungen im Detail ausgeklammerten Kriegsjahre werden ausführlich dargestellt. Es ist ein Lesebuch, das viele Querverbindungen zum österreichischen Musikleben der letzten Jahrzehnte aufweist. Die reichhaltigen Illustrationen sichern die Lebendigkeit, das enthaltene Werkverzeichnis ist in seinem Umfang eine Großtat.

Christian Heindl

http://www.trauner.at/buchdetail.aspx?artnr=24198631