Porträt: Gerhard E. Winkler

Das Wachstum einer Pflanze lässt sich nicht im Detail vorherbestimmen. Mancher Baum treibt unerwartete Blüten, Stämme gabeln und verzweigen sich, um an späterer Stelle abermals miteinander zu verwachsen. GERHARD E. WINKLER schrieb sein Ensemblewerk „L’eco delle furie“ für das Festival Arcana 2011, das allerdings nie stattfand.

In Anbetracht dieses „abgestorbenen Astes“ widmete der Komponist das Werk Hans Magnus Enzensberger und dessen Buch „Die Furie des Verschwindens“. Dass sich in dem Band auch das Gedicht „Die Frösche von Bikini“ befindet, erfuhr der Komponist erst nach Fertigstellung seines Improvisationsstücks „Bikini . Atoll“ (2009), das auf die amerikanischen Atomwaffentests im Pazifik nach dem zweiten Weltkrieg Bezug nimmt. Beide Werke sind Teil des weitverzweigten Kompositionsprojekts „Les arbres”, das bereits 1989 mit „zitternd (ein Nucleus)“ für Violine solo seinen Ausgang nahm.

Die Metapher des Baumes charakterisiert nicht nur die äußere Gestalt dieses Werkzyklus mit seiner allmählichen Entfaltung eines ursprünglichen Materialkerns, sondern lässt sich auf Winklers Arbeitsweise im Großen wie auch im Kleinen anwenden. Die Kompositionen des gebürtigen Salzburgers entwickeln sich oft quasi organisch aus einer einzelnen Keimzelle, deren Implikationen im Zuge der Arbeit konsequent weiterentwickelt werden. Dass dieser grundlegende „Ideenkern“ gewisse Parallelen zu Schönbergs „Grundgestalt“ aufweist, wundert wenig angesichts von Wimmers Bekenntnis, der Vater der Wiener Schule sei seine „Einstiegsdroge ins Komponieren“ gewesen. Wo Letzterer mittels Reihentechnik strikte Systeme aufstellte, um dann im entscheidenden Moment doch wieder von den prädeterminierten Ergebnissen abzuweichen, benutzt Wimmer modernste Computertechnologie zur Simulation dynamischer Prozesse, die nach festgelegten Regeln ablaufen und doch immer wieder unvorhersehbare Ergebnisse zeitigen.

Das Interesse an chaotischen Entwicklungen

Dieser Vorliebe für das Autopoietische, sich in seiner mitunter katastrophischen Eigendynamik der Kontrolle des Komponisten teilweise entziehende, entspricht Winklers besondere Aufmerksamkeit für die zunehmende Gefährdung natürlicher Systeme durch die Einwirkung des Menschen, die sich auch in zahlreichen Werken thematisch niederschlägt: So geht es in „L’eco delle furie“ (Les arbres VIIc, 2011) auch um die Vergewaltigung der Natur, gegen die nach Enzensberger der Zorn der Furien gerichtet ist, während in dem früheren Werk „Plankton / Ondine“ (Les arbres VIIa, 2009) die Stimme des Wassergeists den sorgsamen Umgang mit lebensnotwendigen Ressourcen einmahnt.

Das Interesse an chaotischen Entwicklungen, die nicht im Einzelnen vorherzusehen sind, führte Gerhard E. Winkler bereits Mitte der Neunziger Jahre zu Realtime-Score-Kompositionen, bei denen die Partitur erst während der Aufführung vom Computer errechnet wird, wobei die Reaktionen der InterpretInnen wiederum in das Werk mit einfließen. Die erste Arbeit, das auf diese Weise entstand, ist „Le chambres séparées“ für Klavier, Schlagzeug, Realtime-Scores, Licht-Farb-Steuerung und interaktive Live-Elektronik (1994/95). Diese Vorgehensweise ist geprägt von der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine, die eine Vielzahl an verschiedenen, aber dennoch gleichwertigen Versionen eines Werkes ermöglicht, deren konkrete Form vom Input der MusikerInnen im Zuge der Aufführung abhängt.

Im Kontext der Arbeit mit Realtime-Scores ist auch das 1991 begonnene „Hybrid“-Projekt angesiedelt, wo die Musikerin mittels optischer oder akustischer Signale mit dem Computer interagiert und somit an der jeweiligen Werkgestalt beträchtlichen Anteil hat. Wenn diese Form der Indetermination nicht ohne Auswirkungen auf den Werkbegriff bleibt, bedeutet das allerdings nicht, dass dieser zur Gänze aufgegeben würde: Schließlich besitzen die vom Computer generierten Partituren wiederum verbindliche Gültigkeit. Noch einen Schritt weiter, was die Freiheit des Interpreten bzw. das Ausmaß betrifft, in dem sich dieser in die Werkgestalt einbringen kann, geht der Komponist in „Bikini . Atoll“. Das für Frank Gratkowski und sein Trio entstandene Stück kombiniert Improvisation und Live-Elektronik in einer Weise, dass die live erklingende Musik elektronisch verändert – beispielsweise gedehnt – erklingt und die Musiker wiederum mit dieser verfremdete Version ihres eigenen Spiels in Interaktion treten müssen. Das spontane Wechselspiel der MusikerInnen (sowohl miteinander als auch mit dem Computer) wie auch das Komponieren mittels computerbasierter Simulation komplexer Systeme stehen auch im Mittelpunkt des Instituts CRIMSS (Center for Research in Interactive Music and System-Theory in Salzburg), das Gerhard E. Winkler 2009 ins Leben rief. Die Einrichtung widmet sich der Erforschung und Dokumentation von interaktionsbasierten künstlerischen Arbeiten sowie von computergestützten Simulationen dynamischer Systeme im künstlerischen Prozess.

Abseits dieser Fragen sind es immer wieder auch konkrete außermusikalische Begebenheiten, die Eingang in Winklers Komponieren finden. Neben der anhaltenden Beschäftigung mit der Zerstörung der Umwelt, die etwa auch in „Flechten – Filamente (Requiem boréal)“ (2002/03) ihren Niederschlag fand, entzündete sich Winklers kompositorische Auseinandersetzung an politischen Ereignissen wie der Belagerung von Sarajewo („Schutzräume“, 1994) oder den Terroranschläge vom 11. September 2001 („Twins’n’Towers“, 2001–03). In anderen Fällen, etwa in dem Orchesterwerk „Mozart-Zoom“ (2010), richtet sich der gleichsam mikroskopische Blick des Komponisten auf Details einer vorgefundenen Partitur (hier jener der „Haffner-Symphonie“), die ganz nahe herangeholt und als zellulärer Ausgangspunkt neuer komplexer Wachstumsprozesse verwendet wird. Einen Bezug zur Musikgeschichte besitzt auch „Black Mirrors I“, eine spartenübergreifende Zusammenarbeit mit der Videokünstlerin Claudia Rohrmoser und der Geigerin Annelie Gahl, die im März 2013 bei der Salzburg Biennale uraufgeführt wurde. Angeregt durch das Schicksal der blinden Pianistin und Komponistin Maria Theresia von Paradis (1759–1824), die in Folge der Behandlung durch den Wunderheiler Anton Mesmer für kurze Zeit sehen konnte, suchten die KünstlerInnen eine intermediale Entsprechung für die als traumatischen Wahrnehmungsschock erlebte Seherfahrung, die der Musikerin die Fähigkeit zum Auswendigspielen nahm. Und auch dieser Ast in Gerhard E. Winklers Schaffen treibt neue Blüten: Eine Weiterführung des Werkes, „Black Mirrors II“ für Klarinette und Live-Elektronik, wird am 23. Mai im Wiener Konzerhaus aus der Taufe gehoben.

Lena Dražić

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Gerhard E. Winkler